Beitrag von Ao. Univ.-Prof. Dr. Andreas Vonach, Universität Innsbruck
Phänomene wie Globalisierung, weltweite Vernetzung oder Infragestellung von Gewohntem und Bewährtem durch Infiltration anderer Lebens- und Denkweisen bieten einerseits Chancen, bergen andererseits aber auch Gefahren in sich. Viele Menschen unserer Zeit können ein Lied davon singen. Die genannten Entwicklungen lassen die Zeit schnelllebig und das Leben kurz sowie den Alltag hektisch erscheinen. Was für die einen zu ökonomischem und wirtschaftlichem Aufschwung verbunden mit persönlichem Reichtum führt, treibt andere in die innere Emigration, in Not und Armut. Kurzum: Manche Menschen vermögen die Gelegenheiten, die das moderne Leben bietet, für sich zu nutzen, andere können dies weniger und gehen daran sukzessiv zugrunde.
Das Koheletbuch spiegelt eine ähnliche Situation wider, und Kohelet singt auch ein Lied davon, das „Lied über die Zeit“ nämlich, in Koh 3,1-8. Er schreibt dieses Gedicht/Lied im Jerusalem der letzten Dekaden des 3. Jhs. v. Chr., das von großen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüchen heimgesucht wird. Der Grund dafür liegt in einer Art Globalisierung, die durch die zunehmende Vernetzung und Verschmelzung der vorderorientalischen, ägyptischen und hellenistischen Welt entstanden ist. Kulturen, Lebens- und Denkweisen, aber auch religiöse Einstellungen und Ausdrucksformen trafen aufeinander, forderten einander heraus und stellten sich zum Teil auch gegenseitig in Frage. In weiten Kreisen der judäischen Bevölkerung führte dies zu Verunsicherungen, Ängsten und emotionalen Überforderungen. Dazu kam, dass die jerusalemer Aristokratie und die Großgrundbesitzer sich zunehmend auf Kosten der ärmeren Bevölkerungssegmente selbst bereicherten und dadurch jene immer mehr in die Armut trieben. In den weisheitlichen Kreisen der jüdischen Gemeinschaft versuchte man sich den Entwicklungen zu stellen und Antworten auf die neuen Lebensherausforderungen auf Basis der eigenen tradierten Religion und Theologie zu geben. Das Koheletbuch versteht sich als ein solcher Antwortversuch; im dritten Kapitel widmet es sich der Frage nach einem adäquaten Umgang mit der Schnelllebigkeit der Zeit und dem daraus erwachsenden Gefühl der Kürze des Lebens und der Hektik des Alltags, das nicht Wenige die grundsätzliche Sinnfrage des Lebens stellen ließ. An die Spitze seiner diesbezüglichen Überlegungen stellt der Autor ein Gedicht:
v1 Alles hat seine Stunde,
für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine Zeit:
v2 eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben,
eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen,
v3 eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen,
eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Aufbauen,
v4 eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen,
eine Zeit zum Klagen und eine Zeit zum Tanzen,
v5 eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln,
eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit zum Lösen der Umarmung,
v6 eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren,
eine Zeit zum Aufbewahren und eine Zeit zum Wegwerfen,
v7 eine Zeit zum Zerreißen und eine Zeit zum Zusammennähen,
eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden,
v8 eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen,
eine Zeit des Krieges und eine Zeit des Friedens.
Das Gedicht besteht aus einem programmatischen Mottovers (v1) und 14 Gegensatzpaaren (v2-8). Im Mottovers bringt Kohelet mit der Aussage, dass es für alles eine Zeit gibt, einerseits das Gefühl der Schnelllebigkeit zum Ausdruck (Augenblick für Augenblick ist mit etwas Bestimmtem und vom Vorherigen Verschiedenem gefüllt), andererseits auch die Erkenntnis, dass nicht jeder Zeitpunkt für jede Tätigkeit sinnvoll bzw. nicht jedes Tun zu jeder Zeit möglich ist. In den 14 Gegensatzpaaren stehen einander jeweils Möglichkeiten oder Gegebenheiten gegenüber, die allesamt der allgemeinen menschlichen Erfahrung entstammen. Zum Leben gehört das Gebären ebenso wie das Sterben, gehören Zeiten des Weinens genauso wie solche des Lachens und die Realität von Krieg ebenso wie die von Frieden. Es geht bei den Gegensatzpaaren nicht um gute versus schlechte, anzustrebende versus abzulehnende oder um ideale versus unvermeidbare Akte, sondern in den beiden Polen wird jeweils eine Ganzheit zur Sprache gebracht, also auch alles ausgedrückt, was zwischen ihnen liegt. So stellt das Gedicht als Ganzes sozusagen sämtliche einzelnen Augenblicke eines individuellen menschlichen Lebens dar und will damit zeigen, dass jedem Zeitabschnitt ein bestimmter Inhalt zukommt. Die Darstellung in Gegensatzpaaren unterstreicht dabei einerseits die Fülle und Breite der dem einzelnen Menschen insgesamt zur Verfügung stehenden Zeit, veranschaulicht andererseits aber auch die zeitliche Begrenztheit der einzelnen Augenblicke und damit zugleich die Kontingenz und Bruchstückhaftigkeit einzelner menschlicher Handlungen und Erfahrungen. Damit wird aber keineswegs eine Prädestination oder ein Ausgeliefertsein des Menschen dem jeweiligen Zeitabschnitt gegenüber ausgesagt, sondern im Gegenteil eine Offenheit der verschieden erlebten Momente des individuellen Lebens für eine entsprechend freie Ausgestaltung. Somit hängt das Scheitern oder Gelingen einzelner Lebensabschnitte und auch des Lebens als Ganzem stark vom jeweiligen frei gewählten Agieren ab. Dass nicht zu jeder Zeit jede beliebige Tätigkeit wirklich sinnvoll oder auch möglich ist, zeigt Kohelet durch die Gegensätze an; es ist beispielsweise unsinnig und unangebracht zu lachen, wenn die Situation eigentlich zum Weinen ist, und zu weinen die zielführendere und auch zufriedenstellendere Haltung wäre etc. Mit der Interpretation des Gedichts in den v9-14 bietet Kohelet konkrete Handlungsanweisungen zur Umsetzung dieser theoretischen Erkenntnis im menschlichen Lebensalltag.
v9: Welches Bleibende hat der Handelnde bei dem, womit er sich müht?
v10: Ich betrachtete das Geschäft das Gott den Menschenkindern gegeben hat, um sich damit zu beschäftigen. v11: Alles hat er schön gemacht zu seiner Zeit, auch die längere Dauer hat er in ihr Herz gegeben, aber ohne dass der Mensch findet das Werk, das Gott gemacht hat, vom Anfang bis zum Ende.
v12: Ich erkannte, dass nichts Besseres in ihnen ist, als sich zu freuen und Gutes zu tun in seinem Leben. v13: Aber auch jeder Mensch, dass er isst und trinkt und Gutes sieht bei all seiner Mühe, eine Gabe Gottes ist das.
v14: Ich erkannte, dass alles, was Gott macht, für die längere Dauer ist. Dazu ist nichts hinzuzufügen und davon ist nichts wegzunehmen, aber Gott hat gemacht, dass man vor ihm Ehrfurcht haben kann.
Auf eine rhetorische Frage (v9) folgt eine weisheitlich-philosophische Beobachtung der Lebenswirklichkeit (v10-11), aus der dann zwei Schlussfolgerungen gezogen werden (v12-13 bzw. v14). V9 stellt die Frage, ob individuelles menschliches Handeln zu einem bleibenden Gewinn für den betreffenden Menschen führen kann. Die Frage ist rhetorisch und die implizite Antwort lautet „nein“, denn das Leben des einzelnen Menschen ist begrenzt und kurz. Bleibendes kann es somit nicht geben. Hat dann aber mühsame Gestaltung des kurzen Lebens überhaupt einen Sinn?, fragt Kohelet in v10 weiter. Darauf wird er selbst die explizite Antwort „ja“ geben. Zunächst stellt er als gläubiger Judäer fest, dass nicht nur der Mensch als solcher, sondern auch dessen Möglichkeit und Auftrag sein Leben und die Welt zu gestalten, in Gottes Schöpfungsplan grundgelegt ist (v10). Der Mensch zur Zeit Kohelets erfährt – da er gleichsam nach dem Sündenfall lebt – die Welt und sein eigenes Leben zwar nicht mehr als „gut“ oder gar „sehr gut“ (vgl. Gen 1), wohl aber noch als „schön“ (v11a). Er kann dies trotz dem Wissen um die Kürze und Begrenztheit seines Daseins bei gleichzeitig festgestellter Schnelllebigkeit der Welt, in der er sich befindet, deshalb so empfinden, weil Gott in ihm schöpfungsmäßig auch die Transzendenzfähigkeit grundgelegt hat. Jeder Mensch kann über sich selbst, über seine eigene Lebenszeit und sogar über die reine Welterfahrung hinaus denken (v11b), weil Gott eben mehr in sein Herz gegeben hat. Gottes Schöpfung als Ganze und auch die Weltzeit haben weit über ein einzelnes Menschenleben hinaus Bedeutung und Schönheit, wodurch das Tun jedes Individuums in seiner Zeit Anteil an diesem Ganzen erhält. In diese tiefe Wirklichkeit – so v11b – hat der Mensch zwar Einsicht, aber nicht den gesamten Überblick; letzterer bleibt dem Schöpfer vorbehalten. Daher (v12) muss es Ziel jedes Menschen sein, das Beste aus seinem Leben zu machen (sich freuen, essen, trinken etc.), dabei aber stets die Solidarität mit und die Verantwortung für andere Menschen und die Welt (Gutes tun im Leben) im Blick zu behalten. Die Möglichkeiten und Fähigkeiten dazu hat man von Gott bekommen und soll ihm dafür auch dankbar sein (v14).
Die Kunst erfüllten und guten Lebens besteht also nach Kohelet darin, die zur Verfügung stehende Zeit zu nutzen, indem man die einzelnen Zeitabschnitte mit sinnvollen Inhalten füllt. Was wann sinnvoll ist, muss jeder Mensch immer wieder aufs Neue entscheiden, indem er wachsam und aufgeschlossen im Jetzt zu leben versucht und das jeweils Beste aus dem gegebenen Augenblick macht.
Gerade in einer schnelllebigen und vielfältig geprägten Zeit ist dies immer wieder eine Herausforderung, der auch wir uns zu stellen aufgefordert sind. Kohelet kann uns dabei ermutigen: Carpe diem, indem du das Beste aus ihm machst, dabei aber auch deine Verantwortung nicht vergisst! – Das ist der Wille Gottes.
Andreas Vonach (Innsbruck)
erstveröffentlicht in: Bibel heute 46/181 (2010) 11-13