Gott zu lieben. Johannes Paul II (1920 – 2005)

Beitrag von Prof. Dr. Krzysztof Michalski (+2013), Boston University/IWM

Wir danken Herrn Dr. Ludger Hagedorn, dem Leiter des Krzysztof Michalski Archivs am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien für die freundliche Genehmigung zum Abdruck dieses Beitrags.


»Liebst du mich?«, fragte Christus, nach dem Evangelium des heiligen Johannes, im Fortgehen seinen Schüler Simon Petrus.

»Liebst du mich?«, sagte Kardinal Wojtyla in der römischen Kirche des heiligen Stanislaus während der Messe für den eben verstorbenen Johannes Paul I, »das ist die einzige Frage, in deren Licht wir jedes Pontifikat und jede menschliche Angelegenheit betrachten müssen.«

Ein paar Tage später wurde Kardinal Wojtyla zu Johannes Paul II gewählt. Wenn wir also seiner Aufforderung Folge leisten wollen, dann müssen wir auch sein Pontifikat im Licht dieser Frage betrachten.

Nur: Was bedeutet das, »Gott zu lieben«?

Es ist leicht, diese Wendung aus allen anderen – gewöhnlichen, »bloß menschlichen« – Zusammenhängen zu reißen, daraus etwas für die Festtage, die Sonntage zu machen, eine Wendung einer besonderen, sakralen Sprache, die wir nur selten gebrauchen und nach Möglichkeit nicht mit den banalen Tätigkeiten des Alltags in Verbindung zu bringen suchen. Dieselbe Gefahr droht unserer Erinnerung an diesen zur Gottesliebe aufrufenden Papst: dass er bloß zu einem Kult wird, der manchmal hysterische Formen annimmt, dass wir seiner zwar mit Tränen in den Augen gedenken – aber in unseren späteren Handlungen wird sich keine Spur mehr von ihm finden.

Wozu also rief uns dieser Papst auf, welche »Liebe Gottes« verlangte er von uns?

Sein Ausgangspunkt war natürlich die im Evangelium erzählte Geschichte von Jesus: dieses jungen Juden, der vor zweitausend Jahren dazu aufrief, Haus und Familie, Freunde, Besitz und Pflichten hinter sich zu lassen – und ihm zu folgen. Die Geschichte jenes jungen Juden, der mit dieser Aufforderung Dynamit unter die Fundamente seiner Gesellschaft legte – und gleichzeitig unter die Fundamente jeder erdenklichen menschlichen Ordnung.

Für Karol Wojtyla – so wie auch für alle anderen Christen – wirft diese Geschichte ein scharfes Licht auf die menschliche Kondition. Sie bringt zum Vorschein, was im menschlichen Leben am wichtigsten ist. Das sind eben nicht das Heim, die Familie, die Pflichten, wie wichtig diese auch sein mögen. Nicht die gesellschaftliche oder die moralische Ordnung. »Die Gerechtigkeit« – so sagte einst der Papst in einem Gespräch mit Jozef Tischner und mir – »ist nicht das letzte Wort der Göttlichen Ökonomie in der Geschichte der Welt und der Geschichte des Menschen«. Strafe und Belohnung – so würde ich diese Worte interpretieren – sind nicht die letzten Kategorien des menschlichen Schicksals. Der Sinn unserer Kondition entzieht sich jeder Rechnung, auch jeder moralischen Rechnung; keine derartige Rechnung, auch wenn wir sie »transzendent« nennen wollten, wird unsere letzte Instanz sein. In der Perspektive der Geschichte Jesu erweist sich jede Ordnung, jedes Recht, jedes moralische Gebot als nur einstweilig, nur relativ. Diese Begriffe werden mit einem Fragezeichen versehen.

Das bedeutet natürlich nicht, dass Ordnung schlechthin überflüssig und ebenso wenig, dass jegliche Moral relativ wäre. Dass man tun und lassen kann, was einem gefällt. Nein, das meinte der Papst mit Sicherheit nicht. Es gibt eine Forderung, die bedingungslos erfüllt werden muss. Dann – und erst dann – erhält jede gesellschaftliche oder moralische Ordnung ihre verpflichtende Bedeutung. Diese Forderung ist – so sagt Wojtyla mit dem Evangelium des heiligen Johannes – die Liebe. Die Liebe »mit ganzem Herzen, der ganzen Seele, der ganzen Kraft und dem ganzen Denken«, eine Liebe, die keine Bedingungen kennt, keine Verdienste und keine Grenzen. So eine Liebe ist die »Liebe Gottes«, »die Liebe Christi«.

»Liebe…und tu, was du willst«, schrieb der heilige Augustinus.

Aber wer, was ist Gegenstand dieser Liebe? Und zwar für uns, hier und heute? Doch sicher nicht dieser junge Jude aus Palästina vor zweitausend Jahren? Nein, natürlich nicht. Adressat der Liebe, zu der Christus aufruft – der christlichen Liebe – soll jeder Mensch sein, der sie braucht: der Nächste. Diese Liebe – so verstehe ich die Botschaft Karol Wojtylas – ist die Bereitschaft, dem Anderen zu helfen, ohne Rücksicht, wer er ist; das ist die Antwort auf das menschliche Leiden, ohne Rücksicht, woher es stammt, egal, ob dieses Leiden selbst verschuldet wurde oder nicht. »Gott will«,so sagte der Papst einst zu Tischner und mir – »dass alle Menschen erlöst werden [also auch jene, die Böses tun, auch die Verbrecher, die Sünder]: Gott ist die Liebe«.

»Wir kennen Gott allein durch Jesus Christus«, schrieb einst Pascal. Wir kennen Gott nur in der menschlichen Gestalt. Gott ist vor allem in der Aufforderung zur Hilfe anwesend, wie sie das Leiden des Anderen darstellt – in der bedingungslosen Aufforderung, ohne Rücksicht auf jegliche Kalkulation von Gewinn und Verlust, Belohnung und Strafe. Die Antwort auf eine solche Aufforderung, die Antwort auf das Leiden, ungeachtet, woher es stammt – das ist die Liebe, »die Liebe Gottes«: eine Liebe, stärker als alles andere. Durch diese Liebe können wir im anderen Menschen mehr entdecken, als nur den Schurken oder den Gerechten; wir können in ihm unseren Nächsten sehen. Durch diese Liebe können wir im anderen Menschen auch Gott entdecken: denn durch diese Liebe, durch die Fähigkeit, sich selbst für den Anderen zu opfern, durch die Nächstenliebe – so sagt eine Passage aus der Konzilskonstitution über die Kirche in der Welt von heute, die der Papst auswendig konnte – ist der Mensch Gott ähnlich.

Das ist nicht einfach. Es ist nicht einfach, auf diese Aufforderung zur Hilfe zu antworten: auf die »Aufforderung Christi«. Verlangt es doch die Bereitschaft, sich selber zu überwinden: die Bereitschaft, sein Heim zu verlassen, die Nächsten zu verlassen, die bislang wichtigen Dinge hinter sich zu lassen. Die eigene Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sich selber zu opfern. »Wessen Herz zittert nicht« – so sagte der Papst zu Jozef Tischner und mir – »wenn Gott fragt, wie Christus damals den Petrus fragte: ›Liebst du mich?‹ … Diese Frage Gottes ist doch ein Gebot der Liebe, das danach verlangt, auf sich zu verzichten … ein Gebot, das alles menschliche Maß übersteigt.«

Wenn Du leidest, helfe ich Dir – so verstehe ich die Aufforderung zur Liebe, von der der Papst gesprochen hat. Wenn Du leidest, helfe ich Dir. Ganz egal, wer du auch sein magst. Eine Witwe, ein Schurke, ein Feind. So gut ich kann. Vielleicht unbeholfen. Vielleicht auf ganz falsche Weise. Dann werde ich dafür die Verantwortung tragen müssen. Auch dich befreit meine Hilfe nicht von der Verantwortung für das, was du getan hast; weder von der Strafe, noch von der Belohnung. Und doch werde ich mich bedingungslos und nach besten Kräften bemühen, dir alles zu geben, was ich habe, alles, was ich bin – um dir zu helfen.

So eine Bereitschaft – so eine Liebe – überschreitet mit Gewissheit das Maß des Menschen. In diesem Sinne ist sie »göttlich«.

Letzten Endes, so sagt der Papst, »ist das Kreuz die Voraussetzung der Erlösung.«

»Ist es nicht die Aufgabe« – so sagte uns der Papst weiter – »die Christus dem Petrus und seinen Nachfolgern übertragen hat, das Zeugnis dieser Wahrheit abzulegen? ›Liebst du mich mehr als die anderen hier?‹, fragte er Petrus; mit dieser Frage wollte Christus ihm zu verstehen geben, dass er ihn mehr als alle anderen lieben muss, unabdingbar, wenn er ›meine Lämmer weiden‹ will.«

Und tatsächlich: War das Pontifikat von Johannes Paul II nicht ein immer überzeugenderer Beweis für diese Wahrheit? Karol Wojtyla begriff seine päpstliche Mission zweifellos vor allem als Suche nach den leidenden Menschen – um ihnen zu helfen. Als Suche nach den verschiedenen Formen des menschlichen Leidens – um dieses zu lindern. »Wir antworten auf die Aufforderung Christi« – sagte der Papst während seiner ersten Reise nach Polen – »indem wir den Menschen suchen, der leidet … Auf diese Weise entsteht – durch das Herz eines jeden einzelnen von uns – die Größe einer allgemeinen menschlichen Solidarität. Es ist die Aufgabe der Kirche, diese Größe zu hüten. Sich nicht in irgendwelche Abgrenzungen zu zwängen, in irgendwelche politischen Bedingungen, in irgendwelche Systeme. Es ist die Aufgabe der Kirche, die menschliche Solidarität mit allem, was leidet, zu hüten.«

»Solange« – sagte uns der Papst seinerzeit – »der stumme Schrei der Unterdrückten, der Gefangenen, der Versklavten, der Vernichteten durch die Welt tönt, so lange wird es die Aufgabe der Kirche sein, diesen Schrei zu hören und zu Hilfe zu eilen.«

 Gleichzeitig wurde sein eigenes Leben, beginnend mit dem Attentat auf dem Petersplatz, über die zunehmenden und immer gefährlicheren Krankheiten, ganz sicher bewusst und offen zu einer verstärkten Demonstration des Leidens. Eines unverdienten Leidens, eines Leidens, das schließlich kein Ausdruck von Strafe war, sondern ein Beweis für die menschliche Kondition: ein Symptom der menschlichen Schwäche, der menschlichen Gebrechlichkeit, der Hilfsbedürftigkeit – und damit auch eine Aufforderung zur bedingungslosen Liebe, zur »Göttlichen« Liebe, die alles ignoriert, alle Schuld, alle Strafe, alle Belohnung.

Diese Schwäche, diese Gebrechlichkeit, dieses Leiden führen zum Tod; unsere Sterblichkeit ist der überzeugendste Beweis für unsere Hilfsbedürftigkeit, unser Bedürfnis nach bedingungsloser Liebe, sie ist die Hand, die sich dem Schmerz entgegenstreckt, der Ruf um Hilfe, wie der Ruf Gottes am Kreuz vor dem Sterben, von dem Matthäus und Markus berichten.

»Der Text des Evangeliums des heiligen Johannes« – so sagte Kardinal Wojtyla während jener Messe für Johannes Paul I – »findet seine Fortsetzung [nach der Frage Christi an Simon Petrus: ›Liebst du mich?‹]. Christus spricht die geheimnisvollen Worte: ›Als du noch jung warst, hast du dich selbst gegürtet und konntest gehen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, … (wird) ein anderer … dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst‹. Geheimnisvolle Worte. Rätselhaft. … Der Evangelist fügt hinzu, dass Christus ihm durch diese Worte andeuten wollte, durch welchen Tod er Gott verherrlichen solle.

Und daher hat auch in dieser Aufforderung, gerichtet nach der Auferstehung Christi an Simon Petrus, Christi Befehl: ›Folge mir nach!‹ eine doppelte Bedeutung. Es ist die Aufforderung zu dienen, es ist aber auch eine Aufforderung zum Sterben.«

So sprach Karol Wojtyla anlässlich des Todes von Johannes Paul I und wenige Tage vor Beginn seines eigenen Pontifikats.

Später, in seinen letzten Jahren, kamen diese Fernsehbilder, die uns vor Mitleid sprachlos machten und gleichzeitig schockierten, irritierten, manchmal waren sie geradezu peinlich. Die Bilder seines Leidens und seines langsamen Todes. Wir leben in einer Kultur, die das Leiden und den Tod vom Horizont unserer Aufmerksamkeit verdrängt, sie irgendwo versteckt, wegschließt: das Ideal dieser Kultur ist die Gesundheit, die physische Vitalität, die potentielle Unsterblichkeit. In einer Welt, deren Priester weiße Kittel tragen, in einer Welt von Diät und Fitness, erscheint das Leiden als Arbeitsunfall, als missglückte Anästhesie – und der Tod als pathologische Erscheinung, die man mit der Zeit wird ausmerzen müssen. Einer solchen Welt mussten die Bilder des leidenden und sterbenden Papstes fremd sein; sie mussten sie schockieren, ihren guten Geschmack beleidigen, die Konventionen brechen, die Grenzen des Erlaubten überschreiten.

Und dennoch, vielleicht liegt gerade in der Tatsache, dass die Bilder des in Schmerzen sterbenden Papstes verletzen, aufwühlen und alle Grenzen überschreiten, dass sie so sehr unsere Sensibilität beleidigen, vielleicht liegt gerade darin die Chance für uns, durch die Nebel der Konventionen und Gewohnheiten das zu sehen, was uns der Papst damit zeigen wollte: Das menschliche Leiden und den menschlichen Tod als Aufforderung zur bedingungslosen – und damit »göttlichen« – Liebe. Als Quelle der Hoffnung, dass diese Aufforderung nicht unbeantwortet bleibt.

»Wir tragen unablässig in unserem Leib das Sterben Jesu, damit sich das Leben Jesu in unserem Körper offenbare«: diese Worte des heiligen Paulus scheinen mir sehr gut wiederzugeben, wie Johannes Paul II seine Mission und sein Leben begriffen hat.

Die Liebe Gottes – die sich in der bedingungslosen Nächstenliebe äußert, die sich jedem Plan, jedem Programm, allen Berechnungen, was dafür und was dagegen spricht, entzieht – ist nach der aus seiner Lebenserfahrung gewonnenen Überzeugung von Johannes Paul II das Fundament der Religion. Nicht das Recht (so sehr wir dieses auch benötigen). Auch nicht die gewiss richtigen Dogmen (obwohl er vielleicht der Ansicht war, dass man ohne diese nicht auskommen könne). Nicht die Moral (obwohl ein menschliches Leben ohne sie unmöglich ist). Nur die Liebe. Und wenn das so ist – dann ist eine Religion ohne Freiheit nicht möglich. Denn erst der freie Mensch kann wirklich lieben, seinen Nächsten lieben. »Die Religion« – sagte uns der Papst – »ist die Beziehung des freien Menschen zu Gott.« Die Freiheit ist die Luft, ohne die die Religion erstickt, ohne die sie nicht leben kann. Die Aufforderung zur Barmherzigkeit muss Hand in Hand gehen mit dem absoluten Respekt für die unveräußerlichen Rechte der menschlichen Person, mit einer unbeschränkten Anerkennung der Würde jedes einzelnen Menschen.

Ich glaube, es wäre angebracht, auch an das soziale und politische Engagement von Johannes Paul II diesen Maßstab anzulegen, den Maßstab der Frage: »Liebst du mich? Liebst du mich mehr als die anderen?« Natürlich hatte der Papst ganz bestimmte politische und philosophische Ansichten, die selbstverständlich auf seine Handlungen einwirkten. Aber das war nicht das Wichtigste. Nicht seine Ansichten verliehen seinem Leben diese erstaunliche Konsequenz, nicht seine Ansichten waren der Motor dieses Lebens. Es war vielmehr die Strategie der Liebe: die unablässige Suche nach dem menschlichen Schmerz – um zu helfen, um ihn zu lindern, um eine Antwort darauf zu finden. Diese Suche prägte sein Verhalten, das Verhalten, mit dem er die Geschichte bewegte, und das im Alltag. Sie prägte das Interesse, mit dem er sich den Menschen zuwandte, die er traf, jedem einzelnen, individuell. Voll innerer Freude und Herzlichkeit, durch die er in so vielen von uns eine Flamme entfachte, eine bislang verborgene Wärme der Seele weckte.

Selbstverständlich sind die philosophischen Theorien oder Ideologien nicht unwichtig – aber für sich selber haben sie nicht viel zu bedeuten. Ihr Maß – so verstehe ich Karol Wojtyla – ist das Leiden, das sie zufügen, oder die Hilfe, die sie zu bringen vermögen. Ihr wahrer Prüfstein, ihr experimentum crucis, ist die Situation, in der jemand Not leidet; wenn jemand um Hilfe ruft: können sie diese leisten? Oder bringen sie, im Gegenteil, nicht noch mehr Schmerzen, noch größeres Unglück?

In den Augen von Johannes Paul II ist das Maß des Lebens – und das Maß der päpstlichen Mission – die Liebe, nicht das Wissen.

Die Betrachtungen von Karol Wojtyla und später Johannes Paul II über die Gesellschaft und Politik wurden geprägt durch die Erfahrung des Bösen, die Erfahrung gefährlicher gesellschaftlicher Pathologien von bislang unbekanntem Ausmaß, von denen nach seiner Erkenntnis das zwanzigste Jahrhundert gekennzeichnet war. Das waren vor allem die Erfahrungen des Krieges, des Nazismus und Kommunismus. Die Wurzeln des Übels des zwanzigsten Jahrhunderts suchte der Papst, so wie auch andere, in den Ideologien und Philosophien dieses Jahrhunderts: zum Beispiel in einigen Aspekten der deutschen intellektuellen Tradition oder auch im Marxismus. Auch in der ein paar Jahrhunderte älteren Überzeugung – verbunden mit der Aufklärung – dass der Mensch ein autarkes Wesen ist, dass er selber imstande ist, das Böse in der Welt zu bekämpfen (während der Papst meinte, der Mensch sei nicht autark, denn über ihn entscheide das Ausstrecken der Hand nach etwas, was ihn überragt: dem Bedürfnis nach Liebe).

In diesen philosophischen Überlegungen hatte Wojtyla meines Erachtens manchmal recht, manchmal aber auch nicht. Aber auch in diesem Falle waren nicht seine philosophischen Thesen wirklich wichtig. Sein Widerstand gegen den Nazismus erklärte sich nicht aus seiner Ablehnung der Ideen Nietzsches. Sein Widerstand gegen den Kommunismus stützte sich nicht primär auf die Überzeugung, dass nicht das Sein das Bewusstsein bestimmt. Es war vielmehr umgekehrt: Die von den deutschen Soldaten in den Straßen erschossenen und in den Gaskammern ermordeten Menschen, und dann die sowjetischen Konzentrationslager und das sich hinter einer humanistischen Phraseologie verbergende Krebsgeschwür, das die Gesellschaft um ihn herum befallen hatte, ein Krebsgeschwür, dessen Symptome Armut, Unterdrückung, Ausbeutung, Unfreiheit waren: das waren die Wurzeln seines Widerspruchs, das war es, worum es Wojtyla in Wahrheit ging, das bedeutete den Anfang seines non possum.

Charakteristisch in unserem Kontext ist der Unterschied, den der Papst zwischen Nazismus und Kommunismus sah. Natürlich nicht in dem Sinn, dass der eine besser oder schlechter wäre als der andere. Doch in den Augen Karol Wojtylas, der in Polen den Krieg und die Jahre danach erlebte, war es wichtiger, über den Kommunismus zu reflektieren und nachzudenken; für einen Polen jener Zeit stellte der Nazismus keine mögliche intellektuelle oder politische Option dar – der Kommunismus schon. Der Kommunismus, so argumentierte der Papst, war eine universell angelegte Ideologie, keine rassistische – mehr noch, er gab eine Antwort (wenn auch eine pathologische) auf ein echtes, universelles Problem: das Problem der sozialen Ungerechtigkeit. Der Kommunismus erwuchs aus der Auflehnung gegen die soziale Ungerechtigkeit – und das machte seine Kraft aus. Daher können wir, so sagte der Papst, in der tragischen Geschichte des Kommunismus aufs neue Wahrheiten entdecken, die jedem Christen bekannt sein sollten: dass nämlich die Kirche aus dem menschlichen Schmerzen geboren wird und dass sie die Antwort auf das menschliche Leiden darstellen soll.

Auch die moderne, liberale und demokratische Gesellschaft des Westens war für den Papst Gegenstand der Kritik und Sorge. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Voraussetzung für diese Kritik und Sorge die Freude war über das wunderbare Geschenk der Freiheit, einer Freiheit, wie sie die Menschen bislang noch nicht gekannt hatten. Daher die ungeheure Bedeutung der Aufklärung in der Geschichte Europas: dieses Öffnen der Fenster, um frische Luft einzulassen, diese Eruption, Explosion der Freiheit, diese Befreiung. Daher, so sagte der Papst, knüpft die Aufklärung an die Tradition des Evangeliums an: das Evangelium verkündet schließlich seit Jahrtausenden die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen.

Natürlich bedeutet die Freiheit noch nicht alles: man muss sie auch richtig gebrauchen. Die Losung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurde oft – allzu oft – für niedrige Ziele missbraucht, als Begründung für Versklavung, Ausbeutung und Gewalt. Auch die Tradition der Aufklärung, darauf wies der Papst oftmals hin, hat eine zweite, dunkle Seite, so wie jede menschliche Tradition.

In diesem Zusammenhang stellte sich auch die Frage nach dem Verhältnis der Kirche zur Demokratie. Die Kirche stand ihr bekanntlich anfangs sehr skeptisch gegenüber; die Monarchie erschien den Bischöfen als natürliche politische Ordnung. Auch die Demokratie erlebte in den letzten zweihundert Jahren so manche innere Krise. Heute aber sieht man, – und der Papst war meines Erachtens zutiefst davon überzeugt – dass die Demokratie besser als jedes andere bislang bekannte politische System die Freiheit des Menschen zu garantieren vermag, die individuelle Freiheit ebenso wie die kollektive.

Die Demokratie ist keineswegs selbständig; ihre Lebensquellen liegen außerhalb ihrer, sie lebt von Vorräten, die sie selber nicht zu schaffen vermag. Man muss sie also in einer breiteren Perspektive sehen. Für den Papst ist diese Perspektive natürlich das Christentum. Das bedeutet jedoch nicht, wenn ich ihn richtig verstehe, dass wir die Kirche als übergeordnete politische Instanz des Parlaments, der Regierung oder der Gerichte ansehen sollen. Die Kirche ist keine politische Institution. Sie kann das Maß des menschlichen Zusammenlebens sein, das Gewissen der Individuen und der Gesellschaften – und Johannes Paul II legte mit seinen Worten und seinem Leben Zeugnis ab für diese Möglichkeit –, wenn sie es versteht, die Antwort auf ständig neue Formen des menschlichen Leidens zu sein, die Erinnerung an Normen, die älter sind als die menschliche Zeit: an die Normen der Liebe.

Aus dem Polnischen von Martin Pollack


Erversöffentlichung: Transit. Europäische Revue 29 (2005).

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