Leiden und Leidenschaft. Musikalisches und Theologisches zur Johannespassion (J. S. Bach, BWV 245)

Am Karfreitag, 7. April 1724, erklang die Johannes-Passion in der Nikolaikirche in Leipzig erstmals. Text und Musik stellen Jesu Leiden nicht nur dar, sondern wollen den Zuhörer involvieren, ihn am Geschehen teilhaben lassen und verdeutlichen, dass Christus für ihn leidet: „O Mensch, bewein dein Sünde groß …“

Passion: Ruhm in der Erniedrigung

Die Leidensgeschichte Jesu nach dem Johannesevangelium hat seit dem 7./8. Jh. ihren festen liturgischen Ort als Evangelienlesung am Karfreitag. Oft mit verteilten Rollen vorgetragen, ist auch in den zahlreichen Passions-Vertonungen seit dem 17. Jh. „das Volk“ mit eindrucksvollen turbae-Chören vertreten: Choräle, die der Gemeinde als Kirchenlieder melodisch vertraut sind, deuten ihr das Erzählte aus. Der Eingangschor „Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist“ stellt Jesus als Sohn Gottes vor, der auch im Leiden vollmächtig Handelnder ist. Dennoch ist die  „Verherrlichung“ in johanneischer Theologie nicht offenkundiger Triumph, sondern offenbart sich „zu aller Zeit, auch in der größten Niedrigkeit“.

Zur Erzählung (samt kurzen Passagen aus Mt 26-27) tritt die Sicht der handelnden Personen und zielt auf die Aneignung durch die Gemeinde. Dasselbe tut auch die Feier des jüdischen Pesach, wenn der Hausvater die Anwesenden belehrt, sich mit ihren aus Ägypten befreiten Vorfahren zu identifizieren. Alle dafür verwendeten biblischen Texte „beginnen bei der Schande und enden beim Ruhm“ (Mischna Pesachim 10,4). Pesach – und Ostern – zu feiern heißt, sich von der Dynamik der Erlösung erfassen zu lassen, im Durchgang von der Knechtschaft in die Freiheit, vom Tod ins Leben.

Sündenfolgen und Nachfolge in Stichwortverknüpfungen

Ein bewegtes und bewegendes Geschehen also: es hat eine Ursache und zeitigt Folgen. Entsprechende Motive reichen Solisten und Chor durch Stichworte aneinander weiter: So bemerkt der Tenor „Simon Petrus aber folgete Jesu nach und ein ander Jünger.“, worauf die Sopran-Arie eifrig bekundet: „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten und lasse dich nicht, mein Leben, mein Licht.“ – um sich dann, bescheidener, dem eigentlichen Urheber des Glaubens anzuvertrauen: „Befördre den Lauf und höre nicht auf, selbst an mir zu ziehen, zu schieben, zu bitten.“

Die Urheberschaft des „Übels“ hingegen wurzelt in der Diskrepanz zwischen den Worten und Taten des Gottessohnes und denen der Menschen: „Hab ich übel geredt, so beweise es, daß es böse sei, hab ich aber recht geredt, was schlägest du mich?“ fragt Jesus, und der Chor setzt nach „Wer hat dich so geschlagen, mein Heil, und dich mit Plagen so übel zugericht’, du bist ja nicht ein Sünder wie wir und unsre Kinder, von Missetaten weißt du nicht.“

Antijudaismus?

Doch haben nicht „die Juden“ (mit Hilfe der Römer) den Tod Jesu „verschuldet“? Der falsche und fatale christliche Antijudaismus hätte freilich weder in der Karfreitagsliturgie noch in der Johannes-Passion einen Anhaltspunkt gefunden. Vielmehr hält, was der biblische Text „historisch“ wiedergibt, allen Gläubigen den Spiegel vor: „Ich, ich und meine Sünden … die haben dir erreget das Elend, das dich schläget.“ Zudem gibt es bei Bach keine „typische“ Rollenzuteilung, sondern jede Stimme singt mehrere Rollen, ist also Jesus, Judas, Pilatus etc. Im Singen und im Hören findet diese Identifikation statt, die zur Selbsterkenntnis führt: Ich verrate, ich verleugne, ich lasse mich verhetzen und ich verurteile den Gerechten.

Was dennoch geschehen ist, erweckt bis heute (un)gläubiges Staunen: „Mein teurer Heiland, laß dich fragen, da du nunmehr ans Kreuz geschlagen und selbst gesagt, es ist vollbracht, bin ich vom Sterben frei gemacht, kann ich durch deine Pein und Sterben das Himmelreich ererben. Ist aller Welt Erlösung da?“


Erstveröffentlichung: magazin Klassik No.8/Frühling 2018, 33-35.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert