Beitrag von Dr. Ernst Pucher
Nach einem öfters zitierten Wort von Thomas von Aquin ist Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit grausam, Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit die Mutter der Auflösung. (Comm. in Matthaeum V,2)
Damit befinden wir uns bereits mitten in der komplexen Wirklichkeit von „Kirche“, die als Nachfolgegemeinschaft Jesu die menschgewordene Liebe und Barmherzigkeit Gottes gerecht zu leben und zu verkünden hat. Die rechtlich verfasste Institution „Kirche“ bietet ihren Gliedern diesbezüglich Identität, Einheit und – im Rückgriff auf bewährte Traditionen – Entlastung von ständiger Neu-Begründung.
Eine Momentaufnahme in der Entwicklung der Kirche
Überall, wo es eine Gesellschaft, ein Zusammenleben von Menschen gibt, gibt es auch „Recht“ – das lehrt die Erfahrung. Die Kirche ist die „Gesellschaft Gottes“, sein Volk: In ihr gibt es darum „sein“ Recht. Dieses ist jedoch nie endgültig-abschließend, sondern beständig neu zu formulieren. Die Kirche ist Ort der Gemeinschaft (communio) Gottes mit den Menschen. Diese Gemeinschaft mit Gott und untereinander gilt es zu erhalten und zu pflegen. Dazu gibt es Regeln, die das geistliche Tun der Kirche ordnen, fördern und schützen – sie sind im Kirchenrecht zu finden.
Recht im Dienst am geistlichen Leben
Die Kirche als „Sakrament“ ist Zeichen und Werkzeug Gottes für jenes Leben, das er der Welt in und durch Jesus Christus bringen will. In ihm hat Gott alles angenommen, was wahrhaft menschlich ist, und führt es in sein „Reich“, in den Herrschaftsbereich seiner Liebe. Gott schenkt dieses „neue Leben“ bereits im Sakrament der Taufe, und doch muss es im Leben erst bewährt werden. Auch das Recht der Kirche trägt dazu bei, dass das „richtige“, das „rechte“ Leben in der Kirche und vor Gott gelingen kann.
In diesem Sinne erlässt die Kirche Weisungen, sogenannte Canones (von lat. „Richtmaß“). Aus diesem Grund spricht man auch vom „kanonischen Recht“. Die letzte umfassende Regelung erfolgte für die römisch-katholische Kirche des Westens mit dem kirchlichen Gesetzbuch des „Codex Iuris Canonici“ (CIC) von 1983, für die mit Rom in Einheit lebenden Ostkirchen im „Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium“ (CCEO) von 1990. Gesetzgeber für die Gesamtkirche ist der Papst, gegebenenfalls mit einem allgemeinen Konzil. Im Falle der aktuellen kirchlichen Gesetzbücher von 1983 und 1990 war dies Johannes Paul II. Auf der Ebene der Ortskirche entscheiden Bischöfe und Bischofskonferenzen. Orden, Domkapitel, Vereine und katholische Universitäten haben das Recht der Eigengesetzgebung.
Inhalte und Fragestellungen
Der Codex Iuris Canonici umfasst sieben Bücher: Allgemeine Normen, Volk Gottes, Verkündigungsdienst (Wort Gottes, Mission, Erziehung, Kommunikation und Bekenntnis), Heiligungsdienst (Liturgie und Sakramente, Heilige Zeiten und Orte) sowie Fragen des Vermögens, Strafbestimmungen und eine Prozessordnung. Der CIC von 1983 stellt dabei kein dürres Regelwerk mehr dar, sondern bietet zu seinen Ausführungen ein theologisches Fundament. Dadurch besitzt er Potential für eine Interpretation und Anwendung, die dem geistlichen Leben in Frieden und Freiheit förderlich ist.
Gegenwärtige Problemfelder
Dennoch kritisieren viele TheologInnen, dass mit der Überarbeitung der Gesetzbücher ausschließlich Kirchenrechtler befasst waren, was eine radikale Aufnahme der im Zweiten Vatikanischen Konzil gegebenen Impulse erschwert oder gar verhindert habe. Tatsächlich hat das Konzil eine Richtung vorgegeben um viele, auch brandneue Fragestellungen für die Gegenwart weiterzudenken. Das ist absolut notwendig, will man nicht an der – für die Kirche herausfordernden – Lebenswirklichkeit der Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts vorübergehen.
Eine ständige Herausforderung für die Kirche bleibt gewiss auch die (Selbst-)Bescheidung ihres Kirchenrechts, das zwar innerhalb seiner Grenzen Regeln erlässt und nötigenfalls Sanktionen setzt, doch damit keinesfalls das Schicksal eines Menschen vor Gott entscheidet. Zugleich dürfen die Möglichkeiten des (kirchlichen) Rechts nicht verkürzt werden, indem es einfachhin mit „Gesetz“ gleichgesetzt wird: „Rechtliches Handeln verlangt vielmehr, nicht nur auf den Wortlaut eines Gesetzes zu achten, sondern mit Hilfe von übergeordneten Rechtsprinzipien wie Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit den Sinn des Gesetzes auf die konkrete Situation anzuwenden.“[1]
Bezug zu anderen Fächern
Es gibt kein Kirchenrecht ohne Fundierung in der biblischen Tradition als immer gültiger Maßstab und Korrektiv. Fragen wie die nach Gerechtigkeit oder sittlichen Werten führen in den Bereich der Theologischen Ethik. Die Dogmatik stellt den Handlungs- und Entscheidungsspielraum für die Formulierung kirchenrechtlicher Normen bereit, welche im besten Fall auch Erkenntnisse der praktisch-theologischen Fächer wie Pastoraltheologie oder Liturgik miteinbeziehen.
Infolge der nicht zuletzt mit Hilfe der Kirchengeschichte gewonnenen Einsicht der eigenen Zeitbedingtheit und Vorläufigkeit kann sich das Kirchenrecht nicht als „eherne“ Größe verstehen, sondern als ein dynamisches Werkzeug im Dienst am Volk Gottes. Für das kirchliche Leben in seinen Grundvollzügen der Verkündigung, der Liturgie und der Diakonie in größtmöglicher Einheit bietet das Kirchenrecht Orientierung, Instrumente zur Konfliktbewältigung und ein gutes Maß an Sicherheit, die Freiraum schafft.
Notwendigkeit und Nutzen des Kirchenrechts
Wo immer „einfache“ Gläubige und offizielle VertreterInnen der institutionell verfassten Kirche ihrem Auftrag zur Bezeugung des Evangeliums nachkommen, bewegen sie sich (auch) im Rahmen des kirchlichen Rechts: Es ordnet, strukturiert, vereinheitlicht und erleichtert damit die Organisation.
Zur Funktion des Rechts in der Kirche hat Papst Paul VI. richtungsweisend gesagt: „Das Recht stellt kein Hindernis, sondern eine Hilfe für die Seelsorge dar; es tötet nicht, sondern belebt. Seine vornehmste Aufgabe besteht nicht darin, Entwicklungen zu unterbinden oder sich dagegen zu stemmen, sondern das Recht will anregen, fördern, schützen und den Raum wahrer Freiheit verteidigen.“
oberstes Gesetz: das Heil der Seelen
Wer Kirchenrecht studiert hat, soll sich in seiner Kirche besser zurechtfinden, ohne sich dabei jedoch fraglos ihren Strukturen zu unterwerfen. Er soll das Recht der Kirche als ein „geistliches“ Recht verstehen, das mit dem Wesen der Kirche als „Heilssakrament“ zusammenhängt. Wo das nicht (genügend) geschieht, ist der verantwortete Ungehorsam im Dienst einer gerechten Rechtsordnung ultima ratio.
Der Schlusssatz des CIC (can. 1752) stellt abschließend noch einmal das „Heil der Seelen vor Augen, das in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muß.“
Dr. Ernst Pucher (bearbeitet und ergänzt von Ingrid Fischer)
Erstveröffentlichung: theologie aktuell. Die Zeitschrift der THEOLOGISCHEN KURSE, Sonderheft / 31. Jh. 2015/16, S. 68-70.
[1] So die Regensburger Kanonistin Sabine Demel, Spiritualität des Kirchenrechts, Münsterschwarzach 2009, 77.