Im Wald besser beten?

„Wenn ich allein bin, kann ich besser beten als mit anderen, deshalb gehe ich nicht in die Kirche.“ – Bestimmt können viele Menschen dieser Feststellung einiges abgewinnen, wenn auch sie erleben, dass in der Einsamkeit die persönliche Begegnung mit Gott besser und intensiver gelingt als „in der Kirche“. Ungestört von der Welt, ungestört von anderen.

Wer wollte diese Erfahrung in Zweifel ziehen? Wo doch auch Jesus sich am Beginn seines öffentlichen Wirkens „in die Wüste“ (Mk 1,12 par) und später „auf den Berg“ oder „in eine einsame Gegend“  (Joh 6,15; Mk 6,32 par) zurückzieht und „anderswo“ (Mk 1,18) hingeht, um allein im Gebet vor Gott zu verweilen.

Dennoch können einige Rückfragen prüfen, ob die angedeutete Alternative „Wald“ oder „Kirche“ nicht von Anfang an schief ist. Ein Plädoyer für das gemeinsame Gebet der Gläubigen wäre dann kein Gegenargument, sondern eine – biblisch ebenso wohlbegründete – Ergänzung.

Jesus wollte das Gottesvolk sammeln. Wer „in die Kirche“ geht, betritt nicht ein Gebäude, sondern die von Christus ge- und versammelten Gemeinde, in deren Mitte er „da“ ist. Darin liegen Weisheit und Menschenfreundlichkeit: Nicht der vereinzelte Mensch ist vor Gottes Angesicht gerufen, sondern der Mit-Mensch, der Christus darin nachfolgt, dass er sich nicht entzieht, sondern wie dieser mit und für den/die andere/n da („pro-existent“) ist.

Gott in der Gemeinschaft der Gläubigen zu suchen, ist zudem ein Zeugnis dafür, dass der persönliche Glaube Gott-geschenkt und Menschen-verdankt ist: nämlich jenen Müttern und Vätern, Schwestern und Brüdern im Glauben, die ihn ihrerseits empfangen, bezeugt und vorgelebt haben und „als Kirche“ im Gottesdienst öffentlich bekennen, nähren und erneuern („wandeln“) lassen, „damit sie eins seien wie wir.“ (Joh 17,22)  „Kirche“ ist communio derer, die zum Herrn (kyrios) gehören: Von Gott in Dienst genommen, ihn zur Welt zu bringen, soll der Mensch diese – je eigene – Gabe und Aufgabe nicht gering achten.

Das Wort Gottes ist lebendig, kraftvoll und scharf: Wo, wenn nicht im Gottesdienst, wird das „zweischneidige Schwert“, das alles (unter)scheidet und offenlegt (vgl. Hebr 4,12), vor der Welt hörbar geehrt, um seine richtende und aufrichtende Kraft im Alltag des/der Einzelnen zu entfalten? Woher sonst erfahren Gottsuchende so viel und so ausdauernd vom Gott und Vater Jesu Christi wie in der Lese- und Auslegungs­gemein­schaft der Kirche, die den persönlichen Glauben wohl jeder/jedes von uns geformt hat, täglich inspiriert und korrigiert, wo er eigenbrötlerisch wird oder Schlagseite bekommt?

„Singen sie’s nicht, so glauben sie’s nicht“, wusste Martin Luther, und er hatte Recht: Das gemeinsame Beten, Singen und zeichenhaft-sakramentale Handeln hat ein einziges Ziel, das unermüdlich in Wort und Tat „erinnert“ wird: die Verähnlichung mit Christus, die Teilhabe und Verinnerlichung seiner Existenz, die nicht nur gedanklich und in der eigenen Vorstellung, sondern leibhaftig – „mit Herzen, Mund und Händen“ (GL 405) – erfahren wirksam werden will: „mir zum Heil und dir zum Ruhm“ (GL 435).

Gottesdienst ist mehr als Gebet; und liturgisches Beten folgt anderen Regeln als das intim-persönliche Zwiegespräch mit Gott. Nach altkirchlichem Vorbild hat das Zweite Vatikanische Konzil die Liturgie als Dialog zwischen Gott und seinem Volk reformuliert: Dabei gibt es zu hören und zu empfangen, zu antworten, zu bekennen und – gemeinschaftlich – zu beten. Darin vollziehen die kraft ihrer Taufe zu Christus Gehörenden ihr gemeinsames Priestertum vorrangig im Eintreten füreinander und für die Welt sowie in der Verherrlichung Gottes (vgl. Joh 15,8) vor der Welt.

Die Welt: Ort des geschichtlichen Heilshandelns Gottes, Ort der Erfahrbarkeit Gottes in Raum und Zeit; Ort des Fleisch-gewordenen Gottes; Ort wahrhaftiger Mensch-Werdung – um den Menschen zu erlösen und die ganze Schöpfung wiederherzustellen (vgl. Röm 8,19.22). Warum dann nicht lieber im Wald und auf dem Berg, in paradiesischer, vom Bösen unberührter Natur, beten? Die Kirche muss tagtäglich ihre Unvollkommenheit ertragen: Liest sie aus der Schrift, wird das göttliche Wort ihr zum Gericht, lädt sie Menschen zum Kommen ein, stößt sie an Grenzen, die sie selbst gezogen hat … So ist jeder Gottesdienst im Namen Jesu, des Menschgewordenen, ein Akt beidseitiger Treue, in dem Gott sich „in menschlichen Gebärden“ (vgl. GL 478), auch den armseligen, manifestieren will. Die Feiernden sind Symbol dieser Welt: wie sie vergebungsbedürftig und geheiligt, weil Gott seine Schöpfung nicht verworfen, sondern erlöst hat. Gottesdienst ist der ausdrücklichste und ausgesetzteste Ort dieser Wahrheit.

Und schließlich geht es nicht allein um mich: Israel und die Völker, die Kirche aus Juden und Heiden, das zuerst und bleibend erwählte Bundesvolk und der Neue Bund in Christus, ihr und die Vielen – allesamt biblische und liturgische Chiffren für die ganze Menschheits­familie. Christliche Gottesdienst­versammlung vergewissert sich ihrer Identität, indem sie sich entgrenzen lässt: Wem bin ich hier und jetzt Nächste/r? Nicht „nur zeichenhaft“ (= wirkungs- und bedeutungslos), vielmehr real-symbolisch (= konkret und wirksam) verwirklichen Feier und Fest heilsame Solidarität und Integration über Grenzen aller Art hinweg.

Dies bedenkend: Allein zu beten ist wohl Samenkorn und/oder Frucht des Gottesdienstes der Kirche – eine Alternative dazu gewiss nicht.

Erstveröffentlichung: geist.voll 3/2015, 22-23.

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