Covid-19 und Triage: eine (nicht nur) medizinethische Herausforderung

Beitrag von Prof. Dr. Martin M. Lintner OSM

Der Begriff „Triage“ war bis vor kurzem nur Insidern bekannt. Nun stehen plötzlich in immer mehr Ländern Ärztinnen und Ärzte vor der Entscheidung: Wer bekommt das Beatmungsgerät – und wer nicht? Wer bekommt ein Bett auf der Intensivstation – und wer nicht? Kaum jemand hätte sich noch vor wenigen Wochen vorstellen können, dass in unseren Breitengraden Triage eine notwendige Maßnahme sein würde, wie sie während der Covid-19-Krise in vielen Regionen in Oberitalien, im Elsass und anderswo konkret praktiziert wird. Eine Reflexion über medizinethische und terminologische Herausforderungen einer Notfallmaßnahme, deren Begriff ursprünglich aus der Kriegsmedizin stammt.

Triage bezeichnet die Prozedur, in Situationen mit einem unerwartet hohen Aufkommen von PatientInnen bei gleichzeitig begrenzten medizinischen Ressourcen, die eine angemessene Behandlung aller PatientInnen nicht möglich machen, die Ressourcen so zuzuteilen, dass möglichst effizient möglichst vielen PatientInnen geholfen werden kann. Es geht also darum, die Kriterien der Verteilung der medizinischen Ressourcen den veränderten Bedingungen einer Not- und Ausnahmesituation anzupassen, d.h. um Priorisierung und Rationierung medizinischer Leistungen mit dem Ziel der Effizienzmaximierung durch die Entscheidung, wer vorrangig intensivmedizinisch versorgt und wer nachrangig behandelt werden soll.

Der Begriff selbst stammt vom französischen trier (sortieren, einteilen) und etablierte sich ursprünglich im Kontext der Militär-, später auch der Katastrophenmedizin. Es ging konkret um die Notwendigkeit der Einteilung von verwundeten Soldaten bzw. Opfern, wem zuerst geholfen werden sollte, und zwar noch bevor eine sorgfältige Diagnose von Art und Schwere der Verletzungen möglich war. Mittlerweile hat sich der Begriff jedoch in der Medizin allgemein im oben genannten Sinn etabliert, auch wenn die Bedingungen, unter denen Triage beispielsweise im Kontext der Covid-19-Krise stattfindet, sich von jener einer Kriegs- oder akuten Katastrophensituation unterscheiden. Die Covid-19-Krise stellt keine Kriegssituation dar (siehe dazu die Ausführungen weiter unten) und ist auch nur bedingt mit einer akuten Katastrophenlage vergleichbar, da die derzeitige Entwicklung zumindest seit mehreren Wochen absehbar war und deshalb vorbereitende Maßnahmen mit dem Ziel, für die nahe Zukunft Triage-Situationen nach Möglichkeit weitgehend zu vermeiden, möglich waren bzw. sind.

Maßnahmen, um Triage-Situationen weitgehend zu vermeiden

Dringlich ist deshalb, dass unverzüglich alle Anstrengungen unternommen werden, um die medizinischen Kapazitäten zu erhöhen. Dabei geht es nicht nur um die Zurverfügungstellung von Ressourcen im intensivmedizinischen Bereich, sondern auch um die möglichst umsichtige und sparsame Verwendung von medizinischen Ressourcen außerhalb des intensivmedizinischen Bereichs, um sie im Notfall für die Behandlung von Covid-19-Patienten einsetzen zu können.

Schutz der Ärztinnen, Ärzte und des Krankenhauspersonals

Wichtig ist ebenso, dass alle im Gesundheitswesen arbeitenden Personen, besonders jene, die mit PatientInnen in unmittelbaren Kontakt kommen – wie ÄrztInnen, Pflegende, Triage-Teams –, bestmöglich vor einer Infektion geschützt werden durch Schutzausrüstung etc., und zwar sowohl aus persönlichen Gründen, d.h. zum Schutz ihrer eigenen Gesundheit, als auch aus systemischen Gründen, d.h. zur Gewährleistung einer auch in der Krisenzeit weiterhin funktionierenden Versorgung der Kranken.

Einhalten von behördlichen Maßnahmen als Pflicht der Bürgerinnen und Bürger

Aus immunologischer Sicht sind Maßnahmen dringlich, um die Infektionskette am effektivsten zu unterbrechen. Dazu gehören idealerweise Massentests. Infizierte sollten nicht erst dann identifiziert und isoliert werden, wenn sie Erkrankungssymptome entwickeln, sondern bereits früher, bzw. – was noch wichtiger wäre – sollten besonders asymptomatisch Infizierte identifiziert und isoliert werden. Ebenso ist jeder einzelne Bürger in seiner persönlichen Verantwortung gefordert, Maßnahmen zur Infektionsvermeidung wie Hygiene, Einhaltung von physischer Distanz usw. konsequent zu befolgen.

Kriterien klar definieren und transparent kommunizieren

Für den Fall, dass Triage unausweichlich wird, muss sie anhand von klar definierten Kriterien erfolgen und darf nicht im persönlichen Ermessen der Ärzte bzw. des Teams liegen, die unmittelbar die Triage durchführen. Dadurch sowie durch die Befolgung des Mehraugen-Prinzips (d.h., dass Entscheidungen von einem Triage-Team getroffen werden, nach Möglichkeit bestehend aus wenigstens zwei Intensivmedizinern und einer Pflegeperson, gegebenenfalls aus weiterem Fachpersonal) soll diesen Personen auch ein wesentlicher Teil der persönlichen Last ihrer Entscheidungen abgenommen werden. Die Kriterien müssen offengelegt und transparent kommuniziert sowie diskutiert werden, um einerseits einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens zu erzielen und andererseits den (potentiellen) PatientInnen und ihren Angehörigen Sicherheit zu geben. Beide Aspekte sind notwendig, um das Vertrauen in das Gesundheitswesen zu gewährleisten, welches besonders auch in einer derartigen Ausnahmesituation nur als Solidarsystem funktionieren kann.

Es muss schließlich gewährleistet sein, dass im Falle einer unausweichlichen medizinischen Triage-Situation die grundlegenden medizinethischen und moralischen Aspekte beachtet und befolgt werden. Das bedeutet, dass weiterhin Maßnahmen in erster Linie anhand von medizinischen Kriterien unter Berücksichtigung des Willens und des aktuellen klinischen Zustands eines Patienten getroffen werden. Dabei sollen die gängigen, prognostisch relevanten Scores angewandt werden. Scores sind Punktwerte, die anhand von verschiedenen diagnostischen Parametern (z.B. Alter, Vorerkrankungen, Funktion von Organen, Laborwerte usw.) bestimmt werden, um den Zustand eines Patienten zu erfassen und ihn einer medizinischen Behandlungsgruppe zuzuordnen. In der Intensivmedizin dienen sie zudem der Erfolgs- und Risikoabschätzung.

Keine Diskriminierung bestimmter Alters- und Patientengruppen

In einer Triage-Situation spielt die klinische Erfassung von Komorbiditäten, d.h. von Vor- bzw. Begleiterkrankungen, und des klinischen Allgemeinzustands (im Sinne der klinischen Frailty) eine Rolle, insofern diese prognostisch relevant sind. In Bezug auf die Prognose und das Mortalitätsrisiko kann zudem das Alter eine Rolle spielen. Dabei halte ich es allerdings für essentiell, dass die Aspekte von Komorbiditäten, Frailty, Alter etc. nicht per se Ausschlusskriterien im Sinne einer generalisierten Effizienzmaximierung darstellen, sondern dass das Gerechtigkeitsprinzip sowie die möglichst individualisierte Erstellung einer Prognose ausschlaggebend bleiben.

Etwaige Ungleichbehandlungen müssen durch medizinische Kriterien wie Dringlichkeit und Erfolgsaussicht begründet werden. Nur für den Fall, dass es in Ausnahmesituationen aufgrund von Zeitdruck nicht möglich ist, bei mehreren zugleich eingelieferten Patienten diese wesentlichen Aspekte wie Dringlichkeit und Erfolgsaussicht von intensivmedizinischen Therapien, Überlebenschancen etc. angemessen zu überprüfen, scheint es mir ethisch legitimiert zu sein zu präsumieren, dass sich Komorbidität, Frailty oder ein höheres Alter ungünstig auf den therapeutischen Erfolg auswirken. Alles andere würde ich für einen „utilitaristischen Dammbruch“ in einem an der Würde und dem Wohl jedes einzelnen Patienten verpflichteten Gesundheitswesen halten. Wenn es außergewöhnliche Umstände nicht mehr erlauben, dem einzelnen Patienten die bestmögliche und erfolgversprechendste Therapie zukommen zu lassen, weil sowohl die therapeutischen Bedürfnisse der anderen Patienten wie auch das laufende Funktionieren des Gesundheitswesens insgesamt mit berücksichtigt bzw. gewährleistet werden müssen, soll deshalb grundsätzlich weiterhin nach dem Gerechtigkeitsprinzip gehandelt werden. Eine Diskriminierung bestimmter Alters- und Patientengruppen muss vermieden werden.

Wer bekommt eine Behandlung – und wer nicht?

Ein moralisches Dilemma im Falle von Triage kann die Frage darstellen, ob die intensivmedizinische Behandlung eines Patienten mit infauster Prognose abgebrochen werden darf, um einen anderen Patienten mit einer günstigeren Prognose zu behandeln. Unter den Bedingungen einer Triage erachte ich – wiederum im Sinne des Gerechtigkeitsprinzips – die Weiterführung einer intensivmedizinischen Behandlung eines Patienten mit infauster Prognose als besonders begründungspflichtig. Die Verhältnismäßigkeit der Fortführung einer intensivmedizinischen Behandlung ergibt sich in einem solchen Fall nicht nur auf der Basis einer aufmerksamen Evaluierung des therapeutischen Verlaufs und der medizinischen Indikation, sondern muss auch zu den medizinischen Bedürfnissen sowie günstigeren Prognosen anderer Patienten in Bezug gesetzt werden.

Achtsam mit der Sprache umgehen: Kriegsvokabular vermeiden

Abschließend möchte ich auf die Problematik der Kriegsbegrifflichkeit eingehen. Dabei geht es nicht nur um den Begriff der Triage, der ursprünglich – wie bereits aufgezeigt – in der Militärmedizin verwendet wurde. Es ist auffallend, dass in den Diskussionen und politischen Debatten vielerorts davon die Rede ist, dass wir uns „in einem Krieg befinden“, dass Ärzte und Pflegende „an vorderster Front stehen“, dass in Krankenhäusern „kriegsähnliche Zustände“ herrschen würden, dass zu treffende Maßnahmen als „Bazooka“ (Panzerfaust) gegen die Covid-19-Krise anzusehen seien etc. Ich teile die Befürchtung, die unter anderem Berlins Bürgermeister Michael Müller geäußert hat. Die Verwendung von „drastischem Kriegsvokabular“ kritisierte er als „leichtfertig, gefährlich und verantwortungslos“, da sie „zusätzlich und unnötig Ängste schüre“. Sie ist jedenfalls kaum hilfreich, dem Gefühl extremer Bedrohung und Hilflosigkeit, das viele Menschen derzeit empfinden, zu begegnen und ihnen Sicherheit zu vermitteln. Dieser Kritik ist hinzuzufügen, dass Kriegsrhetorik und Angst auch leicht manipulativ zur Legitimation dafür missbraucht werden können, Maßnahmen zu setzen und Verordnungen zu erlassen, die demokratische Grundrechte zumindest temporär einschränken oder außer Kraft setzen.

Demokratiepolitische Aspekte in Bezug auf die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19

Da Letzteres derzeit in vielen Ländern jedoch geschieht, ist meines Erachtens nicht nur sorgfältig auf die Sprache und ihre Wirkungen zu achten, sondern auch auf folgende Aspekte:

  • dass beim entsprechenden Procedere die rechtsstaatliche Ordnung penibel eingehalten, die Kompetenzen der jeweiligen Entscheidungsträger nicht überschritten, die rechtsstaatliche Gewaltenteilung geachtet und Demokratie gesichert wird – besonders auch unter Berücksichtigung von möglichen Folgewirkungen;
  • dass die Verhältnismäßigkeit zwischen allgemeiner Sicherheit und Schutz von Risikogruppen auf der einen und Einschränkung von Freiheitsrechten auf der anderen Seite gewahrt bleibt, um längerfristig weder die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Maßnahmen noch die Solidarität mit den besonders zu schützenden Risikogruppen zu gefährden;
  • dass mit transparenten, regelmäßigen und verlässlichen Informationen sowohl zu ergriffenen Maßnahmen wie auch zur politischen Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit Covid-19 einem Klima der Panikmache und Verunsicherung entgegengewirkt wird – auch als wirksame Maßnahme gegen die Verbreitung von Gerüchten, Halbwahrheiten und Fake News.

Martin M. Lintner, PTH Brixen


Erstveröffentlichung: https://www.feinschwarz.net/covid-19-und-triage-medizinethisch/

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