Hinführung zur Dogmatik – Teil 2

Beitrag von Univ.-Prof. Dr. Dr.habil Hans-Joachim Sander, Universität Salzburg

[Dieser Text ist hier auch als PDF erhältlich: Hinführung zur Dogmatik-Teil2]

Liebe Studierende,

zunächst wie immer am Anfang die Tageslosung der Herrenhuter: Wandelt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Epheser 5,8-9

Wir hatten im ersten Teil einerseits die Herkunft des Diskurses bestimmt, den wir Dogmatik nennen – das frühe 16. Jhd. im Wechsel der Wissensform zu loci, also Fundstellen von Argbumenten –, dann eine Formel gesucht, wann Dogmatik gut ist und wann sie nicht funktioniert – der Gegensatz von Dogmatik zum Dogmatismus – und wir hatten auch schon den Schlüssel für dogmatische Fundstellen benannt – die Autorität im Gegenüber zur Macht. Dabei gibt es weitere Differenzierungen, die sich aus der Überwindung binärer Codierungen ergeben. Die Fundstellen, loci, gelten damals (als Frucht des humanistischen Denkens, Agricolas De inventione dialectica, also der Aussöhnung von Logik und Rhetorik) für alle Wissenschaften. Sie nötigen dazu, sowohl die loci theologici zu erfassen, in denen die Rede von Gott heimisch ist (also Bibel, Tradition, Kirchenväter, die Kirche selbst, die römische Kirche etc.), als auch jene Fundstellen auszumachen, denen sie nicht ausweichen kann, obwohl sie ihr fremd sind, ja, sie befremden – also die loci theologici alieni. In dieser Konzeption, die von Melchior Cano stammt, erschließen sich im 16. Jhd. bereits drei solche befremdliche Fundstellen: Vernunft, Philosophie (was heute den Wissenschaften allgemein entspricht) und schließlich die Geschichte (historia). Diese Fundstellen sind befremdlich, aber sie haben auctoritas.

Das verliert sich im Verlauf den Barock, als die Kontroverstheologie von Robert Bellarmin die Liste der Loci theologici – ohne das genau zu begründen, geschweige denn präzise auszuführen – im Grunde nur auf den einen locus theologicus reduziert, welche der Papst ist. Das führt zu einer Absetzung von den protestantischen theologien, aber zugleich – wegen den genauen Kenntnis der anderen, gegnerischen Position, die von der Kontroveerstheologie verlangt wird – führt es zu einer Übernahme der theologia dogmatica, die eben von den Protestanten gegen Ende des 16. Jhd. entwickelt wird. Ab dem 18. Jhd. wird daraus die zentrale Theologieform der katholischen Lehrposition, die dann im 19. Jhd. in der Unfehlbarkeitslehre des Ersten Vatikanischen Konzils 1870 kulminiert. Dabei geht es darum, dass der Papst die Aufgabe, also das Amt hat, in entscheidenden Kontroversen jene Lehre zu formulieren, welche sichtbar macht, was der Glaube sagt, dessen Wahrheit aber nicht vom Papst kommt, sondern von Gott (dem Heiligen Geist) garantiert wird. Es geht um Sichtbarkeit von Lerhpositionen. Daraus resultiert zugleich ein Problem – die Differenz von Macht und Autorität beginnt zu verschwimmen.

Dieses Verschwimmen ist bereits bei Augustinus zu finden, wie die Autoritätsstudien zu Augustinus deutlichen machen (vor allem Lütcke, Karl-Heinrich, ‚Auctoritas‘ bei Augustin. Mit einer Einleitung zur römischen Vorgeschichte des Begriffs (TBAW 44), Stuttgart u. a. 1968 – vergleichen Sie dazu die Literaturliste und Zitatdatei zu Autorität). Das resultiert aus der spätantiken Verunsicherung im lateinischen Westen des römischen Imperiums über die Grundkonstruktion der römischen Herrschaft, die eigentlich auf der binären Codierung von Machthabern, die jeweils als Kollegen gewählt wurde (Konsuln, Ädilen etc), und des Senates, der weder gewählt war noch abzuwählen war, sondern aufgrund von Geburt oder Ernennung auf Lebenszeit die auctoritas besaß. Sie bestand darin, dass vor allem die Konsuln bei allen ihren politischen Entscheidungen, die wichtig waren, sich von den Senatoren beraten lassen mussten. Es bestand also ein Zwang, das zu hören, was die Senatoren dazu zu sagen hatten, allerdings bestand kein Zwang, dem auch zu folgen. Es oblag allein der Macht der Konsuln, das zu tun, was sie für richtig hielten.

Diese Differenz von Macht und Autorität ist eine römische Erfinden. Sie war den alten Griechen unbekannt (weshalb Theologieformen, die dem Platonismus verplichtet sind wie jene des Augustinus, immer Schwierigkeiten mit einer solchen elementaren Differnen und einem unaufhebbaren Kontrast von zwei einander belagernden Polen von Durchsetzungspotenz, immer große Schwierigkeiten haben), aber sie hat einen elementaren Vorteil: Es wird eine Wechselwirkung von Sprache (= dem, was die Senatoren debattierten) und Aktion (= den Entscheidungen der Konsuln) erzeugt, die beide in eine Relativität zwingen, denen sie nicht ausweichen können.

Es war daher unendlich schwer, präzise sagen zu können, woraus Autorität besteht, sie also zu definieren. Man muss immer im Auge haben, dass Autorität sich dort einstellt, wo Menschen autorisiert werden, sich einer unausweichlichen Macht gegenüber (die sie belagert oder die ihnen Schwierigkeiten macht oder die sie in dieses oder jenes hinein lockt) so zu positionieren, dass sie begreifen und entdecken, wie sie sich verhalten sollen. Dogmen haben Autorität und die kirchlichen Lehren des Glaubens beanspruchen Autorität. Sie haben also keine Macht, sind aber im Gegenüber zur Macht entwickelt worden. Um welche Mächte es sich handelt, dazu dann gleich mehr. Auf jeden Fall besteht die Autorität der Lehre der Kirche darin, Menschen zu autorisieren, ihre jeweiligen Lebensfragen und –probleme mit Hilfe des Glaubens angehen und bestenfalls bewältigen zu können. Die Dogmatik ist dann die Wissensform dieses Autorisierungsvorgangs, aber zugleich natürlich eine prekäre theologische Wissensform der kirchlichen Lehre gegenüber, sofern und wo diese den unvermeidlichen und unausweichlichen Autorisierungsvorgang vermissen lässt.

Damit wende ich eine intensive Debatte um Autorität, die seit 150 Jahren geführt wird, auf die Dogmatik an. Diese Debatte stammt nicht aus der Theologie, wir können sie aber zweitverwerten. Es ist Theodor Mommsen (+ 1903) zu verdanken, sich intensiv um die genauere Bestimmung von Autorität bemüht zu haben. Es hat ihn fast verrückt gemacht, keine genaue Definition zu liefern. Mommsen war jener Althistoriker der sich auf die Verfassung der römischen Republik spezialisiert hat (und für seine Römische Geschichte 1902 den Literaturnobelpreis bekam). Es gelang ihm nur, präzise zu sagen, was Autorität nicht ist, obwohl sie leicht damit verwechselt werden kann: sie ist weniger als ein Befehl, aber mehr als ein Ratschlag (s. Textdatei Autorität). Die Grundsituation ist also: Menschen benötigen Rat und dafür kommen sie zu jenen, von denen sie erwarten, dass sie etwas zu sagen haben. Wenn die nun einen Ratschlag haben, der so gut ist, dass die Ratsuchenden gar nicht auf den Gedanken kommen, ihn nicht zu befolgen, dann ist Autorität entstanden (so die weiteren Analysen von Mommsens Gedanken bei Hannah Arendt). Daher erwarten wir bei erfahrenen Älteren (auch bei den Älteren in der eigenen Familie), bei Lehrerinnen und Lehrern, bei Spezialisten und bei besonders Kundigen so etwas wie Autorität (sagt Alexandre Kojève). Die müssen dann aber liefern – also etwas sagen, was die anderen auf ihre bedrängende Situation anwenden. Man kann sich nicht dem Ratschlag verweigern, also die Autorisierung von anderen ausschlagen, aber damit macht man sich zugleich angreifbar. Denn ein Ratschlag kann daneben gehen, falsch sein, das Problem nicht lösen. Die Dogmen der Kirche sind Ratschläge, den Glauben so oder so zu formulieren. Sie sind daher immer in der Gefahr, daneben zu liegen. Daher sind sie, wie Karl Rahner das einmal sagte, nach vorn hin offen – sie müssen sich in der Geschichte bewähren oder es wird Zeit, ihre Aussagen zu verändern. Aber wer Angst davor hat, zu scheitern, kann keine Autorität aufbauen. Und wer Autorität hat, muss ständig sich daraufhin konfrontieren lassen, ob sie überhaupt noch vorhanden ist, also andere autorisieren kann.

Autorität ist also ein Geschichtsvorgang, die im Gegenüber zu Konstellationen deer Macht entwickelt und überhaupt erst gefunden wird. In der Dogmatik wird die Autorisierung der Gläubigen durch einen Glauben, der als glaubwürdig erfahren wird, beobachtet und daraufhin befragt, ob er sich einstellt oder daneben geht. Dort, wo er daneben geht, wird die Dogmatik also unweigerlich kritisch gegenüber Lehren, die beanspruchen, etwas zu sagen zu haben. Das ist unausweichlich. Wo Lehre daneben geht, lockt auch immer der Dogmatismus, also die Machtbeanspruchung – aber damit ist die Lehre bereits am Ende und hat ihre Untauglichkeit belegt.

Was sind nun die Mächte, denen gegenüber der Glauben so etwas wie ein Ratschlag ist, dem nicht zu befolgen denen nicht in den Sinn kommt, denen er gegeben wird, weil dieser Ratschlag eben so gut ist, dass ihm Wahrheit zugesagt wird. Es sind im wesentlichen drei: der Tod, die Sprachlosigkeit und der falsche Glaube. Der christliche Glaube muss damit zruechtkommen, dass die zentrale Figur ihrer Aussagen schmählich am Kreuz gestorben ist, und dass die Gläubigen, die an ihn glauben, von diesem Erlöser am Kreuz nicht vor dem eigenen Tod bewahrt werden können. Der Tod ist eine Macht, die für keine Glaubensaussagen zu vermeiden ist (wem sage ich das in Corona-Zeiten). Dieser Macht gegenüber, die er nicht auslöschen kann, muss er sich bewähren, indem er Menschen autorisiert, mit dieser Macht so zu leben, dass sie über sie hinaus leben können. Das gilt für den Tod am Kreuz des Jesus wie für den eigenen Tod, aber es gilt auch für die Versuchung, mit der Macht des Todes andere zu bedrängen oder gar zu vernichten.

Die zweite Macht ist die Sprachlosigkeit. Ganz entscheidende Aussagen des Glaubens können nicht genau ausgesagt werden, weil die Daten dafür nicht zur Verfügung stehen (= das bleibende Geheimnis, wie es Rahner nannte). Hier ist vor allem die Auferstehung zu nennen. Wir wissen nicht, wie sie stattgefunden hat, was dabei tatsächlich geschehen ist – ja, wir haben noch nicht einmal den Auferstandenen als Erscheinung zur Verfügung (wegen der Himmelfahrt, also der Jobgarantie der Profi-Theolog*innen …). Eine zentrale Aussage des Glaubens lässt sich nicht zu einem präzisen Faktenmaterial überführen. Hier herrscht Sprachlosigkeit (die biblisch in extenso durchgespielt wird). Diese ist eine Macht, der gegenüber Glaubenslehren die Gläubigen autorisieren, sie einerseits zu erfassen und zu bekennen, sich aber andererseits davon nicht knechten zu lassen. Wir erwarten deshalb die Auferstehung der Toten – das ist ein solche rRatschlage, von dem sich in jedem gläubigen Leben zeigen muss, ob er sich bewährt oder nicht.

Die dritte Macht sit der falsche Glaube, also eine Darstellung von Gott und der Welt, die so falsch ist, dass es gefährlich ist, sich auf sie einzulassen oder sie gar umzusetzen. Der falsche Glaube ist der Normalfall dessen, wie Menschen glauben. Wer glaubt, in der Corona-Krise könnte es jüngere Menschen nicht erwischen, lebt sehr gefährlich. Und wer meint, der Karneval in Après-Ski-Bars, hätte ncihts mit der Verbreitung des Virus zu tun, ist einen ziemlich dummen, aber auch sehr gefährlichen Glauben verfallen. Das ist eine aktuelle falsche Glaube. Sie gibt es zu Hauf – vor allem in der Glaubensgeschichte von Religionsgemeinschaften. Daher ist der falsche Glaube eine Macht, der gegenüber sich die Lehre des Glaubens nicht nicht positionieren kann. In der Tradition heißt das Häresie. Das ist nicht der unkirchliche Glaube, sondern ein Glaube, der zu einer bestimmten Zeit in der Kirche geradezu als selbstverständlich galt, auf dessen Falschheit man dann aber irgendwie gestoßen und die deshalb dazu nötigt, das endgültig zu klären (meistens in Konzilien). Die Auseinandersetzung mit dem falschen Glauben ist eine Autorisierungsvorgang, sich nicht auf diesen einzulassen. Das ist eine besondere Aufgabe der Dogmatik.

Einen solchen Autorisierungsvorgang schauen wir uns nun in einem Lehrfortschritt genauer an:

Der dogmatische Fortschritt in der zweiten Kirchenkonstitution des Zweiten Vaticanum, Gaudium et spes – eine Geschichte der katholischen Selbstrelativierung

Die Pastoralkonstitution öffnet eine neue Epoche der Geschichte der katholischen Kirche und ein neues Niveau ihrer Lehrfähigkeit. Eine Weltkirche wird eröffnet, deren Glauben strikt geistesgegenwärtig ist. Nach fünfzig Jahre ist dieses Lehrformat, ‚Pastoral‘ genannt, für das Papsttum leitend geworden, das diese Form von Kirche ja global sichtbar macht. Sie wird von Papst Franziskus nach außen, aber auch nach innen auf die Kirche selbst hin vertreten, was bei Johannes Paul II noch fehlte.

Mit dieser Wechselseitigkeit tastet Gaudium et spes den Habitus einer ständigen Selbstbestätigung des Katholischen an und stellt sich dem, was aus dem Glauben wird, wenn er durch „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1) dekliniert wird. Das bringt kirchliche Zumutungen eines Außen mit sich, die prekär, befremdlich und zunächst überfordernd ist. Dieser Wechselwirkung kann man in der Textgeschichte von Gaudium et spes unter den Gesichtspunkten von Religion, Glauben und Spiritualität auf die Spur kommen. In jeder der drei Hinsichten betritt die pastoral konstituierte Lehre Neuland, das damals unerhört war und stellenweise bis heute weiß auf den Weltkarten der Kirche geblieben ist. Die Widerstände dagegen gehören aber zum Problem, unter dem der katholische Glauben gelitten hatte, wofür das Konzil durchgeführt und mit GS eine Grammatik für mögliche Lösungen gefunden wurde. Das Problem ist die Selbstabschließung dieses Glaubens im Modus der Kirche.

Sie hatte ihre jahrhundertelange Identifizierung als societas perfecta bestimmt, die beim Ersten Vaticanum im Unfehlbarkeitsdogma kulminiert. Es galt danach lange als Rückversicherung, dass die Kirche wirklich alles, was für ihre Existenz nötig ist, allein aus sich heraus zur Verfügung hat, wie Leo XIII 1893 die societas perfecta umschrieb. Die Selbstabschließung wird von vielen Konzilsdokumenten aufgebrochen, während in der Pastoralkonstitution die Grammatik dafür erarbeitet wird. Das betraf zunächst Religion.

Von der wahren Religion zur relativierten Religiosität – der Ursprung des Textes

Die societas perfecta suchte stets die Nähe zum Staat, weil sie selbst nichts anderes bedeutet als Staat. Sie beanspruchte in Dingen, die das Seelenheil von Menschen anbelangt, Entscheidungsbefugnis oder wenigstens sie privilegierende Konkordate.

Die erste Phase der Textgeschichte ist von dieser sog. potestas indirecta bestimmt; die kurial angeführte Konzilsminorität wollte damit eindämmen, was Kardinal Suenens im Dezember 1962 zum Konzilsprogramm ausbaute. Die Kirche solle sich selbst zum Problem nehmen und sich ad intra und ad extra betrachten. Die Leitungsorgane des Konzil hatten im Januar 1963 entschieden, deshalb zwei Lehrtexte über die Kirche zu verfassen, einen nach innen – später Lumen gentium – und einen nach außen – eben Gaudium et spes. Jene Rede und diese Entscheidung sind der Ursprung von Gaudium et spes. Er liegt unzweideutig im Konzil.

Diese Selbstproblematisierung bricht mit der Selbstidentifizierung, zwar dem Staat sagen zu können, wozu er da ist, aber sich selbst anderen nicht erklären zu müssen. Die wahre Religion steht über dem heilsbedürftigen Staat, wenn es ums Ganze von Moral und Heil geht. Sie führt Kontroversen, die anderen Schwächen nachweisen, aber die eigenen Stärken herausstellen. Aber es darf kein Gedanke an die eigenen Defizite, Fehler, Schuld verloren werden; diese gehen lediglich von fehlbaren Personen aus. Deshalb sollte wenigstens die Kirchenposition ad extra mit vorkonziliar formulierten Texten über die richtige moralische Ordnung festgelegt werden. Das scheiterte trotz Nachbesserung endgültig an der Koordinierungskommission Anfang Juli 1963, wo Kardinal Suenens argumentiert, der erstellte Text über ‚die effektive Präsenz der Kirche in der Welt‘ sei nicht pastoral genug. Man benötige eine Sicht, die auf Augenhöhe mit der heutigen Welt argumentiere und von der Evangelisierung ausgehe. Er wurde daraufhin beauftragt, selbst einen Text zu erarbeiten.

Damit hatte sich die vera religio kirchlich erledigt. Die kirchliche Religionsgemeinschaft muss sich in Wechselwirkung zu den heutigen Menschen positionieren. Sie kann nicht erwarten, dass Menschen sich ihrer Beanspruchung von Wahrheit einfach unterwerfen. Die Frage war nun allerdings, wie die Kirche das erreicht. Suenens‘ Vorschlag, auf Evangelisierung zu setzen, bringt statt Religion nun Glauben ins Spiel, der nach Gemeinschaft mit allen Menschen strebt.

Vom festen Glauben zur liquiden Gläubigkeit – die Herkunft von Gaudium et spes

Suenens versammelte eine Crème de la crème der katholischen Theologie (u.a. Congar und Rahner) in Mecheln, die im September 1963 ein Text über die ‚aktive Präsenz der Kirche in einer aufzubauenden Welt‘ zusammenstellte. Die Zeitgenossen galten als Hörer des Wortes des Evangeliums, ohne selbst Akteure dieser Präsenz gegenüber der Kirche zu sein.

Deshalb folgte der Text einer informellen Absprache der streitenden Konzilsfraktionen vom Himmelsfahrtstag 1963 für den Kirchentext nach außen. Die kirchliche Präsenz der Kirche in der Welt sollte dogmatisch valide ausgesagt werden, ohne ins Detail zu gehen. Die relevanten Einzelfragen des heutigen Lebens, also die Relativität der Geschichte, sollten dagegen in dogmatisch nicht aussagekräftigen Anhangkapiteln instruktiv behandelt werden.

Der Mechelner Text scheiterte in der zuständigen Gemischten Kommission am Einwurf von Kardinal Ottaviani, er sei nicht konkret genug. Suenens und Ottaviani hatten sich damit wechselseitig blockiert; es drohte totales Scheitern. Andere übernahmen  und setzten ein Redaktionskommittee durch, das einen ganz neuen Text an Pacem in terris von Johannes XXIII entlang erstellen sollte. Bei seiner ersten Sitzung wird der spätere Eröffnungssatz – aber noch in der Reihung ‚Freude und Trauer, Hoffnung und Angst‘ – gefunden und ein Soziologe beauftragt, einen Basistext auf Französisch zu schreiben. Der lag im Februar 1964 in Zürich vor, wo auch intensive Gespräche mit Lukas Vischer von Faith and Order eingingen; GS ist der am meisten ökumenisch erarbeitete Konzilstext. Der Züricher Text wird Grundlage für die Konzilsvorlage im Herbst 1964, der Anhangkapitel über Ehe, Wirtschaft, Politik, Internationales nachfolgten, die ausdrücklich vermerkten, sie seien vom Konzil nicht zu debattieren.

Nun schlug die Stunde der Traditionalisten. Erzbischof Lefebvre hatte schwere Häresien in den sog. Adnexa ausgemacht – etwa, Ehe sei durch Liebe der Partner konstituiert – und fragte beim Konzilssekretär Felici nach, welche Autorität diese hätten. Der sagte daraufhin sofort vor dem versammelten Konzil, die Anhänge seien lediglich privater Natur. Dagegen verwahrte sich empört der Kopräsident der Gemischten Kommission, Kardinal Cento; Texte, den er unterschrieben hatte, konnten nicht bloß eine private Äußerung sein, auch wenn sie nur angehängt sind. Der Kampf tobte zwei Wochen hinter den Kulissen zwischen Felici und den Moderatoren, Cento und seinem Ko-Vorsitzenden Ottaviani. Am Ende hatte sich Cento durchgesetzt. Aber schon von den Debatten in der Aula stand fest, dass dieses Schema XIII ganz neu zu schreiben war, um die künstliche Trennung zwischen Dogmatischem und Lebensfragen aufzuheben. Allerdings gab es damals dafür keine theologisch praktikable Methode. Bischof Glorieux, Mitarbeiter von Cento, schlug vor, sich an den drei Schritten Evangelisierungsmethode der christlichen Arbeiterjugend (JOC) sehen-urteilen-handeln zu orientieren. Hauptmann, ein französischer Theologe und Journalist, schreibt den Text, der dann bei einem großen Redaktionstreffen aller Kommissionen, die zuvor auf das Dogmatische und die Einzelfragen aufgeteilt waren, im Februar 1965 in Ariccia in großer Einmütigkeit eine präsentable Fassung erhielt. Allerdings hatte dort der Krakauer Erzbischof erreicht, die Sache der Zeichen der Zeit herauszunehmen, weil sie als zu unwägbar galten. Nach Protesten der Unterkommission, die dafür zuständig gewesen war, nahm Philips, rechte Hand von Suenens, der in der Konzilsleitung immer noch für den Text Kirche nach außen zuständig war, das wieder auf und manövrierte durch die Gremien einen Text, der die erstellte Analyse der Zeichen der Zeit als ‚einführende Vorbemerkung‘ aufführte. Sehen-urteilen-handeln war nun Gliederungsprinzip des Schemas.

Aber jetzt kam es zu einem Riss innerhalb der Konzilsmajorität. Vor der vierten Sessio wehrten sich besonders die Deutschen gegen diesen sehr von der französischsprachigen Theologie geprägten Text. Den westdeutschen Bischöfen war er zu optimistisch; ihre Theologen beanstanden zu wenig Kreuzestheologie (so Ratzinger), zu ignorant über den ökonomischen Ordo (Nell-Breuning) und zu viel freiheitseinschränkende Konkretion in Einzelfragen (so Rahner). Man solle besser auf diesen Text verzichten. Im Fokus des Disputes rückt die Spiritualität, wie Kirche sich geistesgegenwärtig von anderen her verstehen kann.

Glauben an die Stärken der anderen und zur Umkehr von eigenen Schwächen – Gaudium et spes als spirituelle Selbstrelativierung

Die deutsche Distanzierung weckte Widerspruch bei italienischen und frankophonen Bischöfen. Sie schickten Marie-Dominique Chenu vor, der das ausgeteilte Schema bei einer Hintergrundkonferenz der Niederländer hart kritisierte, sich nur unzulänglich von den Zeichen der Zeit her zu begreifen. Chenu plädierte damit für eine Verbindung von Soziologie und Theologie statt der präferierten von Theologie und Anthropologie. Das fand viel Zuspruch und die französischen Bischöfe handelten mit den Deutschen aus, ihre Kritik in den Kommissionsdebatten einzubringen, aber den Text selbst insgesamt zu vertreten. So kam es, weshalb die einführende Vorbemerkung nun eine deutliche Markierung der damals gegenwärtigen Probleme (angesichts Ratzingers Kritik) und die Schlussbemerkung die notwendige Offenheit (angesichts Rahners Kritik) betonte. Ratzinger hat seine Position zu Gaudium et spes nicht mehr verändert, Rahner ist umgeschwenkt und sah darin schließlich den ‚Anfang eines Anfangs‘ – der auch seine existentiell markierte Theologie überschreitet.

Damit war eine gefährliche Klippe umschifft, weil zugleich die Konzilsminorität versuchte, die Autorität des Textes strategisch zu relativieren und in den umstrittenen Themen Kommunismus und Atomwaffen zu unterminieren. Es ging besonders um seine Qualifizierung. Statt ‚constitutio‘ sollte etwas dogmatisch minderes am Ende darauf stehen. ‚Brief‘, ‚Botschaft‘, ‚Instruktion‘ waren im Angebot, aber sie schafften es nur zu weniger als einem Viertel von Stimmen bei einer ausdrücklichen Abstimmung. Um diese Minderheitsvoten weiter zu reduzieren, schlug der Krakauer Erzbischof vor, eine Fußnote zum Titel ‚pastorale Konstitution‘ zu erarbeiten. Sie ist mit * markiert und betont die Wechselwirkung vom dogmatischem und pastoralem Moment. Was Menschen zu tiefst angeht und ihr Lebensregime betrifft, also das Pastorale, hat lehrmäßige Qualität, weshalb nun Lehre auch jeweils neu justiert werden muss. Die Qualifizierung Pastorale Konstitution und die daran hängende Lokalisierung des Glaubens unter den jeweiligen Zeitgenossen wurden am Ende so vom Konzil verabschiedet.

Das bedeutet aber: Die jeweils nötige Konkretion kann dieser Text gar nicht vorwegnehmen, weil die Zeiten sich ändern. Sie kann die Kirche auch nicht vorgeben, weil sie jeweils mit Überraschungen rechnen muss; ihre Glaubensbestimmung müht sich jeweils um den richtigen Ort im heutigen Leben. Mit Gaudium et spes  – und weiteren Konzilstexten wie NA, DH, aber auch LG (besonders LG 1) relativiert die Kirche sich selbst zu Gunsten der heutigen Menschen. Glauben wird nicht einfach vorgegeben, sondern ist aufgegeben. Deshalb wird sogar die Feindschaft ihrer Gegner wichtig und hilfreich; denn dafür muss es Gründe geben (GS 44 und 92). Deshalb sind die Zeichen der Zeit von der Gegenwart Gottes bestimmt, um die sich Katholiken selbst mühen müssen (so GS 11).

Diese Geisteshaltung wird mit der Nr. 92 bestimmt: „Die Sehnsucht nach einem solchen Gespräch, die allein von der Liebe zur Wahrheit geleitet wird, schließt - freilich unter Wahrung der angemessenen Klugheit - von unserer Seite niemanden aus“. Wer sich mit anderen konfrontiert, handelt pastoral. Wer pastoral handelt, sieht zunächst auf das, was für sie spricht. Dann geschieht zweierlei: Gott wird in den anderen erfassbar; sie sind loci theologici alieni. Und zweitens legen Stärken die eigenen Schwächen frei. Aber so wird entdeckt, worin man sich selbst ändern muss. Das geschieht konkret an Orten, an denen sichtbar wird, was im Argen lieg und Not tut, aber auch an Orten, an denen etwas geschieht, was alle Menschen weiterbringt. Das fällt nicht leicht, weil sie Utopien auflösen und  befremdlich sind. Aber in solche Heterotopien reicht die Gegenwart Gottes hinein.

Durch diese Lehrentwicklung ändert sich die Grammatik der Dogmatik speziell und der katholischen Theologie generell. Die anderen, die loci alieni, die heterotopen Zeichen der Zeit  werden zu Fundstellen, deren Autorität nicht auszuweichen ist. Daher kommt in der Dogmatik einiges an ein definitives Ende, während anderes sich als neue Räume des Glaubens erschließen. Die katholische Dogmatik ist entsprechend von diversen Erfahrungen eines ‚Nachher’ geprägt. Für sie geht es darum, ob es überhaupt, und wenn ja, wie es für ihr Projekt weiter gehen kann. Das fällt nicht gerade leicht, weil die selbstverständlichen Orientierungen früherer Aufbrüche an ihr Ende gekommen sind. Diese Aufbrüche haben der systematischen Theologie einst Kraft gegeben. Sie ließen eine helle Zukunft erwarten, weil sie mit neuen thematischen Terrains verbunden waren. Damals konnte man auf eine breitere Beachtung der ureigenen Anliegen investieren und auf die gesicherte Existenz von Sinngebungen vertrauen. Was man durch sie zu sagen konnte, galt für die eine breitere Hörerschaft als tauglich. Aber diese Erwartungen sind mit der Kirchenkrise und Glaubensverdunstung, die über die Dogmatik hinaus zu verzeichnen ist, dahin geschmolzen. Heute fragt sich mehr und mehr, ob man nicht eher um die dogmatische Zukunft fürchten muss als sich voller Hoffnung an sie heran zu wagen. Zudem sind die universitären Situationen des Faches prekär geworden und das ist mehr als nur das Spezialproblem von rechtlich privilegierten Fakultäten, die beständig an Hörerinnen und Hörern schmäler werden. Die Zeiten sind grau geworden, und man kann sich schon ernsthaft fragen, ob von der katholischen Dogmatik derzeit mehr als graue Selbstdarstellungen zu erwarten sind. Aber wer sich selbst grau macht, muss sich in einer bunt gewürfelten Welt nicht wundern, dass er oder sie dann nicht mehr ernst genommen wird.

In solchen Situationen liegen Rückbesinnungen nahe, immerhin steht im Konzert der theologischen Disziplinen besonders die Dogmatik für eine alte und auch altbewährte Tradition ein. Aber ein Zurück in die Dogmatik vor den früheren Aufbrüchen verspricht noch weniger Gutes, weil allein schon deren dogmatistische Sprache nur mehr für das Glaubensghetto einer sowieso immer schon überzeugten Schar bürgen kann. Zwar wird auch diese Schar kleiner, aber nach der Grammatik dieser Sprache ist das eher eine Bestätigung, als dass es kritisch bemerkt werden müsste. Selbstgefällige Selbstbestätigungen taugen für die Lehre des katholischen Glaubens jedoch schlichtweg nicht; sie hat einen universalen Anspruch über den Kreis der bereits Überzeugten hinaus und lebt von dem festen Glauben, allen etwas sagen zu können, was die jeweilige humane Situation zum Besseren verändert. Es geht ja schließlich um nichts Geringeres als um eine universale Heilsbotschaft. Wenn dieses Heil schon nicht mehr im inneren theologischen Zentrum glaubhaft und diskurswürdig vertreten würde, wie sollte es dann zu einer Sprache finden, die im Zeichen der jeweiligen Zeit bestehen und entsprechend für allgemein überzeugende Wahrheiten des christlichen Glaubens bürgen kann?

Für die Dogmatik kommen also weder der disziplinäre Katzenjammer über das Kunterbunt der schwieriger gewordene Zeiten noch der intellektuelle Masochismus eines Kleine-Herde-Syndroms in Frage. Es gibt durchaus Alternativen. Sie kommen ausgerechnet dann in den Blick, wenn nicht verschwiegen wird, in welcher Weise man sich im Zustand eines Nachher befindet. Das erste Nachher betrifft die Methode.

Nach dem Auslaufen der Hermeneutik – das Methodenproblem

Angesichts einer Dogmatik, die sich bis zur Mitte des 20. Jhd. auf eine Philosophie der Vorzeit beschränkte und gegen jegliche systematische Verbindung von Dogma und Geschichte verwahrte, war der Schritt in die Hermeneutik der Texte der Tradition eine geistige Befreiung. Er löste eine rege Aufbruchstimmung aus und brachte eine überzeugende Reihe von Ergebnissen. Ohne Dogmengeschichte lässt sich nicht mehr ausmachen, was in den Texten und Entscheidungen mit hoher dogmatischer Autorität überhaupt gesagt werden soll. Um an die Realität des Gesagten heranzukommen, ist der Schritt in den Sinn des Ausgesagten notwendig. Es war Neuland, primär diesen Sinn zu erheben, um den Glauben darzustellen. Die Sichtweisen änderten sich und manche Argumentationsnöte lösten sich von selbst. Man musste nicht mehr mit intellektueller Nibelungentreue eine Apologetik betreiben, die nach außen nicht vermittelbar war, sondern konnte erklären, warum gar nicht anders gesagt werden konnte, was in der Tradition eben so gesagt wurde.

Man kann diesen hermeneutischen Aufbruch mit der ersten Phase einer Bergwanderung vergleichen. Auf dem Weg hinauf bis zum Pass gibt es fortlaufend neue Perspektiven, die eine innere Bereicherung über das mit sich bringen, was es an Realität zu sehen ist. Und es herrschte in der Regel gutes Wetter bei diesen hermeneutisch-dogmatischen Wanderungen der; Texte waren reichlich vorhanden, an interessiertem Publikum bestand kein Mangel und es gab oft neue Erkenntnisse zu publizieren. Seit mindestens vier Theologen-Generationen ist es unstrittig, diesen Weg zu gehen. Mittlerweile scheint die Wanderung jedoch die Passhöhe genommen zu haben. Und jenseits davon haben Landschaft und Wetter gewechselt. Es gilt, den Kompass zur Hilfe zu nehmen. Es gibt durchaus noch ganz andere Wege den gleichen Berg hinauf und entsprechend kann man auch heute noch neue Teilperspektiven entdecken; aber der Zenit der Ergebnisse scheint überschritten. Der Erwartungshorizont ist auch nicht mehr so groß. Man ging vielmehr auf breiter Front daran, die neu gewonnenen Perspektiven zu sichern. Das führte zu dem großen Angebot an Handbüchern und Gesamtdarstellungen, die alle der Hermeneutik als tragender Methode verpflichtet sind, auch wenn sie unterschiedlich akzentuierte Landkarten über den zurückgelegten Weg zeichnen.

Angesichts der zerklüfteten Landschaft nach der Passhöhe stellt sich die Frage, was diese Sicherungen für den weiteren Weg abwerfen. Die Landschaft ist nämlich unübersichtlich geworden, der Sinn früherer Texte garantiert nicht schon die orientierende Bedeutung in dem neuen Terrain. Dessen Themen stehen nicht einfach in einem gemeinsamen Horizont mit den erhobenen Sinnperspektiven; nach dem Pass ist der Horizont ein anderer. Und es scheint derzeit so, dass ein wirklicher Horizont gar nicht zu entdecken ist. Ein Konglomerat von brechenden Linien versperrt die abgeklärte Schau. Ebenso wenig stellt wie früher ein prä-hermeneutisch Tal eine gemeinsame sumpfige Sohle dar, aus der man sich auf jeden Fall herauszuarbeiten hätte. Es ist deshalb fraglich geworden, ob die weiteren Wege mit denselben Instrumenten zu finden ist, welche das Vorgehen auf einen potentiell gemeinsamen Sinn einnorden. Der Regelfall bleibt durchaus immer noch die Hermeneutik, aber sie lässt sich nicht mehr offensiv betreiben. Sie erscheint vielmehr wie eine notwendige Lockerungsübung, um an einem neuen Wandertag die müden Glieder leistungsfähig zu machen. Aber schon der Mutterboden der Kirche hat bei dieser dogmatischen Wanderung gewechselt.

Nach den Rezeptionen des Konzils – das Kirchenproblem

Das Zweite Vatikanische Konzil der katholischen Kirche war jene Passhöhe, ohne die die Dogmatik nicht in die höheren Regionen überzeugender Antworten gekommen wäre. Sie war unter allen Umständen zu erreichen. Es ist primär und geradezu allein dem päpstlichen Willen verdankt, die Kirche auf den intellektuellen Stand der modernen Dinge zu bringen. Ohne Johannes XXIII. wäre es weder zustande gekommen noch seine Durchführung bis zum Ende unvermeidlich gewesen. Es hat bereits von daher einen Autoritätscharakter sui generis.

Die ersten Jahrzehnte nach diesem Konzil waren von den Auseinandersetzungen zwischen der Majorität der Modernisierungskräfte und der Minorität der Beharrungsmächte gekennzeichnet, die bereits seine Durchführung geprägt hatten. Dieser Streit bestimmte sowohl die erste Euphorie, die schon bald nach dem Konzil verflog und mit ihren Aufbruchstimmungen die diversen Regionalkonzilien oder Synoden prägte. Dieser Streit ging dann in die Phase, in der man von zentralen Stellwerken aus versuchte, gegen den Strom der Zeit zurückzurudern; es war jene kirchliche Entwicklung, die Karl Rahner eine winterliche Zeit genannt hat. Hier gab es sogar einen Moment, in dem um die reale Verpflichtung der Kirche auf dieses Konzil gefürchtet werden musste. Aber es ist eine geradezu glückliche Fügung, dass der Machtanspruch des famosen Erzbischofs Lefebvre so unverhohlen selbstgefällig war. Als er sich und die Seinen definitiv von der Kirche trennte, wurde das letzte Konzil zu einem Faktor, der endgültig nicht mehr zu umgehen war, gleich ob er nun von kirchlichen Entscheidungsträgern gemocht wurde oder nicht und auch gleich ob er nun von theologischen Geistern vernebelt wurde oder nicht.

Seither war die VErtaktung der ecclesia ad extra mit der ecclesia ad intra nicht mehr zu stoppen. Es ist die große strategische Optionen der Lehre des Konzils, beide Perspektiven zu verbinden, und insofern besteht nach wie vor ein Nachholbedarf im Hinblick auf die Rezeption von einzelnen Konzilslehren. Was der pastorale Gehalt aller Glaubensaussagen bedeutet, ist erst in Ansätzen bekannt und deutlich geworden; eine selbstverständliche Tradition kann man das noch nicht nennen.

Der Streit um das Konzil und die dogmatische Valenz pastoraler Realitäten bestimmt nicht mehr die innerkirchliche Auseinandersetzung. Damit ist die Rezeption des Konzils nüchterner und zugleich dogmengeschichtlicher geworden. Die Welt von heute ist zudem nicht mehr die Welt des Konzils und diese Differenz wird immer deutlicher spürbar. Entsprechend verschiebt sich der primäre Fokus von der Binnenbestimmung auf die neue Lage, in der sich die Kirche jetzt befindet. Die erste Rezeption des Konzils hat eine Pluralität von Kirchenentwürfen hervorgebracht, von denen die unterschiedlichen communio-Ekklesiologien am wichtigsten sind. Diese Rezeption wurde auch von einem charismatischen Aufbruch begleitet, in dem sich diverse Laienbewegungen hervorgetan haben, und sie hat einen Respekt vor Basisbewegungen erzeugt, von denen die Großfamilie der Befreiungstheologien lebt. Die plurale, religionsfreundliche, aber glaubensdesinteressierte Mentalität, die sich mittlerweile gesellschaftlich durchgesetzt hat, ist von den communio-Visionen, charismatischen Erlebniswelten und grass-roots-Optionen nicht mehr so einfach zu fassen. Hier zeigt sich, wie sehr man heute in einer Situation nach dem Konzil existiert. Es fragt sich, was vom Konzil bleibt, und wie seine Lehren heute unter diesen neuen Umständen zur Sprache zu bringen sind. Die Antwort darauf ist nicht mehr mit dem Konzil allein zu beschreiben, sondern verlangt eine ressentimentfreie Wahrnehmung der neuen Lage. Die Positionen des Konzils sind dabei eine taugliche Ausgangsbasis, aber bieten nicht schon die Lösungen der neuen Fragen. Das wird am deutlichsten bei der Anfrage, die von der Religion gestellt wird.

Nach der Unschuldsvermutung der Pluralität – das Religionsproblem

Der Aufbruch des Konzils und die Rezeptionsphase dieses Aufbruchs gingen beide von einem Dialog zwischen den Religionen aus, der ein fruchtbares Neuland für die Gegenwart des Glaubens betrat. Die alte und brisante Gegnergeschichte zu anderen Religionen sollte zur Vergangenheit gestellt werden. Mit Nostra aetate und Dignitatis humanae sind die anderen Religionen und das Menschenrecht der Religionsfreiheit lehramtlich positiv begriffen. An die Stelle der umkämpften Wahrheitsfrage rückte der Beitrag, den religiöse Kulturen für die Entwicklung der Menschheit leisten können. Damit wurde erstmals für die katholische Kirche ein religiöser Dialog auf einer aufgeklärten Basis möglich. Er hat sich insbesondere für das Verhältnis zum Judentum ausgezahlt. Aus der alten Ablösungsvorstellung, mit der man den politischen Ausmerzungsstrategien nicht entschlossen genug entgegentreten konnte, fand man heraus und gewann ein realistisches Verhältnis, das auf Seiten der Kirche mittlerweile sogar der eigenen Schuldgeschichte gegenüber den Juden ins Auge sehen kann. Das ist ein Stand, hinter den die dogmatische Theologie nicht mehr zurückfallen kann. Auch die religiöse Wahrheitsfrage ist von der historischen Schuldfrage nicht mehr abzulösen.

Aber mit der gleichen Perspektive eines humanen Fortschritts, der auf dem Boden des religiösen Ausgleichs möglich wird, ist das alte Aufklärungsproblem des Idealismus gegeben. Religionen, die sich in den Grenzen der Vernunft bewegen, werden als prinzipiell gutartige Kulturgrößen angesehen. Das strukturelle Problem ist jedoch, dass eine Religion sich nicht notwendigerweise vernünftig verhalten muss, um in einer machtvollen Weise Religion zu sein und eine Kultur zu prägen. Vielmehr stehen alle Religionen auf ihre je eigene, religionsgeschichtlich spezifische Weise vor dem Problem der Gewalt, die von ihnen gesellschaftlich und kulturell, personal und politisch ausgehen kann. Die Schuldgeschichte der Kirche gegenüber den Juden ist insofern religiös signifikant und in ihrem Gewaltgehalt leider kein christliches Spezifikum. Obwohl in der Abendsonne der Moderne das jüngste Wiedererwachen der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion positiv gesehen wird und in der religiösen Pluralität ein kultureller Wert zum Vorschein kommt, erweist sich diese Pluralität hochgradig von Gewalt besetzt. Religionen und Religionsgemeinschaften sind für gruppeninternes und gesellschaftlich externes Gewaltverhalten nicht nur einfach anfällig; sie werden wegen ihrer inneren Machtansprüche strukturell mit diesem Problem belastet. Spätestens mit dem 11. September 2001 hat das auch einen globalisierten Ausdruck gefunden.

Das verändert den Status des religiösen Dialogs. Von einer kulturell förderlichen Angelegenheit ist er zu einer gesellschaftspolitischen Notwendigkeit geworden. Aber er hat eine ganz andere Bedeutung, als ihm jene wohlmeinende Erwartung unterstellt, dass erst der Friede der Religionen einen Weltfrieden erzeugt. Eine globale Weltfriedensperspektive ist für die Religionen viel zu groß, allein schon ihre Pluralität steht dem entgegen. Ein solcher Ausblick von einer gleichsam höheren Warte lenkt geradezu vom eigentlichen Problem mit der Religion ab. Die Friedenpotenz von Religionen besteht aus der prekären Fähigkeit, die eigenen Gewaltgeschichten miteinander zu bearbeiten und in politischer Hinsicht ihrer eigenen Schuld ins Auge zu sehen. Wenn in dieser Weise an der religiösen Pluralität gearbeitet wird, dann wäre das ein signifikanter Beitrag zu einem weltweit benötigten Frieden und nicht nur eine globale Idee von friedlichen Konferenzen. Aber dieser Beitrag kann nur geleistet werden, wenn man die Unschuldsvermutung gegenüber den Religionen hinter sich lässt. Ihre Pluralität ist säkular nicht zu bändigen; deren Gewaltpotential stellt selbst eine religiöse Herausforderung dar. Die mittlerweile veränderte gesellschaftliche Situation zeigt, wie dringend es mittlerweile geworden ist, sich dem zu stellen.

Nach dem Ende des alten Europa – das Gesellschaftsproblem

Das Zweite Vaticanum war das erste Konzil der Weltkirche und zugleich das letzte, das noch allein mit den Mitteln der europäischen Theologie gemacht werden konnte. Seine Vorgehensweise in Sachen Religion ist entsprechend vorrangig vom europäischen Geist geprägt und nimmt dessen Aufklärungsabsichten ernst. Dieser Geist ist jetzt ins Gerede gekommen; er sieht seit neuestem alt aus. Sein zerfurchtes Antlitz repräsentiert, was hinter den europäischen Gesellschaften liegt. Dass er so schnell gealtert ist, erklärt sich nicht allein dadurch, dass man es in der früheren Neuen Welt politisch müde ist, auf die ewigen Ausgleichsdebatten eines halbherzigen politischen Unionsprozesses der Europäer zu warten. Es erklärt sich auch nicht durch die politische Zweitrangigkeit, zu der sich das alte Europa durch seine Kriege der letzten hundert Jahre selbst verdammt hat. Es erklärt sich dadurch, dass sich eine Lösung für ein bedrängendes Gesellschaftsproblem überholt hat, die im alten Europa entdeckt wurde. Der Geist von ‚Old Europe’ steht nicht zuletzt für eine Trennung von Kirche und Staat; dieses Europa propagierte die Privatangelegenheit Religion, um den Glauben aus dem Staat herauszuhalten. Das hat sich bewährt, weil damit einst die europäischen Religionskriege beendet werden konnten und weil man es damit verstand, sich in keine neuen Glaubenskriege mehr zu verwickeln.

Aber diese Lösung unterschätzt die gesellschaftliche Eigendynamik von Religion, die eben nicht einfach nur alt bleibt, sondern neu werden kann. Ohne die nicht stumm zu stellende öffentliche Kraft von Religionsgemeinschaften wäre weder der Zusammenbruch des alten Ostblocks in Polen begonnen worden noch die deutsche Vereinigung so leicht zustande gekommen. Religion ist mehr als eine Privatsache, die in Sachen Staat außen vor bleiben kann. Sie ist auch als diese Privatsache eine nachhaltige gesellschaftliche Macht.

Hielt man die Gottesstaatsrealitäten und –visionen in den islamischen Gesellschaften noch für einen Ausdruck eines dortigen kulturellen Mittelalters, so ist spätestens mit dem unverhohlenen Weltordnungskrieg der USA im Irak deutlich geworden, dass sie Vorboten einer sich verändernden Welt waren. Mit Religionsideen und aufgrund von religiösen Überzeugungen wird in einer neuen Weise Politik gemacht, die wenig mit den Absichten der neueren politischen Theologie zu tun hat, aber durchaus viel mit der alten politischen Theologie der Souveränität. Wer souverän werden will, muss heutzutage nicht unbedingt den Ausnahmezustand in den engen Grenzen eines Staates durchsetzen. Souverän kann man in globalen Maßstäben werden, wenn man eine Ausnahmeregelung für sich erzeugt, die eine religiöse Überzeugung in säkularer Weise universalisiert. Entsprechend lässt eine souveräne Weltpolitik der Menschenrechte und wirtschaftlichen Freiheiten, die von religiösen Überzeugungen geprägt und durchzogen ist, das alte Europa wirklich alt aussehen. Es hat angesichts dieser Potenz nur noch die Wahl, dafür politischen Flankenschutz zu geben oder sich auf sein gesellschaftliches Biedermeier zu beschränken. Beides ist unter den Bedingungen der Globalisierung nicht sehr anziehend.

Vielmehr zeigt sich: Religion ist eben nicht notwendigerweise ein Antipode zur Revolution, der staatlich eingedämmt werden muss. So wurde der religiöse Machtanspruch in Old Europe begriffen und umgestaltet. Religion kann auch ein revolutionärer Faktor sein, mit dessen Hilfe anderen die Herrschaft einer neuen Ordnung der Dinge oktroyiert werden kann. So wurde sie schon zu Zeiten von Old Europe in der Neuen Welt begriffen. Religion kann die Argumente für eine politische Strategie liefern, um anderen jene gesellschaftliche Freiheit zuzumuten, der diese sich aus welchen Gründen auch immer verweigern, die jene Religion aber selbst für ihre Ausbreitung benötigt. Der gesellschaftliche Zumutungsgehalt religiöser Überzeugungen ist eine politische Kraft, die nicht primär nach der Wahrheit dieser Überzeugungen fragt, sondern nach der Durchsetzbarkeit der Gesellschaftsordnung, in der sich diese Zumutungen entfalten können. Für diese neue und gesellschaftlich bedeutsame Macht von religiösen Missionen hat die systematische Theologie speziell des deutschsprachigen Bereichs noch keine Konzepte entwickelt. Sie war bisher Repräsentantin einer anderen Machterfahrung.

Nach dem Machtverlust des christlichen Glaubens – das Theologieproblem

Theologie hat im deutschsprachigen Bereich einen privilegierten Wissenschaftsstatus. Sie wird auch in Fakultäten gelehrt, die zu staatlichen Universitäten gehören und die nicht selten sogar die Gründungsgröße solcher Universitäten darstellen. Sie führt also nicht die Nischenexistenz universitärer Orchideenfächer, sondern steht für einen gesellschaftlichen Orientierungsanspruch und für einen wissenschaftlichen Qualitätsanspruch. Das letztere verlangt nach einer interdisziplinären Ausrichtung, die auf der Basis der universitären Verortung viel leichter gelingt, als es außeruniversitären Institutionen möglich wäre. Allein schon um der Sprachfähigkeit einer Theologie willen, die in den heutigen wissenschaftlichen Entwicklungen mitreden können will, lohnt es sich, die universitäre Verortung zu verteidigen und kreativ zu gestalten.

Aber das wird zunehmend schwieriger, weil der gesellschaftliche Bildungsanspruch für die Theologie ausgedünnt ist. Dieser Anspruch ist kirchlicher Natur und resultiert aus den Orientierungen, die in den deutschsprachigen Nachkriegsgesellschaften von den Kirchen erwartet wurden und um deretwillen die kirchlichen Darstellungsmöglichkeiten von Staats wegen privilegiert worden sind. Die Konkordatsrechte, die sich auf die theologischen Fakultäten beziehen, gehören dazu. Diese Konkordate sind als Rechtsgrößen derzeit nicht in Gefahr, es werden sogar gegenwärtig noch neue theologische Lehrstühle auf dem Boden noch nicht ganz umgesetzter Konkordate eingerichtet. Aber die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche schwindet; in pluralistischen Gesellschaften gelten kirchliche Orientierungen als eine Größe unter vielen anderen. Mit dem gesellschaftlichen Einflussverlust der Kirche beginnt der Boden zu schwanken, auf dem der universitäre Bildungsauftrag der Theologie beruht. Die schwindende Nachfrage nach Ausbildungen, die zu binnenkirchlichen Berufen befähigen, kommt dazu. Der Spardruck auf die theologischen Fakultäten steigt spürbar und kann nur bedingt abgemildert werden.

Das erfordert ein Umdenken auf Seiten der Theologie, insbesondere auf Seiten der Theologie, die für den innerkirchlichen Glaubensvollzug steht, also die Dogmatik. Sie kann sich nicht mehr einfach auf den doppelten Boden der staatskirchenrechtlichen Rückversicherung verlassen, sondern muss ihre traditionellen sujets von der Bedeutung jener Probleme her absichern, die es hier und heute gibt und in denen sich die Rede von Gott erschließen kann. Dieses Umdenken ist nicht nur von der Situation der gesellschaftlichen Machtverhältnisse her geboten, sondern hat auch eine eigene strategische Seite. Der Gott, den die Theologie zur Sprache bringen muss, kann nicht mehr aus einer Position gesellschaftlicher Mehrheitsmeinung angesprochen werden, sondern unter Berücksichtigung des genannten Einflussverlustes. Die Macht dieses Gottes, die sich in der Autorität einer lehramtlichen Sprache auf eine ganz eigene Weise spiegelt, ist mit der Ohnmachtserfahrung zusammen zu benennen, die mit der Pluralisierung der gesellschaftlichen Orientierungen einher geht.

Es gilt damit für Dogmatik zu beweisen, dass sie aus dem innersten Kern ihrer christologischen Positionen ein Integral für ihre Aussagefähigkeit gewinnen kann. Dort wird nicht weniger als die schöpferische Allmacht Gottes und die menschliche Ohnmacht eines Gekreuzigten polar zueinander gestellt, ohne dass sie sich vermischen oder sich trennen ließen. Von diesem Ort her kann die Dogmatik auch in der bedrängenden heutigen Situation Zeichen der Zeit erkennen, die sie auf eine andere Weise sprachfähig machen. In dieser Hinsicht existiert sie heute nicht nur in diverser Hinsicht nach gewohnten und bekannten Konstellationen, sondern ebenso vor ungewohnten, aber gewichtigen neuen Konstellationen.

Vor einer anderen Macht – die prekäre Menschenrechtspolitik von heute

Wenn die Analyse über das Ende des Alten Europa und ünrt den
Beginn eines neuen Politikverhältnisses von Religionen stimmt, dann kommt ein neues Thema auf die Theologie zu. War sie bisher bemüht, die säkular gezeugten Menschenrechte mit dem religiös verorteten Gottesdiskurs zu versöhnen, so wird sie künftig auf dem Boden ihrer Sprache über Gott die verschwiegenen Machtansprüche benennen, die in einer globalen Politik der Menschenrechte stecken. Das ist kein Antidiskurs zu den Menschenrechten, sondern fokussiert die Menschenrechte auf die Opfer hin, die sie nötig haben, und auf die Täter hin, die sich ihrer nur strategisch bedienen. Ein solches Vorgehen verwahrt sich allerdings gegen eine Menschenrechtsagenda, die selbst nur neue Opfer fordert und die Dominanzgelüste von neuen Tätern steigert. Der Streit um die Art und Weise, wie Menschenrechte durchgesetzt werden können, ist dann ein Zeichen der Zeit, das der Bedeutung des Evangeliums einen neuen gesellschaftlichen Ort ermöglicht. Es fragt sich dann, in welcher Weise das Opfer Jesu am Kreuz menschenrechtsfähig wird und den Menschenrechten eine heilvolle Bedeutung geben kann.

Vor einer anderen Differenz – der prekäre Religionsdialog von heute

Wenn die Pluralität der Religionen nicht nur eine kulturelle Bereicherung mit sich bringt, sondern auch die Gefahr gesellschaftlicher Gewalt in sich birgt, dann stellt sich die Frage nach der wahren Religion in einem neuen Licht. Der christliche Glaube beansprucht, die endgültige Offenbarung benennen zu können. Er muss dann so etwas wie der Ort sein, an dem sich Wahrheit und Falschheit in Sachen Religion unterscheiden lässt. Aber diese Unterscheidung muss selbst gegen die Gewalt gefeit werden, die in der religiösen Pluralität lauert. Das wird nicht dadurch gelingen, dass alle anderen Religionen dem christlichen Maßstab unterworfen werden, die eigene Religionsgemeinschaft aber davon enthoben bleibt.

Der systematische Weg verläuft umgekehrt. Auf dem Boden der christlichen Fähigkeit, dem Gewaltpotential der eigenen Religion zu wehren, entsteht für die anderen Religionsgemeinschaften die Notwendigkeit, selbst auf dieses religiöse Niveau zu kommen, auf dem die eigene Gewaltgefahr benannt und gebannt werden muss. In dieser Weise kann die christliche Offenbarung ein Kristallisationskern für den Weg der Religionen zur wahren Religion werden. Das setzt einen Dialog unter Religionsgemeinschaften in Gang, der nicht bei den Gemeinsamkeiten stehen bleibt, sondern gerade die prekären Differenzen unter den Religionen zum Hauptthema erhebt. Religion kann erst dann die wahre Religion genannt werden, wenn sie der Gewalt unter Menschen und der Gewalt in ihr selbst entgegentreten kann. Religion kann erst dann die wahre Religion genannt werden, wenn sie eher zu Opfern an der eigenen gesellschaftlichen Macht bereit ist, als Abstriche vom öffentlich vertretenen eigenen Wissen um die humane Wahrheit des Friedens zu machen. Mit den päpstlichen Zeichen, die auf den beiden Religionstreffen in Assisi gesetzt wurden, hat die Dogmatik dafür sogar bereits einen ordentlichen lehramtlichen Ausgangspunkt.

Vor einer anderen Pastoral – die prekäre Kirchenpolarität von heute

Wenn die Kirche sich nicht mehr allein von dem her begreifen kann, was ihren inneren Bereich ausmacht, sondern sich in die pastorale Differenz von ecclesia ad intra und ecclesia ad extra gestellt sieht, um die Bedeutung ihrer Lehren benennen zu können, dann entsteht eine neuer locus theologicus für die Dogmatik. Es gilt, die Lehren des Glaubens in diese Differenz zu stellen, ohne dass jene Aussagen an dieser Spannung von Innen und Außen zerspringen und ohne dass sie diese überspringen. Dafür sind neue methodische Maßnahmen notwendig. Es gilt, eine Darstellung des Glaubens zu entwickeln, die zur Differenz und zur Differenzierung zwischen Innen und Außen fähig ist. Für den kirchlichen Auftrag der Dogmatik bedeutet das ein eigenes sujet: die Pastoral eines Missionsverständnisses, das nicht mehr einfach von Innen nach Außen vorgeht und die schon bekannten Wahrheiten an Menschen weitergibt, die sie noch nicht oder noch nicht genügend kennen. Vielmehr erfordert diese Pastoral die Kunst, auf dem Boden der Freude und Hoffnungen, Trauer und Ängste in dem zu missionierenden Außen das eigene Innen entdecken zu lernen. Es bedeutet, theologisch mit dem geistlichen Vermächtnis des Konzilspapstes Johannes XXIII. ernst zu machen, der sagte, dass wir erst am Anfang stehen, das Evangelium zu verstehen. Das wird ohne ein Umdenken im Kernbereich der Rede von Gott nicht gelingen.

Vor einer anderen Gottessprache – die prekäre Theologie von heute

Wenn die Rede von Gott zunehmend nicht mehr auf eine gesellschaftlich einflussreiche Religionsgemeinschaft bauen kann, um ihre Bedeutung zu präsentieren, sondern in einer Religionsgemeinschaft verortet ist, die sich offensiv ihrem eigenen Einflussverlust stellt, dann entsteht ein ungewohnter Ort, um von Gott zu sprechen: die Sprachlosigkeit, die mit dieser Ohnmachtserfahrung unweigerlich einhergeht. Sprachlosigkeit kann für intellektuelle Projekte wie die Dogmatik zerstörerisch sein oder kreativ. Eine kreative Sprachlosigkeit macht sich auf die Suche nach einer neuen Sprache; sie setzt an dem an, worin es die Sprache verschlägt. Nur diese Option kommt für die Dogmatik in Frage. Es ist für sie dabei entscheidend, dass die Religionsgemeinschaft der Kirche sich offensiv dieser Sprachlosigkeit stellt. Gerade das, was prekär ist, ist für die Kirche weiterführend.

Hier kommt der Dogmatik sogar eine Schlüsselstellung zu, weil sie es von ihrer Tradition her mit Auseinandersetzungen um den Glauben zu tun hat, in denen eben einer solchen Sprachlosigkeit nicht ausgewichen wurde. Man hat vielmehr so lange gestritten, bis die Fehler in der Darstellung dessen offenkundig wurden, was über Christus, die Gnade, die Schöpfung, die Wahrheitsfähigkeit päpstlicher Aussagen, die übernatürliche Offenbarung, über die Kirche in der Welt von heute behauptet wurde. Dieser Streit ist die notwendige Voraussetzung, um ein bestehendes Sprachproblem zu überwinden. Es hängt deshalb nicht zuletzt an der Dogmatik selbst, ob sie aus einer zerstörerischen in eine kreative Sprachlosigkeit in Glaubensdingen hineingelangt. Sie darf lediglich nicht der eigenen Sprachlosigkeit ausweichen.

Zu diesem Prozess gehört ein eigentümlicher Charakter, der die Rede von Gott selbst auszeichnet. Wenn diese Rede offensiv den Modus der Sprachlosigkeit aufgreift, dann wird sie leise werden, um ihre Wahrheit über Gott finden und mit einer neuen Sprache überzeugend vertreten zu können. Das aber ist nicht der schlechteste Weg für Theologie und Kirche. Die leise Überzeugungskraft zeichnet nämlich den Gott der Bibel und den Gott des Reiches Gottes Jesu aus. Elia wird vor der Höhle mit einem ‚verschwebenden Schweigen’ (Buber) konfrontiert, auch Mose erhält keine Theophanie, mit deren Namen er sich brüsten kann, die Propheten werden bei ihren Gottesbotschaften mit Leid und Drangsal konfrontiert. Was Jesus über das Reich Gottes berichtet, setzt an den unscheinbaren, kleinen, leicht zu übersehenden Ereignissen der Natur und des Lebens an und eben nicht an den donnernden Ereignissen der Geschichte. Er lässt sich auch nicht von den lauten Anfeindungen von Besessenen, von hochfahrenden Jüngerstreitigkeiten um Rangordnungen oder Messiasutopien, von triumphalen Verehrungen seiner selbst oder triumphierenden Verhandlungen über ihn beirren, um sein Leben ganz auf dieses geschichtlich verschwiegene Reich Gottes zu setzen. Er traut der leisen Gegenwart Gottes, die sogar die Macht des Todes bricht. So gesehen, bleibt der Dogmatik nichts anderes zu tun, als in der prekären Lage von heute sich selbst den Gott zuzumuten, aus dem ihre eigene Tradition herkommt.

Das macht aber die Theologie, welche in dieser Dogmatik entwickelt wird, nachhaltig. Sie führt sie an die Zeichen der Zeit heran, die einen Raum darstellen, um den Glauben ebenso zu bewähren wie zu schärfen. In dieser prekären Auseinandersetzung wird der Glauben nachhaltig, weil er Lehren ausbildet, die sich als Autorität bewähren können. Daher abschließend:

Die Topologie der Zeichen der Zeit in Gaudium et spes

Nachhaltigkeit ist eine Überlebensfrage in der heutigen Welt und es sieht so aus, als wäre es eine Überlebensfrage sogar der Menschheit. Davon sind viele Menschen überzeugt, insbesondere Wissenschaftler, die sich mit den langfristigen Folgen des Klimawandels befassen. Über den prekären Ort dieser Frage scheint es noch Dissens zu geben. Den einen Geophysikern, so habe ich in den letzten Wochen in der Zeitung gelesen, gilt die Antarktis als „ground zero of global climate change without a doubt“ (Jerry Mitrovica). Anderen steht Alaska dafür, “Ground Zero for Global Warming”  (Elizabeth Weise) zu sein. Wie auch immer der Streit ausgeht, wenn es überhaupt einer ist, ob der Ground Zero für die Zukunft im Norden oder im Süden liegt – das Szenario ist auf jeden Fall bedrohlich. Wenn eine Lebenskathedrale unserer Zeit zusammenbricht, weil wir sie mit unserer Lebensweise attackiert haben, wird es zu spät sein für die Zukunft, wie wir sie uns vorstellen und normalerweise der ganzen Menschheit wünschen. Aus unscheinbar schleichenden Attacken sind mittlerweile sichtbare Veränderungen geworden, die als Ausblick eine solche Menge von Katastrophen haben, dass positive Gegenbilder nicht mehr überzeugen.

Ein Problem dabei scheint zu sein, dass viele, die heute leben – und das sind die meisten und es sind meistens auch die, die das Geld und die Macht haben –, noch davon verschont bleiben. Und das Argument mit den Kindern und Enkeln zieht nur sehr bedingt, weil Gesellschaften nicht mehr familial funktionieren. Wichtiger ist, dass Katastrophen durch den Klimawandel wohl erst nach dem Tod der heutigen Akteure eintreten. Man kann den Überlebensfragen also ausweichen, weil sie zwar die Menschheit betreffen, aber eben nicht das eigene Individuum. Wir älteren hier im Raum kommen wahrscheinlich davon und können daher immer insgeheim sagen: „Sollen es doch die anderen richten, die davon wirklich betroffen sind.“ Ebenso wenig wie familial lässt sich dem moralisch begegnen, weil es zwar globales Kapital gibt, aber keine global fähige Moral geben wird. Die Lebensweisen sind zu unterschiedlich und sie werden es bleiben.

Das, was sich nachhaltig als Problem zeigt und sogar als solches anerkannt wird, ist noch lange nicht in dem Zustand, dass man sich damit auch identifiziert. Das ist ein ganz eigener prekärer Schritt, weil er mit Selbstrelativierung verbunden ist. Darum hat Nachhaltigkeit nicht nur einen Ursprung, das sind die Probleme, die sie nötig haben, sondern auch eine Herkunft. Beides ist nicht dasselbe.[1]

Vom Ursprung zur Herkunft von Nachhaltigkeit

Daraus, wie Nachhaltigkeit nicht funktioniert, lässt sich schließen, worin sie besteht. Sie verträgt sich nicht mit dem doppelten Habitus, sich allein auf sich zu beziehen und die zu lösenden Probleme den anderen überlassen. Das muss man vermeiden, wenn nachhaltig zu handeln wichtig ist. Das ist damit gekoppelt, sich Fragen, Problemen, Realitäten etc. auszusetzen, die man nicht selbst kontrollieren kann, mit denen man sich aber identifizieren muss, weil ihnen nicht auszuweichen ist. Der Diskurs über diesen Identifizierungsvorgang gehört zur Nachhaltigkeit. Von ihm kommt sie her. Er steht mindestens gleichberechtigt neben dem Ursprung und gehört zur Nachhaltigkeit dazu.

Dort im Ursprung der Probleme entsteht die Frage und nimmt einen gleichsam historischen Anfang. Die Betrachtung ist sinnvoll, aber sie bedeutet noch nichts. Nötig ist ein Diskurs, dem man nicht ausweichen kann, weil er Identifikationen mit sich bringt, die in aller Regel prekär und bedrängend sind. Darin liegt die Herkunft von Nachhaltigkeit. Das bezieht insbesondere jene Menschen ein, die eben nachhaltig unter den Problemen zu leiden haben, die sich einstellen und zu großen Veränderungen drängen.

Wer die Vernetzung der Welt, die Menschen als Menschheit miteinander haben, nicht auf sich bezieht, kann nichts, buchstäblich nichts zur Nachhaltigkeit beitragen, weil die Identifizierung mit solchen Überlebensfragen fehlt. Anders als dem Ursprung lässt sich der Herkunft von Nachhaltigkeit relativ leicht ausweichen. Man kann sich ihr einfach lange Zeit verweigern – in der Hoffnung, dass es einen selbst nicht erwischt. Vor allem machtvolle staatliche und wirtschaftliche Strukturen haben in den letzten Jahrzehnten oft genug unter Beweise gestellt, dass das möglich ist.

Die Herkunft stellt sich dagegen erst ein, wo und wenn dem nicht ausgewichen wird, dem leicht auszuweichen ist – nämlich dem eigenen Ort in den Problemen, die zur Nachhaltigkeit drängen. Zu diesem Ort gehören als die primären Bewohner, gleichsam die Urbevölkerung, jene Menschen, die am meisten unter diesen Problemen zu leiden haben. Man denke nur an die betroffenen Menschen der Tropensturmes, die in der Zeit der Niederschrift dieses Textes über die Südseeinseln von Vanuatu gefegt ist. Solche Menschen gehören zur Nachhaltigkeit und die Frage ist, wie lange wir uns ihrer tatsächlich erinnern. Nachhaltigkeit wird also erst dann eine weiterführende Strategie, wenn der Bezug auf sie mit Empathie verbunden wird, die sich auf leidende Menschen bezieht und die darüber eine gesellschaftliche und politische Größe wird.[2]

In diesem Habitus wird Nachhaltigkeit erst zu einer Ressource, weil dann diejenigen, die darunter zu leiden haben, dass nicht nachhaltig gelebt, politisiert, gewirtschaftet, kultiviert, verehrt wird, wahrgenommen werden. Sobald sich die Empathie mit einer öffentlichen oder wenigstens zur Öffentlichkeit fähigen Empörung verbindet, entsteht eine positive Zumutung, zu ihnen zu stehen und deshalb auf Veränderungen zu drängen. Erst ein Habitus der Empathie und eine öffentliche Empörung darüber, dass es so weit gekommen ist, wie es die drängenden Probleme belegen, generiert Alternativen, die nachhaltig werden können.

Der Ursprung der Probleme kann wissenschaftlich oder sonst wie erhoben werden, etwa in den Modellen des Klimawandels und den zugehörigen Erklärungen, die bewährte Theoreme darstellen können. Dieser Ursprung ist wichtig und die Erkenntnis darüber ist von großer Bedeutung. Aber beide reichen nicht aus. Sie sind sinnvoll, um die Lage der Dinge nachzuvollziehen. Aber Bedeutung erhält das erst, wenn sich der Herkunftsdiskurs einstellt, der die beschriebene Identifizierung notwendig macht. Dabei werden diejenigen zu einer entscheidenden Größe, die darunter zu leiden haben, dass sich kein Wandel zu einer nachhaltigen Lebensweise einstellt. Nachhaltigkeit entsteht also überhaupt erst, wenn es Menschen klar wird, dass es ohne sie nicht mehr weiter geht, weil andere Menschen genau darunter zu leiden haben. Während der Ursprung frei von Relativität ist, setzt in der Herkunft ein massiver Relativierungsschub der eigenen Lage ein. Das macht die Auseinandersetzung um Nachhaltigkeit auch so strittig.

Es ist eben nicht selbstverständlich, diese Lage anzuerkennen, auch wenn alle sozusagen in einem Boot sitzen, also alle gleichsam von allen anderen relativiert werden. Da man aber genau diesem Umstand, relativiert zu werden, ständig und auf Dauer ausweichen kann, ist die Strategie Nachhaltigkeit so schwer in die Tat zu setzen. Es gibt immer scheinbar gute und noch mehr ungute Gründe, dieser Tat auszuweichen. Nachhaltigkeit hat es entsprechen auch mit einem Teilungsproblem zu tun, das unter den direkten Problemen liegt, die zu ihr hin drängen. Es ist ein Teilungsproblem aus zwei unterschiedlichen Teilungsarten – miteinander teilen, also sharing oder partager, oder voneinander abteilen, also dividing oder diviser.

Wer die generelle und nicht ausweichbare Verbundenheit aller mit allen nicht teilt im Sinne von sharing hat nur Größen anzubieten, die ein anderes Teilen, eben dividing, voraussetzen. Dieses dividing ist viel leichter durchzuführen als das sharing; es ist auch die normale Verhaltensweise – sich das vom Leib halten, was andere so sehr betrifft, dass sie darunter zu leiden haben. Wer auf Selbstreferenz setzt und sich davon bestimmen lässt, muss das Problem einer Lebensweise, die nachhaltig ist, von sich fern halten, sonst funktioniert dieses dividing nicht. Es ist für die Option von Selbstreferenz gefährlich. Man kann vielleicht sogar sagen, dass Menschen, Gemeinschaften, Institutionen, Gesellschaften, Religionen, Politiken etc., die dem dividing den Vorzug vor dem sharing geben, ein Gutteil des Problems sind, das heute nach Nachhaltigkeit ruft.

Das bringt jetzt wiederum die Kirche auf den Plan; denn sie gehört zunächst einmal in die Taxonomie des dividing, auch wenn sie gerne mit Narrativen des sharing auftritt, die sie anderen abverlangt. Aber als eine Religionsgemeinschaft, für die Selbstreferenz einen überaus hohen Wert dargestellt hat und immer noch darstellt, steht sie für deviding und trägt damit zu den Problemen bei, die nachhaltig bedrängen. Dem muss man sich zuerst stellen, ehe man die Möglichkeiten des christlichen Glaubens verhandeln kann, Nachhaltigkeit zu befördern.

Kirche und Nachhaltigkeit – das Problem des Scheiterns für eine Religionsgemeinschaft

Aufgrund des prekären Identifizierungsproblems, also der Herkunftsfrage, haben die Kirchen und speziell die katholische Kirche ein Problem mit dem Thema, das wir hier verhandeln. Es ist erst seit relativ kurzem der Fall eingetreten, dass die katholische Kirche überhaupt etwas dazu beitragen kann – trotz all der schönen Traditionen wie der Benediktsregel, die auf nachhaltiges Wirtschaften der Mönche drängt oder auch der seit Jahrhunderten ständig abgerufenen Rechenschaftspflicht von Bischöfen dem Papst gegenüber, die sog. Ad-Limina-Besuche, bei denen es darum geht, ob Bischöfe nachhaltig mit den diözesanen Ressourcen umgehen.

All das gibt es, aber das erzeugt noch keine Nachhaltigkeit, es erzeugt zunächst einmal lediglich Umsicht in der Arbeit mit bereits bestehenden oder sich zu erschließenden Ressourcen. Es geht bei diesen Traditionen um einen rationalen Umgang mit den Ressourcen von Kirche, zu denen auch die Ressourcen des Heils gehören. Das nennt man klassisch Heilsökonomie. Theologisch gesehen führt Nachhaltigkeit also in die Fragen der Heilsökonomie hinein. Je nachdem, wie man das Teilen von Heilsökonomie kirchlich betreibt, mit Teilen oder Abteilen, umso weniger oder umso mehr trägt der Glaube zur Nachhaltigkeit bei.

Hier wird es für die Kirche zunächst einmal prekär. Denn für eine sehr lange Zeit hat die Kirche selbst kräftig zu den Problemen beigetragen, die heute nach Nachhaltigkeit verlangen. Sie hat natürlich nicht die Umweltzerstörung so befördert, wie es die Industriegesellschaft mit ihrer kapitalintensiven Wirtschaft tut. Sie hat natürlich nicht die Börsen so hochgetrieben, wie es die Finanzindustrie unserer Tage tut. Sie hat natürlich nicht den Migrationsströmen in die Megastädte Vorschub geleistet, die nicht zuletzt jene Schattenwirtschaft bedienen müssen, ohne die megaurbane Räume wahrscheinlich gar nicht funktionieren würden. All das kann man der Kirche nicht vorwerfen; dafür sind andere verantwortlich.

Aber die Kirche hat einen religiösen Habitus entwickelt, der es möglich macht, die Selbstreferenz selbst dann noch mit der eigenen Erhöhung auszustatten, wenn sich diese gar nicht als reale Erfahrung einstellt. Man begreift sich als eine Gemeinschaft, die allen anderen Vergemeinschaftungen überlegen ist, obwohl es ausgesprochen viele Hinweise darauf gibt, dass das Gegenteil der Fall ist. Man schafft es, die Augen vor einer Realität zu verschließen, die prekär ist, und an deren Stelle eine Idealität herauszustellen, die man gar nicht realisieren muss, um an sie zu glauben. Es ist die Vorstellung der vera religio, die allein im Singular und ausschließlich in der katholischen Kirche zu finden ist und die es ihr garantiert, die einzige Anbieterin von Heilsökonomie zu ein.[3] Das, was Heil macht, wird auf einen rein innerkirchlichen Markt reduziert, um im ökonomischen Sprachspiel zu bleiben. Und diese Reduktion wurde als die spezifische Auszeichnung der katholischen Kirche angesehen. Im Segen Urbi et Orbi kann man das direkt beobachten. Ohne diesen päpstlichen Segen kein Heil für die Welt, aber zugleich braucht dieser Segen die Welt nicht, in die er hinein gesprochen wird.

Diese Vorstellung ist im neuzeitlichen Kontext nichts anderes als eine religiöse Utopie, die sich ständig vertreten lässt, auch wenn sie sich gar nicht bewahrheitet. Die Bewahrheitung muss schließlich gar nicht geschehen, weil die Welt, in der sie stattfindet, also die Welt, wie sie tatsächlich ist, nicht als adäquat angesehen wird, um eine mögliche Falschheit dieser Vorstellung zu belegen. Diese Utopie kann gar nicht scheitern; sie übersteht jede offenkundige Nichterfüllung.

Dieser religiöse Habitus hat sich allerdings gleichzeitig säkular verbreitet. Das Gottesgnadentum eines Sonnenkönigs funktioniert in der gleichen Weise. Die religiöse und die politische Utopie einer Souveränität von Heil, die aus sich selbst heraus existiert, entwickelt sich möglicherweise neuzeitlich Hand in Hand. Wer sich allein von sich her versteht und darin das Heil demonstriert, das von sich ausgeht, darf erwarten, dass er oder sie dabei anderen überlegen ist, die ihrerseits andere nötig haben, um aus ihren Problemen herauszukommen. Es gilt das cartesische Momentum eines „ego cogito – ego sum“, und wer das nicht durchhält, fällt in eine mindere Position zurück. Das ist die Idee des modernen autonomen Menschen, der alles selbst zur Verfügung hat, von dem die eigene Existenz abhängt. Es ist das Bestehen auf eine Insichselberständigkeit, wie Karl Rahner das früher formulierte,[4] die souverän macht.

Für diesen Habitus war die Kirche geradezu Avantgarde, auch wenn – ich bin versucht zu sagen: gerade deshalb – die Kirche sich mit den autonomen Menschen der Moderne schwer tat und sie eigentlich sogar dezidiert ablehnte. Aber darauf kommt bei dieser Matrize nicht an; denn die Kirche hat sie für sich deshalb entwickelt, um ihre Selbstreferenz für das Heil entscheidend zu machen. Das ist sogar eine spezifische katholische Entwicklung, die quer zur reformatorischen Einsicht stand, dass das Heil, also die Rechtfertigung, nicht zu erwerben ist, sondern von Gott umsonst gegeben wird und zwar dem einzelnen, auserwählten Menschen. Diese Einsicht wird im Prinzip von der katholischen Kirche nicht abgelehnt, auch auf dem Trienter Konzil nicht; seit der Gemeinsamen Erklärung von 1999 wird ihr sogar ausdrücklich kirchlich nicht widersprochen.

Aber die Rechtfertigungsfrage ist katholisch damit kombiniert worden, dass der Rechtfertigungsvorgang den – möglichst ungetrübten – Zugang zu dem Ort voraussetzt, wo er sich vollzieht, eben die Kirche. Ihr galt das spätmittelalterliche ‚extra ecclesiam nulla salus‘ für ausgemacht und damit kombinierte sich sehr nachhaltig die kirchliche Fähigkeit, Menschen aus sich auszuschließen, wenn diese sich nicht den Disziplinierungen – insbesondere ihrer moralischen Disziplin – unterwerfen. Die Kirche ist so gesehen zwar nicht die Quelle des Heils gewesen, aber sie hat sich sehr wohl als den einzig wahren und funktionierenden Ort angesehen, der dieses Heil erhält und enthält. Sie begreift sich als societas perfecta, die alles – wie es eine Enzyklika von Leo XIII von 1885, Immortale Dei, formuliert – aus sich selbst heraus zur Verfügung hat. Sie ist der einzige Ort sichtbaren Heils.

Die in der societas perfecta generierte Heilsökonomie verstärkt den Habitus der schieren Selbstreferenz, der es erlaubte, vielen gesellschaftlichen Problemen einfach auszuweichen. Es war exakt dieser Habitus, sich von der umgebenden Welt abzuschließen und die nicht genehmen Menschen auszuschließen, mit dem die Kirche eine Heilsökonomie betrieben hat, die zugleich für die anderen als unverzichtbar angesehen werden. Die Kirche benötigt die Menschen nicht, um heilvoll zu sein, aber diese haben sie nötig, weil es woanders kein Heil gibt. Das führt zu einer Utopie von Nachhaltigkeit.

Sich auf sich zu beziehen – eine Utopie der Nachhaltigkeit

Nicht nur die katholische Kirche, aber vor allem sie, hat über Jahrhunderte dieser Selbstreferenz den klaren Vorzug gegeben. Dabei wird geleugnet, dass sie selbst um ihrer heilsökonomischen Qualität willen die Verbundenheit mit solchen Menschen benötigt, die unter Problemen zu leiden haben, die nachhaltig nach einer Identifizierung und Umkehr verlangen. Dabei wird der Glaube zu einer weltlichen Trennungsstrategie, einem dividing, gemacht. Das entspricht einer politischen Theologie, die in der traditionellen societas-perfecta-Kirche zur Anwendung kommt. Die Welt hat angesichts ihrer Probleme das Heil nötig, das die Kirche allein bereitstellen kann, während diese Bereitstellung in keiner Weise zu diesen Problemen relativ angesehen werden darf. Darum hat sich die Kirche auch leicht von Menschen trennen können, die sich nicht sichtbar ihrer Disziplin der Heilsökonomie unterworfen haben.

Dabei folgte die katholische Kirche einem Habitus, der mir für Nachhaltigkeitsprobleme kennzeichnend erscheint: Einige halten sich für etwas Besseres und begreifen sich so sehr als übergeordnet, dass sie die Probleme, die andere dadurch haben, nichts angehen. Es ist der Habitus erhabener Selbstreferenz. Das tiefe Problem dieses Habitus liegt darin, dass er nicht scheitern kann. Scheitern ist diesem Habitus sogar wesensfremd. Es hat keinen Platz und muss auf jeden Fall herausgehalten werden. Was aber nicht scheitern kann, ist nachhaltig bedeutungslos, weil es zu einer umkehrfähigen Empathie unfähig ist.

Es ist gerade 50 Jahre her, dass die katholische Kirche damit begonnen hat, diesen Habitus zu durchbrechen und langsam bei sich selbst abzulegen. Ich meine damit natürlich das Zweite Vaticanum und hier insbesondere seine zweite Kirchenkonstitution, die pastorale Konstitution Gaudium et spes. Das Konzil insgesamt und dieser Lehrtext speziell brechen mit dem Habitus erhabener Selbstreferenz und sie etablieren eine alternative Selbstidentifizierung. Sie beginnt sich allmählich in der katholischen Kirche zu etablieren. Erst damit gelangt die Kirche auf die Höhe der Frage nach dem Überleben der Menschheit und kommt langsam dazu, sich selbst in der Frage nach der globalen Nachhaltigkeit zu platzieren. „Laudato si“, die letzte Enzyklika von Papst Franziskus, ist ihr überhaupt erster Lehrtext in dieser Hinsicht.

Durch den markanten Wandel auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil gibt es eine ekklesiale Perspektive, zu der Überlebensfrage der Menschheit etwas zu sagen haben. Hier hat eine autoritative Kirchenversammlung radikal umgedacht in dem, was nachhaltig sein kann. Nachhaltig ist nämlich gerade nicht der Glaube, wie die Kirche es in den langen Jahrhunderten ihrer Identität als societas perfecta geglaubt und propagiert hat. Christliches Glauben ist nicht nachhaltig; mit ihm lässt sich nicht erzielen, wie nachhaltiges Leben, Wirtschaften, Denken, Entscheiden, Forschen, Beten, Arbeiten erreicht werden kann. Christliches Glauben ist auch keine nachhaltige Ressource; dafür ist dieser Glaube viel zu relativ. Er ist relativ zu den Lebensfragen von Menschen, insbesondere zu den bedrängenden Lebensfragen, die ein sharing erforderlich machen, um überhaupt bearbeitet werden zu können. Das verbindet diesen Glauben mit anderen religiösen Überzeugungen.

Das zumindest ist die Überzeugung des Konzils. Formuliert hat es sie im Verhältnis zu anderen Religionen: „Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen eine Antwort auf die verborgenen Rätsel der menschlichen Bedingung, die so wie einst auch heute die Herzen der Menschen im Innersten bewegen: was der Mensch sei, was der Sinn und das Ziel unseres Lebens, was gut und was Sünde, welchen Ursprung die Leiden haben und welchen Zweck, welches der Weg sei, um das wahre Glück zu erlangen, was der Tod, das Gericht und die Vergeltung nach dem Tod, was schließlich jenes letzte und unaussprechliche Mysterium, das unsere Existenz umfasst, aus dem wir unseren Ursprung nehmen und auf das wir zustreben.“ (Nostra aetate 1) In diesem Passage steckt eine bemerkenswerte Einsicht für eine Religionsgemeinschaft: Die Fragen von Menschen sind nachhaltig, nicht die unterschiedlichen religiösen Antworten. Die Fragen stellen sich für alle Formen von Religion, während die jeweiligen Antworten von Religionen nicht überall und jeder Zeit überzeugen. Sobald solche Antworten für nachhaltig erklärt werden, trägt man sogar noch zu den Problemen bei, derentwegen Nachhaltigkeit nötig wird. Denn ein Glaube, der nachhaltig auftritt, wird immer selbstreferentiell werden und diejenigen, die ihm anhängen, dazu verführen, sich für etwas Besseres zu halten und Privilegien zu beanspruchen. Ein nachhaltiger Glaube verliert darüber jedoch die Fähigkeit zur Empathie.

Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist das biblisch beschrieben worden. Wer nachhaltig glaubt, wird immer wie der Priester und der Levit an dem vorbeigehen, der unter die Räuber gefallen ist – weil es stets etwas Besseres zu tun gibt, als sich mit dem zu identifizieren, der am Wegesrand um das Überleben ringt. Denn diese Identifizierung ist prekär, während jene des Glaubens erhaben zu machen scheint. Darum ist der Gesetzeslehrer auch so von diesem Gleichnis ertappt. Schließlich hat er Jesus die Frage gestellt: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ (Lk 10,25) Er hat erwartet, dass er von Jesus das Gesetz ausgelegt erhält und danach sieht es ja auch zunächst aus. Jesus fragt ja durchaus, was im Gesetz steht, worauf der ja das Doppelgebot der Liebe, die Gottes- und die Nächstenliebe, anbietet. Das wird auch von Jesus nicht in Frage gestellt, aber es wird genau nicht zu der nachhaltigen Ressource für das ewige Leben, um das es geht. Schließlich ist ausgerechnet der Samariter, dessen Glauben als der eindeutig falsche von den Judäern angesehen wird, derjenige, der das richtige tut, während Priester und Levit achtlos vorübergehen. Das muss auch der Gesetzeslehrer einsehen, wie seine Antwort belegt, als Jesus ihn fragt, wer denn nun das richtige getan hat und dem zum Nächsten wurde, der unter die Räuber fiel: „Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat.“ (Lk 10,37)

Der Bescheid Jesu an den Fragesteller ist dann darum gerade nicht, dasselbe zu glauben wie der Samariter, wenn er das ewige Leben gewinnen will, also die nachhaltigste Form von Leben, die es geben kann. Es wäre aus Sicht dieses Gleichnisses offenbar eindeutig falsch, wenn man den Glauben zur nachhaltigen Ressource hin zum ewigen Leben erklären würde. Jesus sagt schlicht: „Dann geh und handle genauso!“ (Lk 10,37) Es kommt offenbar auf eine Identifizierung an, die der Frage nach dem richtigen oder falschen Glauben vorausliegt. Der Samariter mag noch so falsch glauben, aber er tut genau das, was nachhaltig richtig ist.

Wenn also Glauben nicht nachhaltig sein kann, was ist es dann? Haben die Kirche und ihr Evangelium, haben die Christen und ihr Glauben, haben Theologie und ihre Wahrheiten dann überhaupt etwas zur Fragestellung beizutragen? Das haben sie durchaus und es ist auf dem letzten Konzil entdeckt worden.

Von der Nachhaltigkeit der Gegenwart

Das Problem eines Glaubens, der für nachhaltig gehalten wird und deshalb zwangsläufig für überlegen ausgegeben werden muss, besteht nicht darin, dass das falsch ist. Wäre er falsch, wäre diese Behauptung ja schnell aus der Welt zu schaffen. Das Problem eines solchen Glaubens besteht vielmehr darin, dass diese Position nicht falsch sein kann. Nachhaltigkeitsprobleme wie der Klimawandel, Hungernöte aufgrund von Kriegswirren, Terrorismus etc. bestätigen eine solche Position ja; die Welt ist eben schlecht und sie ist der Erlösung bedürftig. Also stimmt die heilsökonomische Position, dass die heutige Menschheit das Evangelium nötig hat, um aus ihrer verworrenen und gefährlichen Situation herauszukommen, während diese Position sich keinerlei Risiken aussetzt, sich in diesen Schwierigkeiten bewähren zu müssen. Eine solche Bestätigung allerdings geschieht das nur scheinbar.

Wer eine erhabene, selbstreferentielle Position einnimmt, kann zwar von diesen Problemen nicht belangt werden, weil man sich von ihnen abteilt (dividing). Aber davon nicht betroffen zu sein, bedeutet lediglich, dass die eigene Heilsökonomie bedeutungslos ist. Sie macht keinen Unterschied und wird nicht riskiert. Wer den Glauben in Nachhaltigkeitskrisen nicht riskiert, kann ihn nicht als Ressource einbringen. Er ist dann lediglich für diejenigen Menschen eine Möglichkeit, die sowieso schon davon überzeugt sind, dass die Welt relativ ist, der Glaube dagegen bleibend und ihr deshalb in jeder Hinsicht überlegen. Die Behauptung, glauben sei nachhaltig, führt in aller Regel zur Fundamentalisierung einer Religionsgemeinschaft.

Das ist ein riesiges Problem für religiöse Positionen. Es macht sie anfällig für Ideologie und es macht sie blind über die eigenen Falschheiten. Der Schritt zur Fundamentalisierung eines Glaubens gehört zur religiösen Grundausstattung; er ist jederzeit möglich und leider nicht einfach eine leicht erkennbare missbräuchliche Verwendung eines Glaubens. Aus diesem Grund beginnt die jesuanische Glaubensbotschaft mit einem Hinweis auf die Unfähigkeit  des Glaubens zur Nachhaltigkeit: „Kehrt um!“ Wer das Reich Gottes glaubt, muss von dem Glauben wegkommen, den sie oder er für dauernd gesichert hielt. Erst die Umkehr, also die Selbstrelativierung, befähigt zum Glauben. Diese Umkehr ist kein einmaliger Akt, sondern eine beständige Haltung. Sie ist nicht der Ursprung des Evangeliums, vielmehr kommt es von ihr her. Selbstrelativierung ist daher eine wichtige spirituelle Ressource, um zu den Nachhaltigkeitsfragen einen Beitrag leisten zu können.

Auf diese Selbstrelativierung hat das Konzil an vielen Stellen gesetzt, insbesondere in den beiden Kirchenkonstitutionen. In Lumen gentium sagt es, die Kirche sei „gleichsam Sakrament“, also Zeichen und Werkzeug für einen doppelten Vorgang: die Verbindung mit Gott und die Einheit der Menschen untereinander. Dem muss sie dienen.

Dann wird das sichtbar, was nachhaltig wirkt: das, was Menschen hier und jetzt so sehr bedrängt, dass sie dabei um ihre Würde ringen müssen. Das sind die Zeichen der Zeit in der Sprachregelung des Konzils. Im Unterschied zum Glauben sind sie eine nachhaltige Ressource, die es zu bearbeiten, zu pflegen und zu verbreiten gilt; denn diese Zeichen der Zeit offenbaren etwas, was nicht vergehen wird, bis es gelöst ist. Das war die große Entdeckung des Zweiten Vatikanischen Konzils, die heute die Kirche befähigen kann, zum Problem der Nachhaltigkeit etwas beizutragen. Diese Zeichen sind nachhaltig, weil sie eben nicht relativ sind. Sie bleiben da, so lange sie nicht aufgelöst werden. So lange Menschen um die Anerkennung ihrer Würde ringen müssen, bleiben die Zeichen dafür in der Zeit jeweils bestehen. Dieses Ringen ist nicht abstrakt, sondern stets sehr konkret auf historische Umstände in Raum und Zeit bezogen. Die nachhaltige Ressource, die diese Zeichen bereitstellen, sind Räume, die so anders sind, dass man ihnen schlecht ausweichen kann. Das hat das Konzil nicht mehr so gesagt, aber daraufhin kann man die Zeichen der Zeit aus meiner Sicht erfassen. Ich komme gleich darauf zurück.

Es ist also genau umgekehrt, als man es lange Zeit dachte und auch propagierte: nämlich dass der Glaube nachhaltig sei, weil auf Dauer angelegt und gültig, während die Zeichen der Zeit bloß relativ wären. Aber kontinuierlich sind die Zeit und ihre Zeichen; die Zeit dauert fortlaufend an und die Zeichen der Zeit sind ständig und dauerhaft verfügbar, weil sie nicht einfach vergehen. Der Glaube dagegen muss sich selbst überschreiten und insbesondere seinen Hang zur Selbstreferenz hinter sich lassen. Und das ist dann ein wichtiges Element, um einen Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten. Dieser Zusammenhang dürfte überraschen, weil er eine lange gehegte Überzeugung über die Grammatik des Glaubens umdreht und einen Zugang zum Konzil anbietet, der insbesondere im mainstream der deutschen Theologie jahrzehntelang bestritten worden ist.

Ich habe oben behauptet, wer sich allein auf sich bezieht und die anderen außen vor lässt, kann die Überlebensfrage der Nachhaltigkeit nicht erfassen und wird bestenfalls wenig zu ihrer Lösung beitragen, wahrscheinlich aber das Problem verschärfen. Selbstreferenz ist unfähig zur Umkehr. Das ist eine Illusion, weil nicht nur der Staat, wie es das berühmte Böckenfördesche Paradoxon formuliert,[5] sondern auch die Kirche von Voraussetzungen lebt, die sie nicht garantieren kann – Jesus, dem Juden, das Alte Testament, die Menschenrechte, vor allem das auf Religionsfreiheit, die Lebensentscheidung der Gläubigen zu glauben. Das sind allesamt Voraussetzungen, die die Kirche nicht garantieren kann, die sie aber nötig hat. Eine weitere dieser Voraussetzungen ist die Gegenwart Gottes bei den Menschen, die um die Anerkennung ihrer Würde ringen. Diese Gegenwart steht nicht einfach zur Verfügung, sie muss entdeckt werden.

Dafür gibt es zwei Voraussetzungen, die aufeinander folgen. Die erste besteht darin, dass der Glauben dem nicht ausweicht, was sich unter Menschen zeigt. Darauf hebt die Schlusspassage von Gaudium et spes ab. So heißt es in der Nr. 92: „Die Sehnsucht nach einem solchen Gespräch, die allein von der Liebe zur Wahrheit geleitet wird, schließt - freilich unter Wahrung der angemessenen Klugheit - von unserer Seite niemanden aus, weder jene, die die vortrefflichen Güter des menschlichen Herzens pflegen, ihren Urheber aber noch nicht anerkennen, noch jene, die sich der Kirche entgegenstellen und sie auf vielfältige Weisen verfolgen. Da Gott, der Vater, Ursprung und Ziel von allem ist, sind wir alle dazu berufen, Brüder zu sein. Und deshalb können und müssen wir, in eben dieser menschlichen und göttlichen Berufung berufen, ohne Gewalt, ohne List zusammenarbeiten, um eine Welt in wahrem Frieden aufzubauen.“ Niemanden auszuschließen ist die Voraussetzung dafür, dass die Kirche überhaupt die Entdeckung von Zeichen der Zeit machen kann. Sie folgen nach der Nr. 11 der Pastoralkonstitution einem Dreischritt: erstens die Anerkennung, dass es keinen Ort gibt, an dem Gottes Geist nicht Thema werden kann; zweitens das Teilen von Bedürfnissen und Wünschen der Zeitgenossen im Sinne von sharing und schließlich drittens die Suche nach möglichen Zeichen Gottes in diesen Geschehnissen.

Zeichen der Zeit, die zugleich offenbarenden Charakter für die Lage der Menschheit wie für die Gegenwart Gottes haben, hinterlassen Spuren. Sie geschehen nicht und sind dann vorüber. Sie sind nachhaltig mit solchen Orten verbunden, an denen Menschen um die Anerkennung ihrer Würde durch andere ringen: Lampedusa, ein Hospiz, die ‚Omega-Suites‘,[6] die Folterkeller der Bürgerkriegszonen, Srebrenica, die Vernichtungslager der Shoa, aber auch die unscheinbaren Kreuze am Straßenrand, wo jemand ums Leben kam, die Tagelöhnermärkte in Großstädten, etc. Solche Orte sind keine Utopien des Lebens, wo Träume kristallisieren. Es sind andere Orte, an denen Hoffnung überlebensnotwendig ist, aber oft genug von Verzweiflung völlig zudeckt wird. Diese Orte haben heterotopen Charakter. Es handelt sich um Räume, denen man lieber ausweichen würde, weil sie die liebgewordene oder die herrschende Ordnung der Dinge in Frage stellen, aber denen man nicht ausweichen kann. Sie muten ein Scheitern zu, das die Gefahr mit sich bringt, überzuspringen.

Während Utopien vorübergehend sind, weil sie immer auf einen künftigen Zustand ausgerichtet sind, der jetzt allein mit Disziplinierungsmechanismen präsent sind, sind Heterotopien einfach da und bleiben als stumme Herausforderung im Raum stehen, auch wenn der sich verändert. Heterotopien halten Erinnerungen wach selbst dann, wenn diese vergessen werden. Im Wandel der Zeit sind diese Räume beständig da.[7] Sie geben Herausforderungen nachhaltig Raum, denen man nur mit einem dividing ausweichen kann, das nicht nachhaltig die Probleme bearbeiten kann, die sich dort stellen. Der Glaube verfügt über die spirituellen Ressourcen, sich diesen Heterotopien auszusetzen. Er stellt sich damit einer Selbstrelativierung, die der Lokalisierung Gottes in diesen Heterotopien Platz macht. Sie ist nicht revolutionär, also nicht auf den einmaligen, besonderen historischen Durchbruch ausgerichtet. Sie ist nachhaltig in der Praktizierung einer Alternative am Werk. Diese Selbstrelativierung wirkt als ‚contre-conduite‘, wie Foucault die Selbstdisziplinierung in der sog. Pastoralmacht des christlichen Pastorats genannt hat.[8] Diese Ressourcen des Glaubens räumen eine Relativität Gottes und ebenso die Selbstrelativierung der eigenen Abgeschlossenheit ein. Dabei wird eingeräumt, dass es besser anders weiter geht, als man es bis dahin für ausgemacht hält.

Die Verbindung zwischen dieser Hetero-Topologie der Zeichen der Zeit und der Relativität des Glaubens zu dieser Gegenwart schafft Platz für solche Menschen, die um ihre Würde ringen müssen und die deshalb Nachhaltigkeitsprobleme sichtbar machen. Man kann nicht ihr Schicksal teilen, wohl aber den Raum mit ihnen teilen, denen sie ausgesetzt sind. Während in dem Abteilen – dividing – etwas kleiner wird, worauf es ankäme, um nachhaltig wirksam zu sein – nämlich die Empathie mit Betroffenen, wächst im Teilen – sharing – etwas, was nachhaltig an den Problemen ausharren lässt, die sich hier zeigen und gelöst gehören. Es wächst Hoffnung. Sie wächst aus der Relativität des Glaubens zu den Zeichen der Zeit heraus, weil sie eine Identifizierung mit betroffenen Menschen und zugleich einen Widerstand gegen ein selbstverständliches Weiter-So ermöglicht. Nur wer Hoffnung hat, kann in hoffnungslos erscheinenden verfahrenen Situationen einerseits die Utopien ablegen, die hier nicht mehr gehen, und andererseits sich auf das hin umstellen, was jetzt hier Not tut.


Verzeichnis verwendeter Literatur

Böckenförde, Ernst-Wolfgang. „Staat-Gesellschaft-Kirche.“ In Schriften zu Staat, Gesellschaft, Kirche. Vol. III. Freiburg: Herder, 1990.

Cerutti, Maria Vittoria. „Religio, religiones e la questione della «verità». Aspetti del confronto tra pagani e cristiani nella tarda antichitàdi.“ In Sulle tracce della verità. Percorsi religiosi tra antico e contemporaneo. Ed. Angela Maria Mazzanti. Bologna: ESD, 2008, p. 64-211.

Davidson, Arnold I. „In praise of counter-conduct.” History of Human Sciences 24/4 (2011): 25-41.

Devlin, Lucinda. The Omega Suites. Göttingen: Steidl, 2000.

Foucault, Michel. „Nietzsche, die Genealogie, die Historie.“ In Schriften in vier Bänden Dits et Ecrits. Vol 2. Frankfurt: Suhrkamp, 2002.

Foucault, Michel. „Von anderen Räumen.“ In Schriften in vier Bänden Dits et Ecrits. Vol 4. Frankfurt: Suhrkamp, 2005.

Foucault, Michel. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt: Suhrkamp, 2006.

Hunt, Lynn. Inventing Human Rights. A History. New York: Norton, 2007.

Joas, Hans. Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin: Suhrkamp, 2011

Nietzsche, Friedrich. „Zur Genealogie der Moral.“ In Kritische Studienausgabe. Vol. 5, edited by Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München/Berlin: dtv/de Gruyter, 1988.

Polke, Christian. Öffentliche Religion in der Demokratie. Eine Untersuchung zur weltanschaulichen Neutralität des Staates. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2009.

Rahner, Karl. Hörer des Wortes. Schriften zur Religionsphilosophie und zur Grundlegung der Theologie. Sämtliche Werke Bd. 4. Bearbeitet von Albert Raffelt. Benziger: Solothurn, 1997.

Riedl,  Matthias. „Vera religio — ein Schlüsselbegriff im politischen Denken des spätantiken Christentums.“ In Der Begriff der Religion. Interdisziplinäre Perspektiven. Hg. von Mathias Hildebrandt. Wiesbaden: VS, 2008, S. 33-58.

Schott, Jeremy M. Christianity, empire, and the making of religion in late antiquity. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2008.

Tutino, Stefania. Empire of souls. Robert Bellarmine and the Christian commonwealth. Oxford: Oxford Univ. Press, 2010.


[1] Friedrich Nietzsche hat diese Differenz eingeführt (Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral”, S. 258-264). 1971 hat dann Michel Foucault daraus eine kategoriale Differenz geformt, um die Bedeutung des Diskurses für Wissensformen herauszustellen. Er nannte das im Unterschied zur von Historikern betriebenen Geschichtsschreibung „wirkliche Geschichte“, deren Fakten erst durch den Diskurs zu fassen sind, in dem sie überhaupt zu fassen sind (vgl. Foucault, “Nietzsche, die Genealogie, die Historie”, S. 180). Hinter dieser Differenz steckt der Unterschied von Prozess und Zeit und damit ein relativistischer Zusammenhang, auf den Nietzsche noch gar nicht und Foucault nur kursorisch zu sprechen kommen. Geschichte ist relativ zu den Diskursen, die die Relativität von zeitlichen Abläufen fassen.

[2] Diesen Zusammenhang hat Nachhaltigkeit mit den Menschenrechten gemeinsam, weshalb Nachhaltigkeitsdebatten auch mit Respekt vor elementaren Rechten betroffener Menschen verbunden ist.  Die Kultur der Empathie in den Menschenrechten hat entdeckt Hunt, Inventing Human Rights. Ohne diese Kultur, so ihr Argument, wäre keine Identifizierung mit Menschen, deren Menschenrechte  missachtet und attackiert werden, aufgekommen. Davon setzt sich ab Joas, Die Sakralität der Person, der Genealogie ausdrücklich nicht in der Tradition von Nietzsche und Foucault verstehen will. Ähnlich wie der Streit zwischen diesen zwei Positionen geht es bei der Nachhaltigkeit um die Frage, wie historisch valide Realitäten mit politisch wirksamen Positionen zu verbinden sind.

[3] Für die antiken Wurzeln und ihre christliche Beanspruchung vgl. Cerutti, Maria Vittoria: „Religio, religiones e la questione della «verità». Aspetti del confronto tra pagani e cristiani nella tarda antichitàdi.“ In Sulle tracce della verità. Percorsi religiosi tra antico e contemporaneo. Ed. Angela Maria Mazzanti. Bologna: ESD, 2008, p. 64-211, sowie und Riedl, „Vera religio — ein Schlüsselbegriff im politischen Denken des spätantiken Christentums.“ Für die Identitätspolitik in dem Konzept vgl. Schott, Jeremy M. Christianity, empire, and the making of religion in late antiquity. – In ihrer neuzeitlichen Verarbeitung durch den gegenreformatorischen Katholizismus stützt die vera religio Disziplinarregimes, die auf das Innere von Menschen zugreifen wollen. Vor allem in der Fassung von Robert Bellarmin wandelt sich die Vorstellung von einer öffentlichen, vom Subjekt unabhängigen Position zu einer auf die Innerlichkeit des individuellen Menschen zugeschnittenen Disziplinartechnologie; vgl. dazu Tutino, Empire of Souls. Diese geht dann allerdings in den späten Zeiten des katholischen Milieus wirklich auf, während ihre Macht in der Gegenwart weitgehend zerbrochen ist.

[4] Rahner, Hörer des Wortes.

[5] Vgl. Böckenförde, „Staat-Gesellschaft-Kirche“; vgl. auch Polke, Öffentliche Religion in der Demokratie, S. 22ff.

[6] So nennt Lucinda Devlin die Hinrichtungsorte, die für die Todesstrafe in den USA vorgehalten werden und die sie dokumentiert hat (vgl. Devlin, The Omega Suites).

[7] So die Konzeption dieser räumlich markierten Zeit bei Foucault, „Von anderen Räumen“.

[8] Vgl. Davidson, „In praise of counter-conduct”, der damit die Analyse von Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 292 als Durchbruch politischen Denkens herausstellen will.

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