Apokalypse am Gartenzaun. Valerie Fritschs „Winters Garten“ und der Ernstfall der Liebe

Beitrag von Dr. Tobias Mayer, Universität Wien

Es ist verführerisch, in der Bedrängnis großer Krisen zu endzeitlich gefärbten Motiven zu greifen. Auch in diesen Tagen gibt es wieder einige, die „mit dem Apokalyptischen fuchteln“, so hat es der Journalist Michael Köhler einmal ausgedrückt. Doch apokalyptische Vokabeln erzeugen meist eher Vernebelung als apokalypsis im Wortsinne: „Enthüllung“. Angesichts solcher apokalyptischen Beflissenheit kann es interessant sein, den Blick auf die literarische Konstruktion eines katastrophischen Weltendes zu werfen:

Wie würden wir heute leben, wenn wir um die unvermeidlich bald bevorstehende Auslöschung unserer Zivilisation wüssten? Was passiert mit dem Menschen und seiner Menschlichkeit, wenn er das Ende seiner Art greifbar vor Augen hat? Die Grazer Autorin Valerie Fritsch (geb. 1989), die zur Zeit mit einem neuen Roman („Herzklappen von Johnson & Johnson“, Suhrkamp 2020) von sich reden macht, wagte mit ihrem 2015 erschienenen Roman „Winters Garten“ einen Versuch: das experimentelle Portrait einer Gesellschaft in Erwartung des angekündigten und fatalen Weltenbrands. Der apokalyptische Roman lebt nicht von düsteren Bildern und zieht seine Kraft nicht aus der Gewalt des Untergangs, sondern schon aus dessen banger Erwartung. Der Grund und die Art der Katastrophe bleiben weitestgehend im Unklaren, solche Details spielen im Buch keine Rolle, denn im Zentrum steht eine Liebesgeschichte, deren leise Töne trotz des sonoren Brummens des näher kommenden Armageddon vernehmlich werden.

Der Roman beginnt in einem Garten, der mehr „Gleichnis“ als Lebensraum ist, und dies für eine eigentümliche, fast kommunenartig vielzählige Großfamilie. Anton Winter, der dem Buch den Namen gibt, wächst hier auf, genießt eine „heilige Kinderzeit“. Für ihn ist der „Garten“ ein Millieu der abenteuerlustigen Freiheit, der Fürsorge und der Liebe. Ein Idyll, aber dennoch durchzogen von Melancholie, von einem merkwürdigen Schmerz, der spürbar, aber unerklärlich ist. Das Leben in dieser fragilen Geborgenheit ist zeitlos – wo und wann die Geschichte spielt, scheint nirgends auf –, aber es ist jedenfalls eine Zeit, in der die Institutionen sich schon im Zerfall befinden, eine Zeit der schwachen Ahnung von dem, was kommt. Der Tod gehört zum Garten wie selbstverständlich, ist von Anfang an ein Teil von Anton Winter, der ihn nie fürchtet. Die Toten faszinieren ihn, er sucht ihre Nähe, macht „keinen Unterschied […] zwischen tot und lebendig“, und das „lächelnd“. „Er sah das Beschädigte als das Besondere. Er lobte sich das Einmalige und seine Zerstörbarkeit. Er mochte das Schadhafte, jene Stelle, an der die Heilung aus- und eine ewige Gegenwärtigkeit einsetzte“. Das erste von acht Kapiteln, die mit dem Frühling und der Kindheit im Garten beginnen und später, im Winter, am selben Ort enden, schließt mit einer Problemexposition: „Als Kind liebt man alle Dinge, die einem nah sind, und später muss man viel allein sein, um zu lieben. Anton war nun lange erwachsen, ein hagerer Mann, der nicht schlief, weil die Vögel in der Stadt Tag und Nacht schrien und die Welt unterging. Und der erstmals wieder liebte“. Die Welt ist am Abgrund – aber Anton liebt.

Der Ortswechsel in die Stadt ist auch ein Sprung in die Endzeit. Das ganze urbane Leben steht unter den Vorzeichen des Unheils. Während postapokalyptische Erzählungen meist Elend, Gewalt und Barbarei thematisieren, herrscht hier, wo der Kampf ums Überleben sinnlos geworden ist, längst eine resignative und depressive Atmosphäre. „Man hungerte nach allem, und man verhungerte an allem gleichzeitig.“  Anton Winter ist Beobachter und Chronist dieses humanen Zerfalls, wenn er von der Dachterasse aus seinen Feldstecher (vielleicht eine Anspielung auf Heimito von Doderers Amtsrat Julius Zihal) auf die bizarr gewordene Intimität der Menschen und damit auf ihre blanke Angst richtet: „In allen Ecken wiegten sich die Betenden, stumm eingeknickt über Rosenkränzen und Gebetsketten, und klackerten mit den Glasperlen, die ihnen durch die Hände glitten wie Sand. Auch in den Kirchen drängten sich Tag und Nacht die Menschenmassen, die im Gedröhne der Glocken wahnsinnig vor Angst um Gnade flehten.“

Konventionen werden lächerlich angesichts des drohenden Unheils, Verhaltensweisen „schrumpfen“  bis zum Verlust jeder Menschlichkeit. Jeden Samstag finden sich Menschen zum gemeinschaftlichen Suizid zusammen, in einer grotesken Szenerie flankiert von jenen, „die sich am Abgrund stehend für die Liebe und gegen den Tod entschieden hatten. […] So feierten die Gäste der Massenselbstmorde und die Gäste der Massenhochzeiten Seite an Seite.“  Lediglich die Schwangeren weisen noch Zivilisiertheit auf, sie sind die „Einzigen, die nicht schrumpften“  und sind für viele, wider besseren Wissens, letzter Anhaltspunkt von Hoffnung und Trost. Das Gebärhaus, wo Antons Geliebte Friederike arbeitet und das auch ihn mehr und mehr anzieht, ist Refugium und Hoffnungszentrum der Stadt. „Die Mütter wollen nicht glauben, dass man das Schicksal nicht abwenden kann“.

Im fulminanten Finale des Romans – die Stadtflüchtigen sind in einer letzten Suche nach Zuflucht in den Garten zurückgekehrt, um das Ende zu erwarten – blickt Anton wieder durch das Fernglas, das ihm eine übernatürliche Schau gewährt: „Frierend starrte er in das Fernglas, auf den Untergang hinter den Linsen, der die Menschen verwandelte in Asche und Knochen, in Tote und Versehrte, in graue Kinder und uralte Tiere, jeden in etwas anderes: weil niemand bleiben konnte, wer er war. […] Alles wurde nah. Nichts blieb fern.“ So wird der Weltuntergang auf nur vier Buchseiten erzählt, eine anschwellende Kaskade von Bildern, die Visionen des Sehers folgen aufeinander wie die Formeln einer Litanei. Ob am Ende alles endet? „Nachdem die Welt untergegangen war, spielte es in Anton Winters Träumen Joy Division und Rachmaninow in den Morgenstunden“. Das ist der Soundtrack von Winters Weltuntergang. Die Schlussakkorde der Erzählung geben eine Ahnung von Heimkehr.

Die Erzählung ist sorgsam und mit kunstfertiger Sprache gezeichnet, manchmal fast eine „Sprach-Orgie“ mit unerschöpflichem Begriffsrepertoire und ungewöhnlichen Wortverbindungen. Fritsch scheut sich nicht, ohne Ironie an den hohen Stil vergangener Zeiten anzuknüpfen, zum Beispiel an Stilmittel der Romantik, aber auch aus dem Inventar biblischer Motivik zu schöpfen. Das ist meist erfrischend, manchmal aber etwas sonderbar aufgeladen, gerade im Hang zum Pathos und zum Aphorismus: „In jeder Kindheit sind die Alten unaussprechlich alt, und jede Kindheit ist stets jemandes spätere Verzweiflung.“ „Mit der Liebe beginnt eine permanente Anpassungsleistung, die im erlösenden Phänomen der Ähnlichkeit und Nähe mündet.“… Ansonsten funktioniert der Text vor allem durch seine Bildkraft (was wenig verwundert, ist er schließlich mehr Gleichnis als Roman), etwa in der Rede von der „verschwimmenden“ Welt, dem aufgeweichten und „schmatzenden“ Land, oder der „dreckigen, vom Regen singenden Schöpfung“.

Das eigentliche Wunder von „Winters Garten“ aber ist die zwischen Anton und Friederike keimende Liebe, die sinnlos ist, weil ihnen keine Zeit bleibt, und die notwendig ist, weil sie nur so existieren können. Wie auf diesem paradoxen Boden eine subtile Liebesgeschichte wächst, ist umwerfend erzählt. Hier wird der Ernstfall einer Liebe „im Endspiel“ geprobt:

„In der Liebe ist man endlich wieder jemand. […] Man wird stark wie ein Baum, und doch wächst eine Zerbrechlichkeit in Kopf und Körper. Man züchtet eine Brüchigkeit, die unsichtbar ist für die Welt, aber in der ein anderer Mensch wüten kann wie ein Ungeheuer, wenn er nicht vorsichtig ist. Aber denk nicht, dass es eine Erlösung ist! Wie man sich immer fürchtet, dass das Herz stehen bleibt. Es passiert etwas Gefährliches in der Liebe, man lässt Wirklichkeit und Mythos aufeinander los. Und trotzdem. Wenn man keine Angst davor hätte, dass etwas zu Ende geht in den durcheinandergebrachten Herzschlägen und Körpern, warum sollte man einander dann lieben? Aber Angst entbindet nicht von Mut. Und deswegen will ich heute wieder mit dir sein. Und morgen auch.“

Der Roman „Winters Garten“ ist der hellsichtige poetische Ausdruck einer erinnerungswürdigen menschlichen Grunderfahrung: Menschliche Liebe kann keine Ewigkeit versprechen, sie ist nur als gefährdete zu haben. Die Endlichkeit ist ihrem Wesen eingezeichnet. Das ist der „endlichkeitsphilosophische“ Anstoß dieser Geschichte.

Tobias Mayer, Wien

Valerie Fritsch, „Winters Garten“, Roman (Suhrkamp Berlin 2015, 154 S., 16,95 €)


Die ursprüngliche Fassung erschien in:  „Christ in der Gegenwart“ (Nr. 33/2016, S. 365)

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