Interessante Zeiten. Theologische Splitter zu COVID-19

Warum es leichter ist, kirchliche COVID-19-Entscheidungen im Nachhinein zu kritisieren als sie zu fällen, warum es hilfreich wäre, das Ringen um Richtlinien transparent zu machen, und warum nach Corona vielleicht doch vieles wieder so sein wird wie zuvor.

„May you live in interesting times“ – So lautete das Motto der Biennale von Venedig 2019. Es handelt sich um ein chinesisches Sprichwort, dessen Herkunft nicht eindeutig belegt ist. Scheinbar ein Segen – wer will schon in uninteressanten Zeiten leben – ist es genau genommen ein Fluch. Jetzt haben wir weltweit mit COVID-19 sehr interessante Zeiten mit bislang unbekannten Herausforderungen für Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Religion usw. Und alle sehnen sich nach uninteressanten Zeiten – aber mehr nach „normaler“ als nach „neuer“ Normalität.

Aber wird es dieses „Alles-wieder-wie zuvor“ überhaupt geben? Oder haben jene recht, die meinen, dass nach Corona nichts mehr so sein wird wie davor?

Strafe Gottes oder Reset der Natur?

Eine Pandemie wie gegenwärtig Corona ist immer auch eine Herausforderung für die Religionen. Dass COVID-19 eine Strafe Gottes sei, ist nur aus der fundamentalistischen Ecke zu hören – Strafe für die Legalisierung homosexueller Ehen usw. Der pädagogische Ansatz, dass Gott uns durch diese Pandemie etwas sagen möchte, führt ebenfalls zu theologischen Problemen, weil COVID-19 letztlich als ein Instrument Gottes gedeutet wird. Das gilt auch für die Auffassung, dass Gott mit der Pandemie auf eine Reset-Taste für die Welt drücke. Wobei es aber auch die Natur selbst gewesen sein könnte, die die Taste gedrückt hat.

Die Stunde der Experten

Vor der gegenwärtigen Krise war Experten-Bashing in der Politik stark verbreitet und wissenschaftliche Expertise grundsätzlich verdächtig. Seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie sind wissenschaftliche Ergebnisse verschiedener Fachrichtungen selbstverständliche Grundlage politischer Entscheidungen. Und das ist sehr gut so.

Auch die Kirche musste rasch Maßnahmen treffen. Manche hatten dabei den Eindruck, dass die Kirchenleitung – wohl aufgrund der gegebenen Zeitknappheit? – ihre ureigenen ExpertInnen, die TheologInnen zu wenig einbezogen hat. Kardinal Christoph Schönborn ist zuzustimmen, wenn er sagt: „Seuchen haben einen natürlichen Ursprung und müssen mit medizinischem Sachverstand bekämpft werden.“ (Wiener Zeitung, 11.4.20) Aber der Fortsetzung: „Da kann die Theologie nicht mitreden …“ kann ich nicht zustimmen. Auf der Basis von z. B. virologischen Erkenntnissen trifft die Kirchenleitung notwendige Entscheidungen, die teilweise eminente theologische Implikationen haben. Virologen können im Kontext der Kirche keine exklusive Deutungshoheit haben. Gaudium et spes 4 fordert dazu auf, die „Zeichen der Zeit“ z. B. wissenschaftliche Erkenntnisse … „im Licht des Evangeliums zu deuten.“ Medizinischer Sachverstand und Theologie sind keine Gegensätze.

Entscheidungen und ihre Wahrnehmung

Zweifellos ist es absolut zu begrüßen, dass die Kirche Richtlinien auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse beschließt. Da Virologen, Juristen usw. in ihrer Beratung tendenziell auf „Nummer sicher“ setzen, und da die Dynamik der Pandemie nicht wirklich abschätzbar ist, fielen manche Entscheidungen eher vorsichtig aus. Das ist grundsätzlich verständlich. Für viele Gläubige entstand jedoch der Eindruck, dass hier relativ schmerzfrei wesentliches wie z. B. der Gemeindebezug des Gottesdienstes aufgegeben wurde, dass staatliche Vorgaben vorauseilend „übererfüllt“ wurden, dass sich „die Kirche“ hinter ihre sicheren Mauern zurückgezogen habe. Kirche wurde plötzlich zur Kleruskirche. Dass es in der Kirchenleitung ein Ringen um diese Entscheidungen gab, und die theologische Problematik der Regelungen bewusst war, ist anzunehmen. Aber das wurde nach außen nicht wirklich deutlich. Vorherrschend war der Eindruck der Schmerzfreiheit und des Bravseins. Für letzteres wurde die Kirche von der Regierung ja auch ausdrücklich gelobt.

Die Krise verschärft Ungleichheit

Die Corona-Krise trifft die Ärmeren härter als Reiche. Home-Office in geräumigen Wohnungen versus systemerhaltender Job mit Ansteckungsrisiko; Haus mit Garten/Terrasse versus dunkle 2-Zimmerwohnung; Eltern, die sich um die Hausaufgaben ihrer Kinder kümmern, versus Schüler und Schülerinnen, deren Kontakt zur Schule gänzlich verloren gegangen ist.

Die Arbeitslosigkeit betrifft weniger jene, die ins Home-Office ausweichen können, sondern überwiegend weniger qualifizierte Personen. Viele Menschen sind akut armutsgefährdet. Anfängliche Rufe nach Grundeinkommen, Schuldenerlass und weltweites Ende aller Kriege verhallten rasch. Werden die Heldinnen und Helden des Corona-Alltags wirklich nachhaltige, auch finanzielle Anerkennung erhalten, wie zuletzt von Bundeskanzler Kurz angedeutet?

Manche sehen mit der Corona-Krise das Ende der Globalisierung, der Massenmobilität und des Mythos (Wirtschafts-)Wachstums, Hoffnung im Kampf gegen den Klimawandel und eine Chance für den vom Neoliberalismus zerrütteten Sozialstaat. Aber vielleicht ist es der Finanzmarkt, der als erster gerettet wird, vielleicht setzt der Staat mehr auf (digitale) Kontrolle als auf Stärkung der Eigenverantwortung und der Zivilgesellschaft? Es ist zu befürchten, dass das Klima und die globale Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben.

Leibloser Glaube?

Das Virus stellt uns unsere reale Sterblichkeit vor Augen. Einsamkeit und Beziehungslosigkeit, gänzliches Fehlen von Zuwendung durch Körperkontakt und Zärtlichkeit sind Vorboten des Todes. Social distancing steht diametral gegen die christliche Grundüberzeugung, dass Gott Communio ist. Die Kirche als ganze, aber auch alle Sakramente haben eine physische, leiblich erfahrbare Komponente. Zurecht wird Kirche auch „Leib Christi“ genannt. Es ist ein erhebliches Problem für eine Glaubensgemeinschaft, wenn auf längere Zeit gerade diese physische Komponente nicht gelebt werden kann. In diesem Sinn betont auch Papst Franziskus, dass eine Gottesbeziehung ohne Kirche, ohne Gemeinschaft der Gläubigen und ohne Sakramente „gefährlich“ sei (vgl. Kathpress, 17.4.20).

Digitale Ferngesellschaft versus analoge Nahgesellschaft

Der österreichische Kunst- und Medientheoretiker Peter Weibel sieht in der gegenwärtigen Verlagerung der Kultur einen irreversiblen Schritt hin zur Digital-Tele-Ferngesellschaft der Zukunft. Für die Kirche ist das sicher kein Zukunftsmodell. Jenen, die sich von gestreamten Gottesdiensten begeistern ließen, stehen jene gegenüber, die auf die Hauskirche setzen und sich nicht digital abspeisen lassen wollen. Allerdings setzt Hauskirche ein gewisses Maß an Kenntnis von (biblischen) Texten und liturgischen Abläufen voraus, das aber nicht allgemein verbreitet ist. Digitale Ferngesellschaft versus analoge Nahgesellschaft: Werden die Menschen nach der Krise wieder ins Theater, ins Konzert, ins Kino gehen, oder sich weiter digital versorgen, wie sie es sich über Monate angewöhnt haben? Werden die Gläubigen wieder in die Kirche strömen, oder werden sie das eingeübte Social distancing gegenüber der Kirche aufrechterhalten? Legt es sich nicht wenigstens im Bereich der Erwachsenenbildung nahe, ganz auf e-Learning zu setzen? Ich bin davon überzeugt, dass digitales Lernen, also Fernbildung nur als Ergänzung zur Nahbildung sinnvoll ist. Zunächst gibt es immer noch (ältere) Personen ohne Internetzugang, die von dieser Lernform ausgeschlossen wären. Im Kern ist Bildung lebendige Auseinandersetzung face-to-face. Es kann sein, dass sich Angehörige der Risikogruppe oder Menschen, die um ihre Gesundheit besorgt sind, fürs erste nicht aus dem Haus wagen.

Seit ihrer Gründung war der Kursbetrieb der THEOLOGISCHEN KURSE nur in den letzten Kriegstagen 1945 für ein paar Wochen unterbrochen. Vermutlich dauert die jetzige Pause länger als die damalige. Und auch wenn unsere 80-Jahr-Feier Anfang Oktober coronabedingt beeinträchtigt sein sollte, wir lassen uns nicht beirren, zur Reflexion über die großen Fragen des Lebens und des Glaubens einzuladen: mehr wissen – tiefer fragen – klaren urteilen – sich bewusster engagieren. Ich bin davon überzeugt, dass Bildung, Nachfragen, Infragestellen und Lernen auch nach Corona stark gefragt sein wird.

Mag. Erhard Lesacher, Leiter der THEOLOGISCHEN KURSE


Erstveröffentlichung: https://theocare.wordpress.com/2020/05/08/interessante-zeiten-theologische-splitter-zu-corona-19-erhard-lesacher/

Eine Antwort auf „Interessante Zeiten. Theologische Splitter zu COVID-19“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert