Von der Schande zum Ruhm. Pesach und Ostern: Zwei Feiergestalten einer Hoffnung

In den Tagen vom 8. bis zum 16. April feiern Juden in diesem Jahr Pesach. Etwa zur gleichen Zeit gehen die westlichen Kirchen in die Hohe Woche: In der Nacht zum 12. April, der Pascha-Vigil, beginnt für sie jene Fünfzig-Tage-Zeit, die „wie ein einziger Ostersonntag“ zu feiern ist (Tertullian), die orthodoxen Kirchen folgen eine Woche später. Was gibt Juden wie Christen Anlass zu solch lang anhaltender Festesfreude? Und was wird in jener außergewöhnlichen Nacht gefeiert, die so anders ist als alle anderen Nächte? Pesach und Ostern sind „zwei Feste wie zwei Schwestern“ (C. Leonhard) – was aber macht ihren Eigencharakter, was die Verwandtschaft aus?

Gott schämt sich der Armen nicht

Pesach erinnert eine merkwürdige Erfahrung. Eine Gruppe unbedeutender, armseliger Fremdarbeiter im Nildelta erhält unerwartet göttlichen Beistand. Um ihretwillen legt Gott sich mit dem Herrscher an, er entzieht die Rechtlosen dessen Gewalt und führt sie in die Freiheit. Als man sie noch einmal zurück­zwingen will, lässt Gott sie auf wunderbare Weise entkommen und ihre Verfolger untergehen. Aus Sklaven wird das Volk Gottes. Später dürfen die Geretteten „ihr“ Land bewohnen um dort nach der Weisung ihres Gottes zu leben. Das soll sie davor bewahren, selbst jemals so anmaßend zu werden wie „Ägypten“ und die geschenkte Freiheit zu verspielen. Seine Identität verdankt Israel also nicht der Abstammung von Göttern oder großen Ahnen, auch nicht eigener Stärke, sondern dem Handeln seines Gottes, der sich mit Vorliebe derer annimmt, für die sonst keiner eintreten würde.

In der biblischen Erzählung vom Exodus hat sich diese Erfahrung verdichtet. Von Generation zu Generation wird sie in der jährlichen Feier von Pesach weitergegeben, die ihre eigene wechselvolle Geschichte hat. Immer aber beziehen sich die Feiernden auf Vergangenes, um daraus Hoffnung in der Gegenwart und auf Zukunft hin zu schöpfen.

Vom biblischen Pesach zum heutigen Seder-Abend

Die Bibel ordnet wiederholt an, Pesach zu begehen und kennt unterschiedliche Feierformen, je nach den örtlichen und politischen Umständen, die gerade herrschen. Die Kultreform König Joschijas (7. Jh.) rückt den Jerusalemer Tempel ins Zentrum: Nur dort dürfen fortan die Pesach-Lämmer geschlachtet werden. Ein Anspruch, der auch während der knapp fünfzig Jahre des Babylonischen Exils – die Rückkehr (539 v. Chr.) wird als neuer Exodus gedeutet, und der Tempel wieder errichtet – bis in die Zeit Jesu Gültigkeit behält. Jesus zieht mehrmals nach Jerusalem um dort inmitten des regen Pilgerbetriebs im Kreis seiner Freunde Pesach zu feiern. In der damals unter römischer Besatzung leidenden Bevölkerung steigt gerade in den Tagen vor Pesach die Befreiungshoffnung, und manch ein Ungeduldiger zeigt Bereitschaft zur gewalttätigen Mitwirkung daran. In dieser nervös-angespannten Situation ist das Todesurteil über Jesus als Volksverhetzer rasch gefällt. Einige Jahrzehnte danach kommt es für die Juden zur eigentlichen Katastrophe: Die Schleifung des Tempels im Jahr 70 und die Zerstörung Jerusalems sowie die Vertreibung der Juden aus der Stadt (135 n. Chr.) zur großen Herausforderung. Wie kann Pesach künftig gefeiert werden? Unter rabbinischer Federführung entsteht eine Feierform, deren Entwicklung bis ins Mittelalter andauert: Man orientiert sich an der Bibel und verarbeitet Einflüsse aus der spätantiken hellenistischen Mahlkultur. Wichtig ist auch, sich von den Christen und ihrer sich entfaltenden jährlichen Osterfeier rituell abzugrenzen. Neben dem Synagogen­gottesdienst wird schließlich jenes „Pesach der Generationen“ in Verlauf und Wortlaut festgeschrieben, das wir heute kennen: eine häusliche Liturgie – der Seder (hebr. Ordnung) – mit Text, Gebet und Gesang; ein festliches Abendessen mit Weingenuss und zahlreichen symbolischen Speisen, aber keinem Lamm.

Auch wir waren in Ägypten …

Unerlässlich ist es, an diesem Abend ein Gespräch über die Bedeutung des nächtlichen Wachens in Gang zu bringen. Ist die rituelle Frage nach der Besonderheit dieser Nacht gestellt, hat der Hausvater Gelegenheit zur Belehrung der Anwesenden. Als Ausgangstext dafür kann er zwischen mehreren biblischen Abschnitten wählen, denen eines gemeinsam ist: Sie alle „beginnen bei der Schande und enden beim Ruhm“. Die Feiernden aber sind „verpflichtet, sich selbst so anzusehen, wie wenn man selbst aus Ägypten ausgezogen wäre“ (Mischna Pesachim 10,4): Mein Vater war ein heimatloser Aramäer, wir waren Sklaven des Pharao … Diese Identifikation mit den Vätern und Müttern im Glauben ist keine Rhetorik, sondern zeigt tiefe Einsicht.

Die Exodus-Erzählung ist weder Kriegsbericht noch Siegergeschichte. Um wirklich Hoffnungsgeschichte zu bleiben, muss und darf nicht verschwiegen werden, wie gefährdet Menschen sind, verloren zu gehen oder andere zu Verlierern zu machen. Pesach zu feiern erlaubt einen realistischen Blick auf die Welt, ohne verzweifeln zu müssen. Pesach zu feiern heißt, sich von Gott retten zu lassen.

Ohne auf die Schande zu achten

Auch die Osterfreude gründet in einer irritierenden Erfahrung. Auch sie spart weder Schande noch Scheitern aus. Sie erzählt von Jesus, der freiwillig „wie ein Sklave und den Menschen gleich“ (Phil 2,7) wurde, „ohne auf die Schande zu achten“ (Hebr 12,2). Nach menschlichem Ermessen schlägt sein Leben fehl: dreißig unauffällige Jahre, drei Jahre mäßig erfolgreicher Lehrtätigkeit auf Wanderschaft; zuletzt der skandalöse Verbrechertod am Kreuz, der alle Hoffnungen seiner AnhängerInnen zunichte macht. Dann aber geschieht das Unausdenkbare: Der Totgeglaubte begegnet erst den Frauen, später den Jüngern. Deren anfängliches Entsetzen, Staunen, Zweifel und Nichtverstehen wandelt sich erst allmählich in Glauben. Der fünfzigste Tag danach – „Pfingsten“ – wird zum Symbol eines Durchbruchs: Die Jünger überwinden ihre Menschenfurcht und fangen an, die „törichte“ Botschaft vom Kreuz zu verkünden, und – wie Paulus sagt – sie schämen sich nicht für das Evangelium, denn „es ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt“ (Röm 1,16).

Gibt es ein christliches Pesach?

Paulus, ein bibelfester Schriftgelehrter, begreift die Auferweckung Christi als neuen und endgültigen Exodus: Christus hat der Herrschaft der Sünde ein Ende bereitet und ist aus dem Tod ins neue Leben gegangen. Mit ihm, so Paulus, geht diesen Weg schon jetzt, wer auf Jesu Tod und Auferstehung getauft wird. Und das Lamm? Die Mazzot? „Schafft den alten Sauerteig weg, damit ihr neuer Teig seid. Ihr seid ja schon ungesäuertes Brot; denn als unser Paschalamm ist Christus geopfert worden.“ (1 Kor 5,7). Hier geht es offenbar nicht um das jüdische Pesach oder um die christliche Adaptierung seinen Ritus, sondern darum, ein der neuen Seinsweise entsprechendes Leben zu führen. Und eifrig die Bibel zu lesen: Weil Christus zugleich Lamm und Wort (Gottes) ist, „essen“ Christen das Pascha, indem sie die Heilige Schrift verinnerlichen und als „Fleisch des Lammes“ in sich aufnehmen … (Origenes, 3. Jh.)

Drei der vier Evangelien überliefern das Abschiedsmahl Jesu als Pesachmahl. Das ist weniger von historischem Interesse als vielmehr wichtig für die neue Deutung, die Jesus dem gebrochenen und geteilten Brot und dem reihum gereichten Weinbecher gibt. Die tradierten Abendmahlsworte enthalten mehrere biblische Motive: die endgültige Vergebung der Schuld durch den Neuen Bund (Jer 31,31.34), das vergossene Blut beim Bundesschluss mit dem Gottesvolk (Ex 24,8) und den Gottesknecht, der die Sünden „von Vielen“, d. h. aller Menschen, trägt (Jes 53,12). Jesu Lebenshingabe „mit Leib und Blut“ – ein für alle Mal auf Golgota und erinnernd vergegenwärtigt in der Eucharistie – hat diese Verheißungen erfüllt.

Im Johannes-Evangelium dagegen stirbt Jesus bereits vor dem Pesach. Am Nachmittag des Rüsttags werden im Tempel die Pesach-Lämmer geschlachtet. In der johanneischen Tradition ist also Jesus selbst das „Lamm Gottes“, das die Sünde der Welt trägt und geopfert wird (Joh 19,14.42; vgl. Joh 1,29). Auch hier klingt das Motiv des leidenden Gottesknechts an, der „wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt“, seinen Mund nicht auftat (Jes 53,7).

Pesach und Ostern: zwei Lesarten des Exodus

Die Exodus-Tradition und ihre Hoffnung für die Verlorengeglaubten erschließt die paschale Dimension von Taufe und Eucharistie. Wie Pesach bietet Ostern einen realistischen Blick auf Menschen und Welt, ohne verzweifeln zu müssen. Ostern zu feiern heißt, sich vom gekreuzigten Auferstandenen erlösen und ins neue Leben führen zu lassen.

Die Kirche lebt aus jener großen biblischen Verheißung, die sie Israel verdankt und Israel theologisch verbindet. Es vertieft die christliche Pascha-Feier allerdings nicht, sie „jüdisch“ zu inszenieren und die Liturgie des Letzten Abendmahls (Eucharistie) oder der Osternacht mit Elementen des heutigen Pesach-Seder anzureichern – den auch Jesus in dieser Form nicht gefeiert hat.

Christinnen und Christen dürfen sich über jede Gelegenheit freuen, als geladene Gäste die jüdischen Ausdrucksformen dieser Hoffnung respektvoll kennenzulernen. Und ebenso darüber, aus dem Verstehen der eigenen Tradition die ihren zu kultivieren.

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