Der Grosse Wurf? Ein Traum zur Amazonassynode, zugleich ein Entwurf für das Nachsynodale Schreiben Spiritu Sancto ducti

Beitrag von em. Univ.-Prof. Dr. Walter Kirchschläger (Luzern)

Vorbemerkung als Lesehilfe

Einen notwendigen „Sprung nach vorwärts“ (un balzo innanzi) hatte Johannes XXIII. in seiner Ansprache zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962) angedacht. Verschiedentlich wurde dazu angesetzt, immer wieder wurde er „gehemmt“ (Helmut Krätzl, 1998). Es blieb bei kosmetischen Retuschierungen, die umfassende Kirchen-Re-form fand bislang nicht statt. Mag sein, dass die pastorale Not im Amazonasgebiet den Anstoss dazu gibt, über den eigenen theologischen Schatten zu springen und einen Paradigmenwechsel einzuleiten? – eine Hoffnung, ein Traum …

EINFÜHRUNG nn. 1.-6.
I. ABSCHNITT: Der Regenwald brennt – ein Hilferug nn. 7.-15.
II. ABSCHNITT: Eucharistische Not – Schritte zur not-wendenden Pastoral n.16.
1. Kirche unterwegs durch die Zeit 16.-18.
2. Die sakramentale Gegenwart der Kirche 19.-21.
3. Entfaltung der Sakramentalität der Kirche 22.-25.
4. Sieben Sakramente 26.-30.
5. Sakramente im Wandel der Zeit 31.-35.
6. Vollmacht der Kirche 36.-40.
7. Regionalisierte Neugestaltung kirchlicher Dienste (des „Amtes“) 41.-52.
ABSCHLIESSENDE REFLEXION 53.-55.

EINFÜHRUNG

1.Durch den Heiligen Geist geleitet, haben wir, Schwestern und Brüder aus „allen Kirchen des ganzen Erdkreises“[1], uns im Monat Oktober 2019 in Rom versammelt, um gemeinsam über die besondere Situation und die Herausforderungen zu beraten, denen die Kirchen im Gebiet des Amazonas ausgesetzt sind. Dies geschah unter aktiver Beteiligung der versammelten Schwestern und Brüder als entsandte Vertreterinnen und Vertreter der katholischen Kirche auf allen Kontinenten. Es ist dies ein bedeutsames Zeichen der weltweiten Solidarität mit den Kirchen im Bereich des Amazonas. Zugleich ist diese Zusammenkunft unter dem Vorsitz des Bischofs von Rom Ausdruck des Wunsches, dem Prinzip der Subsidiarität auch im kirchlichen Miteinander verstärkt zum Durchbruch und zur Anwendung zu verhelfen – wie bereits mein Vorgänger Pius XII. es gewünscht hatte.[2]

2. Die Menschen – und damit die Kirchen – im Amazonasgebiet sehen sich schwerwiegenden gesellschaftlich-ökologischen Infragestellungen ausgesetzt. Überdies verursachen die ausserordentliche geographische Weite und die besondere Beschaffenheit des Gebietes, die vor allem den personellen Resourcen für die pastorale Tätigkeit in den zahlreichen Kirchen am Ort diametral gegenüberstehen, erhebliche Herausforderungen auf allen Ebenen dieser Kirchen. Es ist bekannt, dass das Land um den Amazonas zu einem grossen Teil von indigenen Völkern besiedelt wird, die in den Gebieten des Regenwaldes in überschaubaren Siedlungen und Dörfern ihr Zuhause und ihre Lebensgrundlage haben. Diese durch unzählige Generationen geprägte Ordnung des Lebens ist vollumfänglich zu respektieren, und sie darf besonders durch kirchliche Institutionen nicht in Frage gestellt werden.

3. Die Mitglieder der Synode konnten vorweg auf der Grundlage des Vorbereitungsdokumentes und sodann des Instrumentum laboris die angesprochenen Themen studieren, sodass die Synode sich in ihrer mehrwöchigen Arbeit auf die Frage nach weiterführenden Handlungsimpulsen im Lichte der Botschaft Jesu Christi und des Vorbildes, das er in seinem Leben, in seinem Sterben und in seinem Auferstehen allen Menschen hinterlassen hat, konzentrieren konnte. Wir sind davon überzeugt, dass für unser kirchliches Tun der unbeirrbare Blick auf alle Phasen des Christusgeschehens notwendig und fruchtbar ist. Gerade im Schicksal der indigenen Völker spiegeln sich das (Todes-)Leid, aber auch die Hoffnung und die unbeirrbare Zuversicht, der wir im Gottvertrauen unseres Herrn Jesus Christus begegnen können.

4. Aus dem Gesagten ist nicht nur die Methode der Synode, sondern auch die Herausforderung für die nächste Zeit zu entnehmen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Kirche verpflichtet, sowohl „Freude und Hoffnung“ als auch „Trauer und Angst“ mit allen Menschen zu teilen und darin ihre Solidarität mit den Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort zu bezeugen (vgl. Gaudium et spes 1) – getreu dem Wort Jesu, dass wir „in den geringsten unserer Schwestern und Brüder“ Jesus Christus selbst begegnen (Mt 25,45) und ihm so nachfolgen können.

5. Zur wirksamen Umsetzung dieser Grundhaltung griff das Konzil das vom heiligen Johannes XXIII. angeregte methodische Instrument des Aggiornamento auf.[3] So ist sichergestellt, dass die Kirche einer Region, eines Sprach- oder Kulturkreises stets in der jeweiligen Welt von heute und in einem inkulturierten Rahmen agiert, innerhalb dessen die Lebensumstände der Menschen, die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten berücksichtigt und im Lichte des Evangeliums eine Antwort auf die Fragen der Menschen angesichts der Vorgaben der jeweiligen Epoche gegeben werden (Gaudium et spes 4). Im Mitdenken, Mitreden und Mitentscheiden der Vertreterinnen und Vertreter der Kirche auf der ganzen Welt, vor allem im gemeinsamen Beten über die angesprochenen Probleme und die darin erkannten „Zeichen der Zeit“,[4] sowie im Hören auf das, „was der Geist den Kirchen sagt“ (Offb 2,11 u. ö.), sind die synodalen Elemente erkennbar, durch welche die Handlungsstrategien der Kirche besonders nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bestimmt und geprägt werden.

6. Die in diesem Geist durchgeführten Beratungen der ausserordentlichen Versammlung der Bischofsynode zu Amazonien haben nach einem integralen Zugang zur ökologischen Situation dieses Gebietes gesucht. Zugleich wurden in diesem Zusammenhang die Hilferufe der Kirche der Amazonas-Region wahrgenommen, die angesichts der Grösse ihrer pastoralen Aufgabe und der kleinen Zahl der dafür zur Verfügung stehenden Priester auf sakramentaler Ebene zu verdursten droht. Aus diesem dramatischen Befund ergeben sich für die Kirche verschiedene Imperative des Handelns, die – in Entsprechung zu den in der Synode gesetzten Schwerpunkten – in diesem Nachsynodalen Schreiben in zwei Abschnitten behandelt werden.

I. ABSCHNITT: Der Regenwald brennt – ein Hilferuf

1.bis 15. [In Abstimmung mit Fachleuten sind die Überlegungen und Erkenntnisse der Synode zu diesem Thema zusammenzufassen und die angedachten Folgerungen darzustellen].

II. ABSCHNITT: Eucharistische Not – Schritte zur not-wendenden Pastoral

 1. Kirche unterwegs durch die Zeit

16. Die für die Pastoral in den Gebieten des Amazonas erkannten Probleme wurden im Instrumentum laboris der Synode ausführlich dargestellt.[5] Im Studium dieser Herausforderungen wurde in den Beratungen der Synode erkannt, dass zu deren Lösung ausserordentliche und neue Wege beschritten werden müssen.

17. Denn die Kirche schreitet auf ihrem Pilgerweg durch die Zeit (vgl. Lumen gentium 8,4) und ist gehalten, für die ihr zukommenden Aufgaben alle Möglichkeiten und Einsichten anzuwenden und zu nützen. Dafür muss sie sich den Erkenntnisfortschritt zu eigen machen, der, angeleitet vom Heiligen Geist, im Laufe der Zeit in ihrer Mitte entsteht und kontinuierlich und „in Geduld“ (vgl. Lk 8,15) wächst, bis er im Konsens der Kirche als Frucht des Geistes wahrgenommen und angenommen werden kann.

18. Zwar „muss die apostolische Predigt, die in den inspirierten Büchern besonders deutlichen Ausdruck gefunden hat, in ununterbrochener Folge bis zur Vollendung der Zeiten bewahrt werden“ (Dei verbum 8). Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass die Offenbarung Gottes wie ein anvertrautes Talent vergraben (vgl. Mt 25,24-27) und so in ihrer dynamischen Entfaltung behindert wird. Vielmehr muss die Kirche mit dem ihr anvertrauten Glaubensgut „Handel treiben“ (ebenda), damit die Menschen zu jeder Zeit in ihr gleichsam wie in einem Spiegel Gott anschauen und ihm begegnen können (vgl. Dei verbum 7,2). Erkenntnisse der Theologie und ein Glaubenssinn der Gläubigen, der sich zur Übereinstimmung hin entwickelt (Lumen gentium 12,1), sind ebenso wie deutlich erkennbare Zeichen der Zeit unverwechselbare Merkmale dieser Entwicklung, die im Kern bereits in der theologischen Rede von der „Dogmenentwicklung“ reflektiert ist.[6] Dem geschenkhaften Wirken des Geistes, mit dem alle Christinnen und Christen „getränkt“ sind (1 Kor 12,13), ist es geschuldet, diese „ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten“ auch zu äussern (Lumen gentium 12,1) und zur Grundlage kirchlichen Handelns zu machen.

2. Die sakramentale Gegenwart der Kirche

19. Eine solche Übereinstimmung, die sich im Laufe der Geschichte der Kirche entwickelt und kontinuierlich verdichtet hat, besteht in der vom Zweiten Vatikanischen Konzil erneut formulierten Sichtweise unserer Glaubensgemeinschaft: Denn Kirche ist „das ‚allumfassende Sakrament des Heils’“ (Lumen gentium 48,2). Die Väter des Konzils haben diese grundlegende Aussage in ihre pastorale Reflexion über die Kirche aufgenommen und weitergeführt: Es ist dieses allumfassende Sakrament des Heils, „welches das Geheimnis der Liebe Gottes gegenüber dem Menschen zugleich kundtut und verwirklicht“ (Gaudium et spes 45, vgl. dazu Joh 3,16).

20. Vor diesem hohen Anspruch darf die Kirche zu keiner Zeit zurückschrecken. Es ist vielmehr geboten, dass sie alle ihre Möglichkeiten aufbietet, um dieser ihrer Sendung gerecht zu werden. Zugleich darf die Kirche angesichts der erkennbaren hohen Herausforderung nicht mutlos werden – weiss sie sich doch durch die Zusage der bleibenden Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn Jesus Christus (vgl. Mt 28,20; Dei verbum 4) ebenso gehalten wie aufgrund des Geistes der Wahrheit, den der Vater gesandt hat und der uns „in der ganzen Wahrheit leitet“ (Joh 16,13).

21. Diese ihre Sendung und die damit verbundene Verantwortung für alle Menschen hat die in der Synode über Amazonien versammelte Kirche dazu veranlasst, die folgenden weiterführenden Überlegungen und Entscheidungen anzuregen, die ich mir in meiner Verantwortung als Bischof von Rom mit diesem Nachsynodalen Schreiben zu eigen mache. Ich folge damit dem an Simon Petrus erfolgten Auftrag unseres Erlösers, nach seiner eigenen Umkehr die Schwestern und Brüder im Glauben zu stärken (vgl. Lk 22,32). Dieser Dienst der Stärkung ist als Förderung und Ermöglichung kirchlichen Lebens zu verstehen – bis hinein in das Zentrum der kirchlichen Sakramentalität. Dabei muss uns allen bewusst sein: Ausserordentliche Gegebenheiten erfordern ausserordentliches Handeln, insbesondere dann, wenn es um Grundlegendes für das Leben der Kirche geht.

3. Entfaltung der Sakramentalität der Kirche

22. Unser Herr Jesus Christus hat seine Berufung und Sendung unter Einsatz von „Tat und Wort“ (Lk 24,19, vgl. Dei verbum 2) verwirklicht. Darin erwies er sich als der „geliebte Sohn“ des Vaters (Mk 1,11), der die Zuwendung Gottes zu den Menschen in neuer Weise wahrnehmbar machte und so gegenwärtig setzte. In Wort und Tat kam die Ermächtigung Jesu zum Ausdruck, sodass die Menschen die Dimension seines Auftretens erkennen konnten und darüber in Staunen gerieten, denn „er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat“ (Mk 1,22). Die Konkretisierung seines Wortes in der gelebten Zuwendung zu Menschen in Not verstärkte die Überzeugung der unmittelbar Betroffenen ebenso wie jene der Umstehenden, dass sein Wort ein „Wort in Vollmacht“ war (Lk 4,36), von dem Ähnliches zu bekennen war wie vom Wort der Gottesrede der Jüdischen Bibel, das – einmal gesprochen „nicht leer“ zum Herrn zurückkehrte, „ohne zu bewirken“ was der Herr wollte, und ohne „das zu erreichen“, wozu er es gesprochen hatte (Jes 55,11).

23. So erhielt das Wort und das Handeln Jesu von Nazaret von Anfang an eine tiefere Ausdruckskraft. In seiner Zuwendung zu einzelnen Menschen wurde die Verkündigung Jesu über die anbrechende Königsherrschaft Gottes verdeutlicht. Diese besondere Intensität und Dichte seines Wortes und seines Handelns, die über den Augenblick hinaus Bedeutung behielt, wurde von den Menschen seiner Zeit wahrgenommen und motivierte sie zu der staunenden Rückfrage: „Wer ist denn dieser?“ (Mk 4,41) sowie zur Auseinandersetzung mit dem Auftreten, mit der Botschaft und mit der Person unseres Herrn Jesus Christus.

24. Der auferstandene und erhöhte Herr übertrug in der österlichen Sendung und Beauftragung seine Vollmacht auf die Menschen in seiner Nachfolgegemeinschaft (vgl. Mt,28,16-20; Mk 16,15-18) und ermächtigte sie so dazu, in seinem Namen Zeichen zu setzen, die Gottes Zuwendung in seiner Königsherrschaft erkennbar werden liessen (vgl. Mk 16,20). Dieses zeichenhafte Handeln, in dem die heilende Zuwendung Gottes in für die Menschen erfassbaren Riten, Worten und Gesten angezeigt wurde, prägt das Leben und Wirken der Kirche also von Anfang an. Insbesondere die Emmauserzählung (vgl. Lk 24,13-35) zeigt: „Christus ist der erste Exeget.“[7] An Ostern erschloss er den Jüngerinnen und Jüngern „den Verstand, um einzudringen in die Schrift“ (Lk 24,45). Schon zur neutestamentlichen Zeit wurde also das gesamte Christusgeschehen von biblischen Verfasserinnen oder Verfassern reflektiert und aufgrund der Anleitung durch den auferstandenen Herrn und seinen Geist für die frühen Kirchen am Ort in seiner tieferen Dimension ausgelotet und erklärt.

25. Insbesondere gilt dies für die Praxis des Herrenmahls, das sehr bald nach Tod und Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus zu seinem Gedächtnis und gemäss seinem Auftrag regelmässig in den Hauskirchen und den Kirchen am Ort gefeiert wurde und dessen Deutung besonders den Apostel Paulus und sodann die vier Evangelisten beschäftigte. Gleiches ist von der Feier der Taufe zu sagen, die schon von Paulus als Ausdruck der neuen existentiellen Zuwendung zu Jesus Christus und der von ihm geschenkten persönlichen Beziehung sowie in der Folge als Eingliederung in die Gemeinschaft der an unseren Herrn Jesus Christus Glaubenden verstanden wurde. Für den Apostel Paulus, die Paulusschule und jene Personen, welche die Apostelgeschichte und das Johannesevangelium verfasst haben, war die inhaltliche Erschliessung und Vertiefung des Taufgeschehens ein vorrangiges Anliegen.

4. Sieben Sakramente

26. „Die Kirche hat „im Laufe der Jahrhunderte erkannt, dass es unter ihren liturgischen Feiern sieben gibt, die im eigentlichen Sinn vom Herrn eingesetzte Sakramente sind.“ Mit diesem Satz wird im Katechismus der Katholischen Kirche (1117) der entsprechende Befund zutreffend zusammengefasst. Denn die kirchliche Praxis ebenso wie die theologische Reflexion und die pastorale Erfahrung führten erst nach und nach zu der entsprechenden Überzeugung, dass neben Taufe und Eucharistie auch anderen kirchlich gefeierten Riten ein besonderer zeichenhafter, also sakramentaler Charakter eigen ist, da sie und die unmittelbar davon betroffenen Menschen in aussergewöhnlicher Weise die Nähe und das Wirken Gottes anzeigen können. Da sich all diese Zeichen auf die Konkretisierung göttlichen Handelns im Christusgeschehen beziehen, kann in einem gewissen Sinn zu Recht gesagt werden, dass „die Sakramente des Neuen Bundes […] alle von unserem Herrn Jesus Christus eingesetzt“,[8] also von seinem Wirken und aufgrund seines Handelns hergeleitet sind.

27. Es scheint geboten, sich den Hintergrund dieser lehrhaften Aussage des Konzils von Trient zu vergegenwärtigen. Zwar ist es zutreffend, dass nicht erst dieses Konzil eine solche feierliche Aussage gemacht hat. Bereits auf dem Zweiten Konzil von Lyon wurden die sieben Sakramente als Inhalt des katholischen Glaubens festgehalten.[9] Das Konzil von Florenz nennt ebenfalls diese Zahl der Sakramente.[10] So kann also auf eine durch mehrere Jahrhunderte belegte diesbezügliche Glaubensüberzeugung verwiesen werden, die bis in das Zweite Vatikanische Konzil (bes. Lumen gentium 11) und in unsere Gegenwart andauert.

28. Zugleich ist die lange Epoche nicht zu übersehen, die zwischen dem Wirken unseres Herrn Jesus Christus und der neutestamentlichen Zeit einerseits und dem angesprochenem Zeugnis der Konzilien ab dem 13. Jahrhundert andererseits liegt und die in diesem Zusammenhang als eine Phase der wachsenden Einsicht und der theologischen Klärung bezeichnet werden muss. Dabei kann nicht entgehen, dass dieser Lauf der Jahrhunderte, in dem in der Kirche unter dem Beistand des Geistes die Erkenntnis in Bezug auf die Sakramente reifen konnte, eine Epoche umfasst, die mehr als die halbe bisherige Lebenszeit der Kirche ausmacht. Es wäre also unzutreffend und daher unverantwortlich, von einer zeitlich nur kurzen Vor- oder Zwischenperiode zu sprechen. Vielmehr legt es sich nahe, eine solche Phase des inhaltlichen Wachsens in der Glaubenserkenntnis als Merkmal einer Kirche zu verstehen, die auf der Pilgerschaft unterwegs ist und bleibt.

29. In diesem Zusammenhang ist auch die inhaltliche Kontingenz der bis in unsere Tage gepflegten diesbezüglichen Glaubensüberzeugung zu beachten. Es fällt ja auf, dass zwar eingangs des 2. Jahrtausends der Kirchengeschichte der Ehestand als Sakrament begriffen wurde, diese sakramentale Einordnung aber bis heute der Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen nicht zugestanden wird, obwohl dafür mehrere gute Gründe angeführt werden können. Dies wird an anderer Stelle zu bedenken sein. Wird überdies berücksichtigt, dass die angeführten Konzilien des 13. bis 16. Jh. ihre Überzeugung in Bezug auf die Sakramente im Rahmen sehr komplexer Glaubenskontroversen zum Ausdruck gebracht haben und ihre inhaltliche Deutlichkeit von dieser defensiven Sprechsituation als erheblich beeinflusst gelten muss, ist festzuhalten: Die heutige Ausgangslage einer Reflexion zu diesem Bereich kann in gänzlich anderer Weise eingeordnet werden.

30. Vor dem Hintergrund der angestellten Überlegungen kann also mit guten Gründen gefolgert werden:

Aufgrund der Unverzichtbarkeit der sakramentalen Verfasstheit der Kirche und als Quelle ihres geisterfüllten Lebens 

– als Ausdruck ihrer Treue zum Herrn Jesus Christus, dem „Retter“ aller Menschen (Lk 2,11) und
– als Bekräftigung ihrer uneingeschränkten Absicht und Pflicht, das von unserem Herrn Jesus Christus verkündete und den Menschen angebotene Heil weiterhin an allen Orten und durch alle Zeiten den Menschen anzubieten, sowie
– in ihrer dafür aus Liebe gebotenen Verantwortung, diesem Auftrag „aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzer Einsicht und mit aller Kraft“ (Mk 12,30) nachzukommen;
÷ zugleich aber angesichts des im Amazonasgebiet erkannten Mangels, die Sakramente regelmässig zu feiern, in dem eine neue Zeitsituation, also ein „Zeichen der Zeit“ erkennbar ist; und
÷ angesichts der sich daraus ergebenden Gefährdung der Kirchen vor Ort in ihrer Vitalität und ihrer Glaubensdynamik, sowie angesichts des Wachsens der diesbezüglichen theologischen Erkenntnis und der Übereinstimmung im Glaubensbewusstsein ist die Kirche heute gehalten, über die inhaltliche und umfängliche Gestaltung ihrer Sakramentalität tiefgehend und mit der Bereitschaft einer Weiterführung bisheriger theologischer Erkenntnis und pastoraler Praxis nachzudenken.

5. Sakramente im Wandel der Zeit

31. Die Geschichte unserer Kirche vermittelt noch eine weitere Erkenntnis: Die inhaltliche und strukturelle Ausgestaltung der Sakramente kann einer Entwicklung unterworfen sein. Diese geschieht nicht willkürlich, sondern sie steht in Beziehung zu Zeit, Kultur und pastoraler Herausforderung. Sie betrifft nicht die heilsbezogene Dichte des sakramentalen Geschehens, sondern die Art und Weise, wie sich dieses jeweils entfalten und wie es in den Verlauf des Lebens in der Kirche zielführend eingeordnet werden kann.

32. Für solche Entwicklungen kann auf verschiedene Bereiche im Leben der Kirche zurückgeblickt werden. Schon im Laufe der ersten Jahrhunderte wurden das Verständnis und der Zugang zur Taufe unterschiedlich beurteilt. Der Zeitpunkt für die Feier dieses Sakraments im Leben eines Menschen unterliegt bis heute unterschiedlichen regionalen Regelungen. Auch die Leitung der Tauffeier ist in verschiedener Weise geordnet. Ähnliches ist für das Verständnis und die Feier der Firmung zu sagen. Die Deutung der Eucharistie und vor allem die Praxis ihres Empfangs hat sich in den letzten hundert Jahren nochmals gewandelt – auch dies regional sehr unterschiedlich. Zur Frage, wer das Ehesakrament feiert, gibt es kontroverse theologische Auffassungen. Der pastoraltheologische „Ort“ der Krankensalbung wird heute neu bestimmt. Die Eigenart der verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte und der pastoralen Praxis können für diese sich ändernde Vielfalt ebenso als erste Evidenz gelten wie ein wachsendes Verständnis für die Komplexität der theologischen Wirklichkeit „Kirche.“ Die dahinter erkennbaren Spuren einer inkulturierten Interaktion entsprechen der Eigenart einer Kirche, die unter Führung des göttlichen Geistes ihren Pilgerweg geht.

33. Es ist nicht verwunderlich, dass die angesprochenen Faktoren unterschiedlich beurteilt und gewichtet werden. Auch in den Beratungen der Synode über Amazonien konnte dies erlebt werden. Zugleich war die Geschwisterlichkeit spürbar, mit der Hoffnung und Angst angesichts der pastoralen Notlage dieser Region geteilt wurde, betroffen machte und das gemeinsame Ringen um tragfähige Schritte in die Zukunft förderte.

34. Im gegenseitigen Austausch, im Teilen und Mit-Teilen der versammelten Schwestern und Brüder, wurde den Mitgliedern der Synode bewusst, was Gott schon bisher in der Kirche Amazoniens gewirkt hat (vgl. Apg 15,4). Welche Kirche anderer Regionen auf unserer Erde könnte sich – trotz aller Schwierigkeiten und Unvollkommenheiten – einer solchen Einsicht verschliessen? Sie verdichtet die Gewissheit, dass der auferstandene und erhöhe Herr mit seiner Kirche unterwegs bleibt.

35. Auch heute versammelt sich die Kirche wie einst in Jerusalem: Angesichts der Not von Unterdrückung und Verfolgung, zugleich angesichts der Entlassung von Petrus und Johannes nach dem hohepriesterlichen Verhör – wissend, dass allein „Gott das Wachstum gibt“ (1 Kor 3,6) und unser Herr Jesus Christus seine Kirche leitet. Wie seinerzeit die Apostel beginnen wir das Gebet und ermutigen uns gegenseitig dazu, zu sprechen: „Doch jetzt, Herr! …“ (Apg 4,29), um unsere Kirchengegenwart vor Gott zu tragen und mit der Kirche von Jerusalem zu bitten: „Streck deine Hand aus, damit Heilungen und Zeichen und Vollmachtstaten geschehen durch den Namen deines heiligen Knechtes Jesus!“ (Apg 4,30). In der Apostelgeschichte entwickelt Lukas in der Folge ein Szenarium der Zuversicht und des Vertrauens:

31Als sie gebetet hatten,
wurde der Ort, an dem sie versammelt waren, zum Beben gebracht,
und alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt,
und sie sprachen das Wort Gottes – mit Freimut.“

6. Vollmacht der Kirche

36. Im Vertiefen unserer theologischen Erkenntnis der Sakramente und in der Weiterführung der pastoralen Praxis wissen wir uns von diesem Geist getragen, der von Anfang an die Kirche leitet und sie erfüllt, und wir wissen: Auch heute wird der Ort unseres Gebets „zum Beben gebracht“. Der Geist ermutigt uns zu jenem Freimut ad intra und ad extra,[11] den es für die nächsten Schritte in der Kirche braucht.

37. Das Handeln und Wort unseres Herrn Jesus Christus ist darin unser Vorbild: Angesichts des Weges durch die Felder und angesichts des Hungers der Menschen in der Nachfolgegemeinschaft lässt Jesus die Menschen um ihn auch am Sabbat die Ähren am Feld abreissen. Die Rechtslage ist eindeutig, der Kommentar Jesu für die ausserordentliche Situation ist es ebenso: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27). Zugleich wird aufgezeigt: Das ist bereits Praxis in der Jüdischen Bibel, und: Entscheidend ist das Prinzip. Das Recht steht nicht über dem besonderen Ausnahmefall. Dies ist die Ordnung, die Jesus in seinem Dienst an den Menschen setzt. Nicht nur die Jüngerinnen und Jünger hungern am Sabbat. Die Kirche Amazoniens hungert an ihrem Tag des Herrn. Also ist die Ordnung des Herrn anzuwenden.

38. In den Erzählungen der Evangelien über das heilende Wirken unseres Herrn Jesus Christus am Sabbat erschiesst sich seine ermutigende Hermeneutik, die eine punktuell buchstäbliche Auslegung des Gesetzes hinter sich lässt und den Blick auf das Wesentliche weitet: Sei es die Rettung der Seele anstatt sie zu vernichten (vgl. Mk 3,1-6); sei es die aufrichtende Freiheit der Gotteskindschaft anstelle der fesselnden Gebeugtheit durch das Böse (vgl. Lk 13,10-17); sei es die Fähigkeit, im Sehen zum Glauben zu finden anstatt im blinden Unglauben zu verharren (vgl. Joh 9,1-41). Diese heilbringende Hermeneutik des Evangeliums zeigt den Menschen an: „Eure Erlösung ist nahe“ (Lk 21,28). Sie integriert also die Weisung Gottes in den Prozess des Kommens seiner Königsherrschaft.

39. Um Missverständnisse zu unterbinden, muss also festgehalten werden: Die Kirche hat im Rahmen ihrer Verfasstheit auf der Grundlage des Vorbilds und der Botschaft des Herrn Jesus Christus die Vollmacht für entsprechende (Ver-)Änderungen. Denn unser Herr Jesus Christus hat in seiner Weisheit seiner Nachfolgegemeinschaft nicht eine überzeitlich-unveränderliche Detailordnung gegeben. Jesus Christus hat sich vielmehr damit begnügt, die Kernelemente einer Rahmenstruktur festzulegen.

Dieser Strukturrahmen umfasst in Übereinstimmung mit seinem Vorbild (siehe Joh 13,15.34: „… wie ich euch …“)
– die unverzichtbare Notwendigkeit der Dienstbereitschaft (Mk 10,43; Joh 13,13-15);
– das Verständnis seiner Nachfolgegemeinschaft, aus der die Bekenntnisgemeinschaft „Kirche“ geworden ist, als eine Beziehungsgemeinschaft auf der Grundlage des Liebesgebotes (Joh 13,34-35);
– die Sorge um die Charismen vor Ort, deren Pflege und gegebenenfalls ihre Indienstnahme (1 Kor 12,3-11.12-31a);
– die Berücksichtigung der je verschiedenen Gegebenheiten und Notwendigkeiten vor Ort bei der Detailentwicklung einer Struktur.

Eine Einschränkung kirchlicher Ermächtigung kann nicht aus dem biblischen Befund abgeleitet werden. Wird übernommene Vollmacht jedoch nicht zum Heil der Menschen eingesetzt, liegt eine Verletzung der anvertrauten Verantwortung und deren Missbrauch vor.

40. Die ausserordentliche Versammlung der Bischofsynode hat den Schrei der Kirche Amazoniens nicht überhört. Sie hat eingehend die Situation studiert und versucht, diese „im Lichte des Evangeliums“ (Gaudium et spes 4) zu analysieren.[12] Daraus ergeben sich weitere Folgerungen:

7. Regionalisierte Neugestaltung kirchlicher Dienste (des „Amtes“)

41. Der dreifaltige Gott, der seine Kirche durch die Zeit führt, schenkt den Menschen in der Kirche ihre Befähigungen zum Einsatz für den Aufbau dieser Glaubensgemeinschaft. Trotz der Verschiedenheit der Gnadengaben, der Dienste und der Kräfte sind sie alle auf einen Geist, auf einen Herrn, auf einen Gott zurückzuführen (1 Kor 12,4-6). In dieser Spannung einer Einheit in Vielfalt handelt Gottes Geist nach seinem Ermessen, „wie er will“ (1 Kor 12,11). So kann sich in der Kirche in der Kraft des einen Geistes vielfältiges Leben entfalten. Katholizität bedeutet nicht Einheitlichkeit in Form und Glaubenspraxis, sondern vielgestaltige Einheit im Glaubensinhalt.

42. Die sakramentale Not in der Pastoral des Amazonasgebietes hat uns auf Defizite in der pastoralen Struktur der Kirche aufmerksam gemacht. Wer das Leben der Kirche in den letzten Jahrzehnten mitverfolgt hat, wird bestätigen, dass diese Notsituation in verschiedenen Regionen der Erde allmählich entstanden und kontinuierlich gewachsen ist, wobei sich allerdings auch kein einheitlicher Gleichklang zeigt. Der Befund ist vielmehr vielfältig. Er erfordert ein differenziertes Vorgehen unter Führung der regionalen Kirchenleitungen, die mit dem Bischof von Rom und untereinander in geschwisterlichem Austausch stehen. So kann es gelingen, sich in diesem Entwicklungsprozess über „die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort [zu] geben“ (Gaudium et spes 4) und so den Stand von Kirche und Gesellschaft in dieser Zeit zu erfassen. Darin können auch „wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes“ (Gaudium et spes 11) erkannt werden, der dazu einlädt, uns angesichts der notwendigen Entwicklungen vertieft mit der Absicht und dem Ziel kirchlichen Handelns auseinander zu setzen und zu identifizieren.

43. Die Beratungen der Amazonas-Synode haben gezeigt: Die angemessene Ermöglichung der regelmässigen Feier der Eucharistie ist aus kirchenbezogenen, aus rechtlichen sowie aus pastoralen Gründen ein vorrangiges Gebot der Stunde:

– Da die Feier der Eucharistie als „Mitte und Höhepunkt des ganzen Lebens der christlichen Gemeinde“ zu verstehen ist (Christus Dominus 30,6), muss dafür gesorgt sein, dass alle Glaubenden einen regelmässigen Zugang zu dieser Feier haben können.
– Wird ihnen dies ohne schwerwiegende theologische Gründe verwehrt, liegt ein theologisches Unrecht und zusätzlich eine Verletzung des Kirchenrechts im Hinblick auf ihre Verpflichtung zur regelmässigen Mitfeier der Eucharistie (can. 1246 und 1247 CIC) und zum Empfang der heiligen Kommunion (can. 920-922 CIC) vor.[13]
– Kann das sakramentale Leben der Kirche am Ort nicht regelmässig in der Feier der Eucharistie entfacht und vertieft werden, wird dieser Kirche die Lebensgrundlage für ihre kirchliche Vitalität und Dynamik eingeschränkt oder gar entzogen.

44. Ist in einer Kirchenregion aufgrund des Mangels an ordinierten Personen die regelmässige Feier der Eucharistie nicht möglich, müssen daher Massnahmen entwickelt und getroffen werden, um diesen Mangel zu beheben.

Entsprechende Vorschläge wurden von mehreren Seiten gemacht. Sie sind zunächst von den regionalen Kirchenleitungen (Bischofskonferenzen, Sprachregionen) zu prüfen und auf ihre Tauglichkeit im betroffenen Gebiet zu bedenken. Dabei stehen pastorale Überlegungen und Gesichtspunkte im Vordergrund, auch wenn die Ergebnisse dieses Prozesses den Rahmen der bisher gültigen kirchlichen Rechtsordnung überschreiten.

45. Bei der Beurteilung einer solchen Notsituation muss darauf geachtet werden, dass die in diesem Gebiet tätigen Priester nicht über eine angemessene Belastung hinaus zum sakramentalen Dienst verpflichtet werden. Denn neben der Gesundheit steht in einem solchen Fall auch ihre persönliche Christusbeziehung auf dem Spiel. Die Leitung der Eucharistiefeier verlangt dem Priester alle physische, aber auch spirituelle und emotionale Energie ab. Damit ist im Interesse des betroffenen Priesters ebenso wie zum Vorteil der Kirche sorgsam umzugehen. Es ist überdies eine Vorgabe der Gerechtigkeit, dass ein Priester sich im allgemein festgesetzten Alter von einer regelmässigen Indienstnahme zurückziehen darf.

46. Der heilige Paul VI. hat bereits im Jahr 1972 mit seinem Apostolischen Schreiben Ministeria quaedam die Möglichkeit erwogen, die Einrichtung zusätzlicher pastoraler Dienste bei entsprechender pastoraler Notwendigkeit zu ermöglichen.[14] In Weiterführung dieser Linie wird der Bischof von Rom die entsprechenden Vorschläge im Geist der Amazonas-Synode und dieses Nachsynodalen Schreibens prüfen und deren Umsetzung, wenn immer möglich, zustimmen.

47. In diesem Zusammenhang wird ausdrücklich zu bedenken sein, ob die dreigliedrige Struktur des sakramentalen Dienstes einer Überprüfung bedarf, die zu einer entsprechenden weiteren Auffächerung der Ordination im Zusammenhang mit den vielfältigen Notwendigkeiten des pastoralen Dienstes an verschiedenen Orten führen kann. Ich bin davon überzeugt, dass sich im Laufe einen solchen Prozesses zwei Erkenntnisse durchsetzen werden: Es werden sich mehr als drei Stufen des ordinierten Dienstes herauskristallisieren, und sie werden nicht in allen Regionen der Welt die gleichen sein. Mit einer solchen Vielfalt wird die Kirche den Erfordernissen der Zeit und den Fragen der Menschen heute offener und angemessen begegnen können.

48. Als Methode für die angesprochene Vorgangsweise bietet sich die Orientierung an der neutestamentlichen Kirche von Jerusalem an, wie sie Lukas in Apg 6,1-6 darstellt. Die dort beschriebenen Stufen des Vorgehens können, allenfalls entsprechend adaptiert, auch heute angewendet werden:
– Die Verantwortlichen einer Kirche am Ort stellen einen Mangel fest.
– Sie legen der versammelten Kirche einen Lösungsvorschlag vor.
– Es werden dafür geeignete Menschen aus dieser Kirche nominiert und in einem synodalen Prozess ausgewählt.
– Die Verantwortlichen der Kirche legen ihnen die Hände auf und beauftragen sie.Es empfiehlt sich, zu diesem Weiheritus (Handauflegung) auch andere Getaufte aus der Kirche am Ort einzuladen, um sichtbar zu machen, dass dieser sakramentale Dienst von allen in der Kirche am Ort getragen und für alle eingerichtet ist.

49. In einer anderen Kirchenzeit hat der heilige Johannes Paul II. den Abschluss der Diskussion zu den Fragen der Zulassung zum kirchlichen Amt dekretiert.[15] Dies geschah aufgrund der damaligen Kirchensituation und in seiner Verantwortung als Nachfolger des Heiligen Petrus. Seine klare Haltung verdient auch heute noch unseren Respekt.

Eine Generation später gebietet es sich gemäss dem Auftrag des Konzils (Gaudium et spes 4: „in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise“), diese Frage erneut zu evaluieren. Der Schrei und die Not der indigenen Völker Amazoniens und ihrer kirchlichen Vorsteher sind zum Anlass dafür geworden, dass sich unsere Erkenntnis weiterentwickeln und unser Bewusstsein im Lichte der biblischen Erzählung weiter klären konnte:

50. Denn „wir sind uns alle bewusst, dass wir nicht nur in einer Zeit der Veränderungen leben, sondern vielmehr in einer Zeitenwende, die neue und alte Fragen aufwirft, angesichts derer eine Auseinandersetzung berechtigt und notwendig ist.“[16] Erneut nach der Darstellung in der Apostelgeschichte ist es eben Simon Petrus, in dessen Hirtenamt meine Vorgänger und ich zu verschiedenen Zeiten eintreten durften, der in der Auseinandersetzung mit dem Hohen Rat ein grundlegendes Prinzip kirchlichen Handelns formuliert hat: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29). Daher ist für diesen geplanten Strukturerweiterungsprozess davon auszugehen, dass von den Kirchen in den einzelnen Regionen der Erde für alle Dienste im Rahmen des sakramentalen Amtes geeignete Personen ohne Ansehen von Geschlecht und Lebensstand ausgewählt und sodann durch Gebet und Handauflegung für ihren Dienst geweiht und gesendet werden.

51. Wird ein solcher Vorgang eingeleitet, so darf nicht übersehen werden, dass es sich dabei um einen Prozess geistiger Erneuerung handeln muss. Denn unsere Aufmerksamkeit muss darauf gerichtet bleiben, die Feier der Eucharistie als die Mitte jedes Lebens in unserer Kirche neu zum Blühen zu bringen und in ihrer heilvollen Wirksamkeit zu vertiefen. Wer hingegen meinen wollte, „dass die Lösungen der derzeitigen und zukünftigen Probleme ausschließlich auf dem Wege der Reform von Strukturen, Organisationen und Verwaltung zu erreichen sei[en]“[17], setzt sich dem zu Recht erhobenen Vorwurf aus, die Kirche als den mystischen Leib unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus (vgl. 1 Kor 10,17; 12,12-13; Eph 4,4-7) mit einem weltweiten multinationalen Konzern zu verwechseln.

52. Die Bischofskonferenzen sind eingeladen und beauftragt, sich mit der Frage von Durchführungsbestimmungen zu beschäftigen. Sie sollen prüfen, ob und in welchem Rahmen die Zusammenarbeit zu diesem Prozess in Kultur- und Sprachregionen angezeigt ist und diese in die Wege leiten.

Nähere Hinweise und Vorgaben werden in der nächsten Zeit folgen.

Abschliessende Reflexion

53. Angesichts der Gewichtigkeit der angesprochenen Fragen und der mit diesem Nachsynodalen Schreiben vorgegebenen weiteren Vorgangsweise habe ich die mir damit auferlegte Verantwortung deutlich vor Augen. Es fehlt auch nicht an Unglückspropheten, die vor einem solchen Schritt gewarnt haben. Ihnen antworte ich mit den Worten des heiligen Johannes XXIII., die er in seiner Eröffnungsrede an das Konzil gerichtet hat:

Sie [die überaus besorgten Ratgeber] sind „zwar voll Eifer, aber nicht gerade mit einem sehr grossen Sinn für Differenzierung und Takt begabt […]. In der jüngsten Vergangenheit bis zur Gegenwart nehmen sie nur Missstände und Fehlentwicklungen zur Kenntnis. Sie sagen, dass unsere Zeit sich im Vergleich zur Vergangenheit nur zum Schlechteren hin entwickle. Sie tun so, als ob sie nichts aus der Geschichte gelernt hätten, die doch eine Lehrmeisterin des Lebens ist, und als ob bei den vorausgegangenen Ökumenischen Konzilien Sinn und Geist des Christentums, gelebter Glaube und eine gerechte Anwendung der Freiheit der Religion sich in allem hätten durchsetzen können. Wir müssen diesen Unglückspropheten widersprechen, die immer nur Unheil voraussagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstünde.“

Und mein Vorgänger fuhr fort:

„In der gegenwärtigen Situation werden wir von der göttlichen Vorsehung zu einer allmählichen Neuordnung der menschlichen Beziehungen  [ich erlaube mir zu ergänzen: und der Kirche] geführt. Sie wirkt mit den Menschen zusammen; aber sie verfolgt über deren Erwartungen hinaus ihren eigenen Plan. Alles, sogar was die Menschen dagegen tun, wendet sie zu dem, was für die Kirche das bessere ist.“[18]

54. Ermutigt durch diese Worte meines Vorgängers, die das Geheimnis und die Methode seines segensreichen Pontifikats erschliessen, vertraue ich auf das Wirken des dreifaltigen Gottes in seiner Kirche. Deshalb bitte ich euch, Schwestern und Brüder: „Hören wir [auf]einander unter der Führung des Heiligen Geistes – auch wenn wir nicht in gleicher Weise denken – aus der weisen Überzeugung heraus, dass ,die Kirche im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegenstrebt, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen‘“ (Dei verbum 8,3)[19], und ich kehre nochmals in die Kirche von Jerusalem zurück. Bevor Simon Petrus sein oben (n. 50) zitiertes prophetisches Wort gegenüber dem Hohenrat sprechen konnte, hatte der Pharisäer Gamaliel dem Gremium ins Gewissen geredet und den Hohenrat zur Zurückhaltung gemahnt:

„Wenn dieses Vorhaben oder dieses Werk von Menschen stammt,
wird es zerstört werden;
stammt es aber von Gott,
so könnt ihr [es] nicht vernichten“ (Apg 5,38-39).

Ich rufe mir dabei ins Gedächtnis, was mein schon verstorbener Mitbruder im Bischofsamt Franz König im Rückblick auf sein Leben in unserer Kirche zu dieser Episode geschrieben hat: „Diese Worte des Gamaliel gelten, so meine ich, heute noch genauso wie vor 2000 Jahren.“[20]

55. Mit allen Menschen guten Willens stimme ich also ein in das Gebet der Kirche von Jerusalem: „Doch jetzt, Herr, …!“ Wir wissen uns alle im Glauben an Gottes Führung verbunden und vertrauen auch „in dieser Stunde der Kirche“[21] auf die Fürsprache unserer himmlischen Mutter.

Gegeben zu Rom, an den Gräbern der frühen Christinnen und Christen,
am 24. März 2020, dem Gedenktag des heiligen Oscar Arnulfo Romero,
im 7. Jahr meines Dienstes als Bischof von Rom

……….

Walter Kirchschläger, 24. Oktober 2019


[Anmerkung der Redaktion: Es handelt sich selbstverständlich um ein fiktives Papstschreiben zur Amazonassynode, das vom Autor des Beitrags entworfen wurde.]

Fußnoten:

[1] Inscriptio an der Basilica San Giovanni in Laterano, der Bischofskirche des Bischofs von Rom.

[2] Siehe Papst Pius XII., Ansprache vom 20. Februar 1946, in: AAS 38 (1946) 145: Die Worte der Subsidiaritätsdefinition „gelten auch für das Leben der Kirche unbeschadet ihrer hierarchischen Struktur“.

[3] Siehe Johannes XXIII., Ansprache Gaudet Mater Ecclesia vom 11. Oktober 1962, in: Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici Vaticani II, I, 1, Rom 1970, hier 168.

[4] So schon Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris vom 11. April 1963, hier n. 21-23.45-46.67.75.

[5] Siehe dazu The Amazon: New Paths for the Church and for Integral Ecology, in:

http://www.sinodoamazonico.va/content/sinodoamazonico/en/documents/pan-amazon-synod–the-working-document-for-the-synod-of-bishops.html.

[6] Siehe Gaudium et spes 62,1.7; Joachim Drumm, Art. Dogmenentwicklung, in: LThK3 III, Freiburg 1995, 295-298.

[7] Franziskus, Apostolisches Schreiben Aperuit illis vom 30. September 2019, n. 6.

[8] Konzil von Trient, Dekret über die Sakramente vom 3. März 1547, Kan. 1: DHH 1601; so auch Katechismus der Katholischen Kirche 1114.

[9] In der 4. Sitzung vom 6. Juli 1274 verlesener Brief des Kaisers Michael Palaiologos (Konstantinopel) zur Herstellung der Union mit den Griechen: DHH 860,1.

[10] Konzil von Florenz, Bulle über die Union mit den Armeniern vom 22. November 1439, Punkt 5: DHH 1310.

[11] Johannes XXIII., Radioansprache La grande aspettazione vom 11. September1962: Acta et Documenta Concilio Oecumenico Vaticano II Apparando II, I, Rom 1964, 350.

[12] Vgl. bes. die Zwischenberichte der Arbeitsgruppen der Synode vom 18. Oktober 2019:

http://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2019/10/18/0804/01655.html.

[13] Vgl. auch Katechismus der Katholischen Kirche n. 1389, 2042, 2180-2182.

[14] Paul VI., Apostolisches Schreiben Motu proprio Ministeria quaedam vom 1. August 1972, IX. und X., sodann ders., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi vom 8. Dezember 1975, n. 73.

[15] Vgl. Apostolisches Schreiben Ordinatio sacerdotalis vom 22. Mai 1994, n. 4.

[16] Franziskus, Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, 29. Juni 2019, Einleitung.

[17] Franziskus, Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, 29. Juni 2019, 5,2; vgl. ders., Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium 97.

[18] Johannes XXIII., Ansprache Gaudet Mater Ecclesia vom 11. Oktober 196: Acta Synodalia I, I, 169.

[19] Franziskus, Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, 29. Juni 2019, 10,2.

[20] Franziskus Kardinal König, Gedenkbild zu seinem 50. Bischofsjubiläum am 31. August 2002.

[21] Julius Kardinal Döpfner im Rückblick auf das Zweite Vatikanische Konzil (1967).

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert