Beitrag von Univ.-Prof. Dr. Angelika Walser
Nach meinem letzten Vortrag bei den THEOLOGISCHEN KURSEN zum Thema „Menschenwürdig sterben“ im März 2013 bin vermutlich nicht nur ich, sondern auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erschöpft nach Hause gegangen. „Und morgen Mittag bin ich tot“[1] – so lautete der Titel eines deutschen Spielfilms (2013), den wir nach meinem Vortrag über unterschiedliche Konzeptionen von Menschenwürde gemeinsam angeschaut und diskutiert haben: In diesem 2013 erschienen Film geht es um eine junge Frau, die an Mukoviszidose, einer unheilbaren Stoffwechselerkrankung, leidet. Weil schon ihr Bruder an dieser Krankheit verstorben ist und ihre Erstickungsanfälle immer qualvoller werden, beschließt sie, in die Schweiz zu reisen und sich dort durch assistierten Suizid von ihrem Leiden erlösen zu lassen. Sie lädt ihre Familie und ihren Jugendfreund zu einem letzten Geburtstagsfest ein …
Brennende Fragen
Als ich Stunden später – erschöpft vom Mitleiden mit der Protagonistin, vom Nachdenken und Diskutieren – durch die Wiener Innenstadt ging, um die Bilder in meinem Kopf zu ordnen, wurde mir bewusst, dass es wenige Orte in Österreich gibt, an denen ethische Reflexion auf einem so hohen Niveau betrieben wird. Von Nicht-Expertinnen und Nicht-Experten – von ganz normalen Menschen eben, die nicht fürs Nachdenken bezahlt werden, sondern im Gegenteil: Sie sind bereit, einen kostbaren Abend für ein Thema zu opfern, das nicht gerade als „erbauliche Abendunterhaltung“ bezeichnet werden kann. Und doch war dieser besondere Abend nicht zuletzt eine Bereicherung für mich selbst: Da kamen Männer und Frauen aus allen Schichten, Professionen und Altersstufen zusammen, um sich eine Meinung zu den Themen „Tötung auf Verlangen“ und „Beihilfe zur Selbsttötung“ zu bilden; da wurde sehr kontrovers, aber immer fair diskutiert; da flogen die Argumente und die persönlichen Erfahrungen hin und her; da wurde der Film kritisch unter die Lupe genommen. Es wurde gerungen, gestritten, geweint und gelacht. Wo sonst wäre das möglich als bei den THEOLOGISCHEN KURSEN am Stephansplatz und an allen sonstigen Standorten der Theologischen Kurse in Österreich? Hier muss man keine fertigen Antworten zu brennenden ethischen Fragen in der Tasche haben. Hier darf man nachdenken und suchen – und das alles letztlich unter dem Dach der katholischen Kirche.
Der „Nährwert“ für Kirche und Gesellschaft
Wie könnte man den „Nährwert“ der THEOLOGISCHEN KURSE für Kirche und Gesellschaft besser erfassen als an solchen Abenden? Die katholische Kirche braucht ethisch hochgebildete Laien und das vielleicht so dringend wie nie zuvor. Sie braucht Leute, die vor Ort in ihrem jeweiligen Wirkungsfeld der befreienden Botschaft vom Reich Gottes zum Durchbruch verhelfen. Sie braucht die kritischen Nachfragen und die Erdung durch die Laien, die in ihrer persönlichen Lebenserfahrung testen, wie hilfreich und praktikabel die Ideale katholischer Lehre sind. Nicht umsonst fordert Papst Franziskus immer wieder seine Amtsbrüder auf, den Laien gut zuzuhören.
den Laien gut zuhören
Genau wie die Kirche braucht auch unsere Gesellschaft in ethischen Fragen gesunden Menschenverstand: Sie braucht eine Kultur des Dialogs mit genau denjenigen Bürgern und Bürgerinnen, die in Anlehnung an ein berühmt gewordenes Diktum des deutschen Philosophen Jürgen Habermas als „religiös musikalisch“ bezeichnet werden können. Sie haben im gesellschaftlichen Konzert der Argumente eine wichtige Stimme einzubringen. Die österreichische Politik hat sich derzeit zumindest in bioethischen Fragestellungen Liberalisierung auf ihre Fahnen geschrieben – alles unter dem großen Zauberwort der „Selbstbestimmung“. Doch wo sind die Orte, an denen um eine „Selbstbestimmung“ gerungen werden kann, die diesen Namen tatsächlich auch verdient? Unerfüllter Kinderwunsch und Reproduktionsmedizin, Pränataldiagnostik, Tötung auf Verlangen, Suizid – all das sind schwierige Themen, die niemals „gelöst“ werden können und die doch einen eigenen gut begründeten Standpunkt erforderlich machen – nicht nur aus der Perspektive des christlichen bzw. katholischen Glaubens, sondern generell. Wo werden Menschen, die in Österreich leben, sozusagen „ethisch fit gemacht“ und befähigt, die richtigen Fragen zu stellen, Argumente abzuwägen, um eine ethisch verantwortliche Entscheidung treffen zu können? Es gibt nur wenige Orte dafür, scheint mir. Der Ethikunterricht existiert offiziell nicht, der Religionsunterricht leidet an schwindenden SchülerInnenzahlen.
Das Fach Theologische Ethik
Genau an dieser Stelle hat die Theologische Ethik im Rahmen des Theologischen Kurses ihren Platz. Sie versteht sich als integrative Wissenschaft mit drei wesentlichen Merkmalen1) Wissenschaftlichkeit, 2) gesellschaftliche Relevanz und 3) Kirchlichkeit. Theologische Ethik oder Moraltheologie, wie sie traditionell genannt wird, fühlt sich bis heute grundsätzlich den Leitlinien des Zweiten Vatikanums verpflichtet: „Besondere Sorge verwende man auf die Vervollkommnung der Moraltheologie, die, reicher genährt aus der Lehre der Schrift, in wissenschaftlicher Darlegung die Erhabenheit der Berufung der Gläubigen in Christus und ihre Verpflichtung, in der Liebe Frucht zu tragen für das Leben der Welt, erhellen soll.“ (Optatam totius16)
heikle Themen – gut begründete Antworten
Was hier feierlich in Kirchensprache formuliert wird, ist bis heute geltendes Programm: In einer pluralen Gesellschaft ringt Theologische Ethik auf der Basis des christlichen Menschenbilds um gut begründete Antworten auf die ethischen Fragen unserer Zeit und versucht, diese Antworten auch Nicht-Glaubenden verständlich zu machen. Selbstverständlich geht es dabei nicht nur um bioethische Fragestellungen, sondern letztlich um alles, was zum guten Leben von Menschen beiträgt bzw. dieses gute Leben gefährdet. Eng verwandt ist die Theologische Ethik/Moraltheologie daher auch mit der Sozialethik, die ihren Fokus auf Gesellschaftsprozesse und strukturelle Entwicklungen legt, welche in großem Ausmaß individuelle Entscheidungen prägen. Hier geht es um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des guten Zusammenlebens, also um heikle Themen wie soziale Gerechtigkeit, die Sicherung des Friedens sowie die Armutsfrage und die Frage eines nachhaltigen Umgangs mit der Schöpfung.
Auf einer eher individuellen Ebene befasst sich dann klassischerweise die spezielle Moraltheologie/Theologische Ethik mit praktisch allen ethischen Fragen des Lebens: mit Medizin, Wirtschaft, Biotechnologie, Ökologie und Tierethik, Medien, aber auch mit Fragen der persönlichen Lebensgestaltung wie Sexualität und Partnerschaft. Die Moraltheologie/ Theologische Ethik fungiert dabei als Brücke: Sie stellt Bezüge zwischen den existentiellen Erfahrungen von Menschen, den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Disziplinen und dem theologischem Nachdenken im Raum der katholischen Kirche her.
Die allgemeine Moraltheologie/Theologische Ethik stellt zur Beantwortung der soeben genannten speziellen Einzelfragen die notwendigen Grundlagen bereit: Welchen Stellenwert hat die Bibel für ethische Argumentation, welchen Stellenwert die Tradition? Was sind Normen und wie begründet man sie? Gibt es dabei spezifisch Christliches zu beachten und worin genau besteht dieses „Christliche Proprium“? Wo hat das Gewissen der/des Einzelnen seinen Platz? Was versteht die Theologie unter Schuld und Sünde? Welche Werthaltungen sind für ChristInnen wichtig und woher beziehen sie diese Werthaltungen?
Bezüge zu anderen Fächern
Eine der wichtigsten Herausforderungen für die Theologische Ethik besteht heute in der kritischen Aufdeckung von gesellschaftlich oft völlig unhinterfragten und unreflektierten Menschenbildern. Hier knüpft sie an der Anthropologie und somit letztlich an der Philosophie an. Und hier liegt auch die große Herausforderung für die Theologische Ethik in der Zukunft: angesichts der Fülle der Auffassungen über Mensch-Sein in einer postsäkularen Gesellschaft an christlichen Grundeinsichten über den Menschen festzuhalten und sie in heutige Sprache zu übersetzen – entgegen den stetig wachsenden Tendenzen eines religiösen Fanatismus oder eines säkularen „anything goes“, das letztlich meist zulasten der Verwundbaren und Armen einer Gesellschaft geht.
von Gott zur Antwort (heraus)gerufen
Auf dem Hintergrund des Offenbarungsverständnisses des Zweiten Vatikanischen Konzils, das Offenbarung als „Selbstmitteilung Gottes“ definiert, versteht Theologische Ethik den Menschen als „Herausgerufenen“, also als jemanden, der von Gott zu einer Antwort in und mit seinem ganz persönlichen Leben und damit zu Verantwortung aufgerufen ist. Damit ergibt sich ein deutlicher Bezug zur Fundamentaltheologie/Theologischen Grundlagenforschung.
Mit der Theologischen Ethik traditionell eng vernetzt ist vor allem die Spirituelle Theologie. Eine Geisteshaltung, welche beispielsweise die Schöpfung achtet und behütet, kann nicht einfach im luftleeren Raum „produziert“ werden. Es bedarf dazu der Erschließung innerer „geistiger Räume“ und der Pflege spiritueller Ressourcen. Eine Theologische Ethik, die sich rein intellektuell in abstrakte Theorien verirrt, wird im realen Leben von Frauen und Männern nämlich kaum Auswirkungen haben. Erst der Rückbezug zu konkreten Formen gelebten Glaubens in der langen Geschichte der Spiritualität bzw. auch die Entdeckung neuer spiritueller Praktiken im Rahmen des interreligiösen Dialogs gibt Theologischer Ethik das geistige Fundament und den Menschen die Kraft, einen als ethisch richtig erkannten Weg auch durchzuhalten.
Nachdenklichkeit an jene Orte mitnehmen,
an denen Gläubige handeln und wirken
Zurück zum eingangs erwähnten Vortragsabend über „Menschenwürdiges Sterben“: Was an diesem Abend geleistet wurde, war mehr als „Kopfarbeit am Guten“, wie eine mögliche Definition für ethisches Denken generell lautet. Zwar haben die Köpfe geraucht, doch eben nicht nur die Köpfe. Die Angst vor dem eigenen Sterben, die der Grundmotor der gesellschaftlichen Debatte um die „Tötung auf Verlangen“ und „Beihilfe zum Suizid“ ist, war ebenso ein Thema wie allgemein Gesellschafts- und Kirchenkritik. Viele Teilnehmende steuerten berufliche und persönliche Lebenserfahrung bei, etwa als Mitarbeiterin der Hospizbewegung, als Juristin und Medizinerin, aber auch als Vater und Mutter oder als Sohn und Tochter pflegebedürftiger Eltern. Sie alle sind engagierte Katholikinnen und Katholiken, die das ethische Nachdenken weder weltlicher noch geistlicher Obrigkeit überlassen wollen und diese ihre Nachdenklichkeit mit an jene Orte nehmen, an denen sie jeden Tag handeln und wirken. Darauf können die Theologischen Kurse stolz sein. Herzlichen Glückwunsch, Theologische Kurse!
Univ.-Prof. Dr. Angelika Walser
Erstveröffentlichung: theologie aktuell. Die Zeitschrift der THEOLOGISCHEN KURSE, Sonderheft / 31. Jh. 2015/16, S. 59-63.
[1] https://www.youtube.com/watch?v=7RkLb7NJCmY