Beitrag von Dr. Michael Wagner
Ein Mensch schaut auf sein Leben zurück und erkennt im Rückblick zwei Spuren im Sand. So erzählt eine bei vielen Jubiläen verwendete Geschichte. Der springende Punkt: Die zweite Spur sei die Spur Gottes, der mitgeht.
Der Mensch lebt und hinterlässt seine Spuren – Weltgeschichte. Manchmal sind diese Spuren ziemlich eindeutig, oft sind sie aber auch verweht und verschüttet. ChristenInnen sind davon überzeugt, dass auch Gott sich in der Weltgeschichte offenbart und zeigt – auch wenn seine „Spuren“ nur schwer eindeutig identifizierbar sind.
Inhalt und Themen
Christlicher Glaube und Geschichte
Die Auseinandersetzung mit Geschichte gehört wesentlich zum jüdisch-christlichen Glauben: Im Alten Testament ist es die Geschichte des Volkes Israel mit seinem Gott, im Neuen Testament wird diese „Spur“ Gottes in Jesus nach christlichem Glauben in unerhörtem Maß historisch fassbar. Insbesondere die Apostelgeschichte präsentiert sich als historisch gut recherchiertes Werk über die Dinge, die sich ereignet haben.
Auch in der weiteren Geschichte der Kirche und der Welt haben ChristInnen Gottes Wirken entdeckt. Eusebius (3./4. Jh.), Hofberichterstatter Kaiser Konstantins und „Vater der Kirchengeschichte“, schreibt: „Ich habe mich entschlossen, in einer Schrift zu berichten über die Nachfolger der heiligen Apostel, über die von unserem Erlöser an bis auf uns geflossenen Zeiten, über die zahlreichen, großen Ereignisse der Kirchengeschichte, […] über das stets gnädige, liebevolle Erbarmen unseres Erlösers.“[1] Kirchengeschichte aus kirchlicher Perspektive interpretierte zunächst historische Fakten auch als (manchmal wunderbare) Fügungen Gottes. Seit Humanismus, Aufklärung und wissenschaftlicher Historiographie im 19. Jahrhundert haben sich die Gewichte verschoben hin zu Darstellungen, die möglichst an überprüfbaren Quellen ausgerichtet sind.
Wie versteht sich Kirchengeschichte heute?
Kirchengeschichte versteht sich als Teil der allgemeinen Geschichtswissenschaft: So wie es eine Staatengeschichte, eine Geschichte der Wissenschaft, der Entdeckungen usw. gibt, gibt es eine auch Geschichte der Kirche oder des Christentums – eine Erfolgsgeschichte mit erstaunlichen Leistungen sowie eine Geschichte mit dunklen Perioden und Ereignissen. Bald taucht die Frage, auf, was unter dem Begriff „Kirche“ eigentlich zu verstehen ist: nur die „römisch-katholische Kirche“ oder alle Konfessionen, nur die Amtsträger oder alle Getauften usw.?
In diesem Fach es geht darum, die Ereignisse, Entwicklungen und Veränderungen in der Kirche kennenzulernen, sie darzustellen und zu präsentieren. „Kirchengeschichte“ soll den gleichen methodischen und qualitativen Standards der historisch-kritischen Methode genügen wie andere Zweige der Profangeschichte. Sie soll also weder ideologische kirchliche Hofberichtserstattung und Apologie, noch eine tendenziös abwertende Kriminalgeschichte des Christentums sein.
Auffallend ist, dass viele bedeutende modernere Arbeiten zur Kirchengeschichte von WissenschaftlerInnen verfasst wurden, die keinen ausdrücklichen persönlichen christlichen Bezug haben. Sie berichten neutral, oft mit Wohlwollen und Fairness über die Ereignisse und Zusammenhänge.
Themen der Kirchengeschichte
Der Themenbereich Kirchengeschichte ist ebenso weitläufig wie vielfältig. Er reicht von der Entwicklung und Ausbreitung der christlichen Glaubensüberzeugungen und des religiösen Lebens über die Institution Kirche und ihre Einrichtungen sowie über die Papstgeschichte bis hin zum Verhältnis der Kirche zu den politischen Größen oder zur Missionsgeschichte. Auch die Entwicklung der Dogmen, der Liturgie, der Riten u. v. m. sind eine wahre Fundgrube für KirchenhistorikerInnen. Wie jede Geschichtsdarstellung muss Kirchengeschichte aus der unüberschaubaren Fülle von Fakten auswählen und gewichten. Schon die Abgrenzung von Epochen und Räumen, die Benennung von Entwicklungen, das Herausheben von einzelnen Personen und Ereignissen hat Konsequenzen für die Interpretation. Zudem haben sich die Perspektiven und Methoden der Geschichtswissenschaft verändert: Sotehen heute Themen im Mittelpunkt des Interesses, die vor einiger Zeit niemand gestellt hat, wie etwa Geschichte des Alltags, des Kleinen Mannes, der Mentalitäten, Frauen- und Genderforschung, Ökumene, nichteuropäische Perspektiven.
Kirchengeschichte im Theologischen Kurs
Übersicht und exemplarische Darstellung
Das Fach Kirchengeschichte innerhalb des Theologischen Kurses hat eine doppelte Aufgabe: Einerseits gilt es, eine gewisse Übersicht zu vermitteln – einen Lauf durch zwei Jahrtausende Kirchengeschichte mit den epochalen Veränderungen und Daten, den großen Linien und Tendenzen. Wesentliche Denkkategorien und Anliegen der Menschen früherer Epochen sowie Parallelen und Unterschiede zu heutigen kirchlichen und gesellschaftlichen Fragestellungen sollen erfasst werden. Im Gesamtüberblick geht es darum, die erstaunlichen Leistungen und Entwicklungen zu würdigen, jedoch auch kritische „heiße Eisen“ wie Kreuzzüge, Hexenverfolgung etc. anzusprechen und sie in den historischen Kontext einzuordnen. Dabei werden die TeilnehmerInnen zwangsläufig damit konfrontiert, dass es sehr unterschiedliche Verwirklichungsformen des einen Glaubens gab und gibt, dass sich Kirche entwickelt, dass sich ihre Lehräußerungen im Lauf der Zeit verändert haben.
Andererseits werden einzelne Ereignisse vorgestellt, an denen exemplarisch wesentliche Entwicklungen erkennbar werden. Die Fremdartigkeit früherer Überzeugungsmuster kann insbesondere in der Auseinandersetzung mit Quellentexten entdeckt werden.
Die historischen Vorkenntnisse der TeilnehmerInnen sind sehr unterschiedlich, was nicht nur eine Herausforderung darstellt, sondern auch die Chance birgt, historisches Vorverständnis bewusster anzusprechen, Begriffe zu klären und sie mit der heutigen Lebenswelt zu verknüpfen.
Kirchengeschichte – ein theologisches Fach
Kirchengeschichte zählt außerdem zum Fächerkanon der theologischen Fakultäten. Sie versteht sich dabei dezidiert als Erkenntnisort, aus dem für heute anstehende Fragen relevante Einsichten gewonnen werden können.[2] Die Rückbindung der Interpretation an die historisch möglichst exakt erfassten Ereignisse muss dabei immer gewahrt bleiben – wie bei der mittelalterlichen Exegese der geistliche Sinn dem wörtlichen Sinn nicht widersprechen darf.
Verborgene Gegenwart Gottes in der Geschichte
„[Mir] scheint, dass der Wert und das Verdienst eines Historikers darin liegt, dass er in den Ablauf der toten Ereignisse, die er mit ihrer ganzen Vielfalt, Genauigkeit und seltsamen Schönheit beschreibt, das einzufügen versteht, was das menschliche Genie darin bewirkt hat.“ – So schreibt Papst Paul VI. in einem interessanten Text[3] zu grundlegenden Fragen der profanen Geschichtsschreibung. Und weiter: „Der Mensch ist jedoch nicht der einzige, der durch sein Handeln den Lauf der menschlichen Wechselfälle beherrscht. Sie werden auch noch von einem anderen Faktor bestimmt, […] vom Wirken der Vorsehung Gottes, deren verborgene Gegenwart in der Zeit und unter den Menschen die Geschichte zu einem Geheimnis macht.“ Er sieht also auch die ganze Profangeschichte in diesem Licht, ohne zu sagen, ob und wie dieses Geheimnis zu ergründen ist.
Dann fährt Paul VI. fort: „Und wenn es sich um die Geschichte der Kirche handelt, wird das Geheimnis […] zu einer Art Sakrament, das zu erfassen und zu entziffern äußerst delikat und schwierig ist.“ Der Papst meint also, dass in der Geschichte der Kirche das Handeln Gottes deutlicher identifiziert werden könne als in der Profangeschichte. Ähnlich – aber eben bei weitem nicht so eindeutig – wie bei den sieben Sakramenten allgemein-menschliche Handlungen zu verlässlichen Zeichen Gottes werden. Die Rede von der ganzen Kirche als Sakrament erweist sich allerdings bei näherem Hinsehen als schwer präzise zu fassen.
Problemstellungen
Es geht in einer solchen theologischen Perspektive um Antworten auf Fragen wie: Wenn die Kirche in der Tat Kirche Jesu Christi ist, was sagen dann die Ereignisse der Kirchengeschichte über Gott, über die Kirche, über den Menschen aus? Auf welche Weisen hat die Kirche versucht, die Botschaft Jesu in die jeweilige gesellschaftliche Situation hinein zu übersetzen? Wo hat Kirche diesen Auftrag authentisch verwirklicht, wo hat sie ihn vernachlässigt oder sogar konterkariert? Was ist als Aufstieg, was als Abstieg zu sehen? Was ist für heute aus diesen Ereignissen zu lernen? In der Bewertung verschieben sich die Plausibilitäten: Früher einleuchtende Kriterien für Gottes Handeln in der Geschichte – wie etwa „der (militärisch-siegreiche) stärkere Gott ist der wahre Gott“ – stoßen zunehmend auf Kritik.
von Anfang an eine Kette unzähliger Reformen
Zugleich ist Kirchengeschichte von Anfang an eine Kette unzähliger Reformen, eingemahnt von „unten“ und eingefordert von „oben“ bis zu den Päpsten. Die Vergebungsbitten Johannes Pauls II. zum Jahrtausendwechsel waren ein Versuch, die Realität des Versagens der Kirche nicht zu verdrängen und Heiligkeit der Kirche nicht mit der Sündenlosigkeit der Kirchenvertreter zu verwechseln. Die Anfrage an die Fehler der Kirche als Institution bleibt nach wie vor virulent.
Einige Thesen zum Nutzen der Kirchengeschichte
+ Die Auseinandersetzung mit den Anfängen der Kirche und ihrer historischen Entwicklung erschließt den faszinierenden Reichtum und die Schönheit des christlichen Glaubens.
+ Der Blick in die Geschichte macht eine faszinierende Vielfalt der Ausdrucksformen des einen Glaubens bewusst.
+ Der Blick in die Geschichte zeigt einen andauernden Prozess des Ringens und Kämpfens um ein angemessene Verwirklichung der christlichen Botschaft innerhalb sich verändernde Zeitumstände. Die Formen waren nicht immer die gleichen – darin liegt ein kritisches Veränderungspotential für die heutige Kirche.
+ Die Kenntnis der Geschichte kann helfen, aktuelle Fragen und Konflikte, in denen Denkmuster früherer Zeiten und Gesellschaftsschichten nachklingen, besser zu verstehen. So könnte es gelingen, Anliegen und Vorgangsweisen positiv zu würdigen, sie besser einzuordnen oder aber in ihren Gefahrenpotentialen deutlicher zu erfassen.
Alternativen zu momentanen Gepflogenheiten
+ Die Geschichte der Kirche könnte Alternativen zu momentan gebräuchlichen Formen des christlich-kirchlichen Lebens zur Verfügung stellen.
+ Im pastoralen Alltag wird man ständig mehr oder weniger ausdrücklich mit Vorwürfen aus der Kirchengeschichte konfrontiert, die die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft massiv hinterfragen. Die Fähigkeit, angemessen mit diesen Fragen umzugehen, ist für den eigenen Glauben und für die Überzeugungsarbeit nach außen essentiell.
+ Eine positive Würdigung der Geschichte der Kirche, ohne blind zu sein für ihr vielfältiges Versagen, bleibt ein Desiderat; denn eine Kirche, die nur als Dauerskandal empfunden wird, kann auf Dauer für Außenstehende und Gläubige nicht anziehend bleiben.
+ Jedenfalls erhebt sich der Anspruch, aus der Geschichte zu lernen.
Dr. Michael Wagner
Erstveröffentlichung: theologie aktuell. Die Zeitschrift der THEOLOGISCHEN KURSE, Sonderheft / 31. Jh. 2015/16, S. 37-41.
[1] Eusebius, Kirchengeschichte 1. Buch I.
[2] Vgl. H. Wolf, Krypta S. 21.
[3] Zit. bei G. Bedouelle, Die Geschichte der Kirche S. 26.