Philosophie. Fragen nach dem Ganzen und dem Grund

Beitrag von Univ.-Prof. DDr. Reinhold Esterbauer

Um den Unterschied zwischen Philosophie und Theologie zu verdeutlichen, wird gerne das folgende Gleichnis erzählt, in dem die beiden Disziplinen allegorisch als Personen auftreten: Die Philosophie – so wird gesagt – gleiche einer Frau, die in einem völlig abgedunkelten Saal nach einem Raben hascht, indem sie sich wie ziellos durch den Raum bewegt und immer wieder ihre Handflächen aufeinanderschlägt, um den Vogel zu erfassen – allerdings erfolglos. Die Theologie hingegen gleiche einer Frau, die in einer Ecke desselben lichtlosen Zimmers sitzt, die Hände faltet und meint, sie halte den Raben schon zwischen den Händen fest.

An diesem Gleichnis – auch wenn es ungerechterweise die Theologie nicht gut wegkommen lässt – können einige Charakteristika aufgezeigt werden, die die Philosophie im Rahmen des Theologischen Kurses auszeichnen.

Uneingeschränkter Denkraum, unabschließbares Fragen

Es ist bezeichnend, dass die Frau, die nach dem Raben sucht, durch den ganzen Saal läuft, ohne je ihr Ziel (den Raben zu fassen) zu erreichen. Dies verdeutlicht die Denkbewegung der Philosophie, die vor nichts Halt macht und sich nicht schon am Anfang ihres Unternehmens Grenzen aufzwingen lässt. Die Philosophie macht alles zum Gegenstand ihres Nachdenkens, ja mehr noch, sie forscht nicht bloß nach allem und jedem, sondern sie fragt nach der Gesamtheit der Wirklichkeit. Während Fachwissenschaften ihre Meisterschaft darin finden, dass sie ihren Forschungsgegenstand begrenzen und einschränken, möchte die Philosophie solche Grenzen problematisieren und überschreiten, damit die Frage nach dem Ganzen ins Bewusstsein kommt. Daher reflektiert sie auch darüber, warum es die Wirklichkeit bzw. die Welt überhaupt gibt, warum etwas da ist und nicht vielmehr nie etwas entstanden ist. Andere Fragen, die ebenso umfassende Horizonte ins Nachdenken einbeziehen, betreffen die Sprache, Zeit und Geschichte, den Menschen, seine Freiheit, das Schöne und die Natur. Auch vor der Gottesfrage schreckt die Philosophie nicht zurück. Da es ihr um das Ganze geht, kann auch Gott nicht ausgespart bleiben.

Philosophie und die anderen Fächer

Im Unterschied zu den theologischen Fächern, die über die gleichen Themenbereiche nachdenken und ebenfalls auf die großen Menschheitsfragen nach Ursprung und Ende des Lebens Antworten suchen, greift die Philosophie weder auf das in der Bibel durch Menschen niedergeschriebene Wort Gottes noch auf die Tradition einer Glaubensgemeinschaft zurück. Vielmehr nimmt sie sich als Methode – also als Denkweg – vor, die angesprochenen Probleme allein mit den Mitteln der menschlichen Vernunft zu bedenken. Philosophische Argumente berufen sich demnach nicht auf den religiösen Glauben von Menschen, sondern auf die erschließende Kraft der Vernunft, die hilft, dem Staunen über die Wirklichkeit durch Denken zu entsprechen. Solches Staunen kann sich etwa im Gebet, in der Liturgie, in sozialem Engagement oder in der Kunst Ausdruck verschaffen – oder eben auch in der Suche nach Antworten durch Nachdenken und Reflektieren mit der Hilfe der Vernunft. Wenn dabei Gott zur Sprache kommt, so ist es gewöhnlich nicht der Gott, den Glaubende aus den heiligen Schriften  (wie aus der Bibel oder dem Koran) als den aus Sünde und Schuld rettenden Gott kennen, den sie namentlich anreden und mit dem sie in einer persönlichen Beziehung stehen, sondern der oft abstrakt gedachte letzte Grund für die Wirklichkeit, der Anfang und das Ende von Zeit und Geschichte oder die Leitlinie für menschliches Handeln.

Bezeichnend für das philosophische Fragen, das sich nur auf die Vernunft beruft, ist seine Unabgeschlossenheit. So behaupten viele, dass es in der Philosophie im Grunde keinen Fortschritt gebe, weil Antworten auf die zentralen Probleme von Menschen nicht auf der Grundlage von Beweisen gefunden werden können. Die Gedanken großer Philosophinnen und Philosophen sind, im Gegensatz etwa zu naturwissenschaftliche Theorien, die aus früheren  Jahrhunderten stammen, nie veraltet. Denn anstelle von definitiven Antworten geht es in der Philosophie immer neu um die Themen, die jeden ernsthaft lebenden Menschen umtreiben. So stellen unterschiedliche Strömungen in der Philosophie zwar oft dieselben Fragen, sie tun dies aber jeweils anders und neu, da jede Zeit mit ihren Lebensbedingungen eigene Blickwinkel und Ausgangspunkte für philosophische Gedanken hervorbringt.

Deshalb müsste man das eingangs vorgestellte Gleichnis insofern erweitern, als die Philosophie – allegorisch gesehen – nicht eine einzelne suchende Person ist. Vielmehr sind es zahlreiche Personen, die hintereinander und zugleich nach dem Raben fahnden, den sie nicht endgültig zu fassen bekommen. Letztlich markiert jeder über sich und die Welt nachdenkende Mensch eine der vielen unabschließbaren Suchbewegungen der Vernunft.

Streben nach Weisheit

Als weiterer Anhaltspunkt für die Charakterisierung von Philosophie im Theologischen Kurs bietet sich der Rabe an. Er ist ein Symbol dessen, was denn die Philosophie suche, selbst wenn ihr Bemühen offenbar an kein Ende kommen will. Wie schon erwähnt, stellt die Philosophie universale Fragen, die nicht hinreichend dadurch geklärt werden können, indem man die Fragehorizonte einengt und Spezialwissen gewinnt oder indem man bestimmte Methoden wie Zählen und Messen oder Umfragen anwendet. Die Philosophie hat in der Regel nicht die Möglichkeit, verschiedene Varianten mehrmals empirisch zu prüfen; vielmehr  muss sie sich auch mit dem Einmaligen, Unwiederbringlichen oder Unfassbaren auseinandersetzen. So ist es beispielsweise nicht möglich, mehrere Leben zu erproben, um herauszufinden, welches man selbst als gelungenes bezeichnen würde, um es dann als sein eigentliches wählen zu können. Selbst wenn man mehrere Leben zur Verfügung hätte, würden sich bei jedem die Voraussetzungen ändern; denn die Geschichte ist nicht wiederholbar ist, sondern schreitet stetig voran. Mit einem Wort: Es geht darum, hier und jetzt offen zu sein und jeweils das für jetzt als richtig Gehaltene zu tun. Folglich muss man, will man reflektiert leben, mit Einmaligem und mit nicht Wiederholbarem denkerisch umgehen, ohne dass sich eine bestimmte Form als „wissenschaftlich erwiesen“ und daher als richtig verallgemeinern ließe.

Fragestellungen

Philosophie sucht also nicht zuerst nach Daten, Fakten und Sicherheiten, sondern nach etwas Flüchtigem, das sich immer wieder entzieht, das deshalb immer wieder neu gesucht werden und um das man sich immer wieder neu bemühen muss. Mit dem Flüchtigen ist einerseits die Unsicherheit im Aufspüren zentraler Lebensfragen angedeutet, andererseits aber auch die Vorläufigkeit der Antwort auf existentielle Probleme.  Der Rabe im obigen Gleichnis verkörpert nicht zufällig dieses Flüchtige. Denn er steht in der Mythologie für die Weisheit. Diese sucht die Philosophie – bedeutet doch der griechische Begriff „Philosophie“ wörtlich „Liebe zur Weisheit“.

Es bleibt zu beachten, dass Philosophie nicht den Anspruch erhebt, Weisheit zu besitzen, sondern dass sie nach ihr strebt. Damit ist nicht nur die Vorläufigkeit aller philosophischen Erkenntnis betont, sondern auch gesagt, dass die Liebe zur Weisheit einschließt, dass man sich um diese bemüht. So entsteht für Philosophierende die paradox anmutende Situation, dass sie wissen, dass die Weisheit einerseits weder einen Wissensbestand meint noch je erreicht werden kann, aber dass sie andererseits das im Leben eigentlich Erstrebenswerte ist. Man sucht also etwas, das man weder besitzen noch einfach unbeachtet lassen kann.

Weisheit ist natürlich auch religiösen Menschen nicht fremd, auch wenn sie von ihnen oft mit Gott selbst in Bezug gebracht wird. Während sie nicht für alle Philosophien einen Gottesbezug aufweist, beginnt das biblische Buch der Sprichwörter mit der Aussage, dass die Gottesfurcht der Anfang der Weisheit sei (vgl. Spr 1,7). Hier wird die enge Verbindung von Philosophie und Theologie neuerlich sichtbar, auch wenn in der Philosophie der Gottesbezug gleichsam von außen bedacht wird.

Nutzen

Gegenwartsbezug und Religionskritik

Das anfangs erzählte Gleichnis hat, wenn man genau hinhört, einen kritischen Grundzug. Während die Philosophie als eine Person dargestellt wird, deren Streben an kein Ende kommt und daher aussichtlos erscheint, wirkt die Theologie passiv und übertrieben selbstgenügsam. Denkt man die Geschichte weiter, so ist zu vermuten, dass die Philosophie mit ihrer umtriebigen Ruhelosigkeit ihre Partnerin, die Theologie, verunsichern und möglicherweise aus ihrer Ecke scheuchen könnte. Daran können zwei weitere Aufgaben des Philosophie-Unterrichts im Theologischen Kurs verdeutlicht werden.

Zum einen hat Philosophie eine religionskritische Aufgabe. Es geht für sie dabei darum, festgefahrene Strukturen in konkreten Religionen zu hinterfragen und problematische Gottesbilder kritisch zu prüfen. Fehlformen von Religion etwa durch politische Vereinnahmung oder fundamentalistische Ideologisierung können durch vernünftiges Hinterfragen erkannt und aufgedeckt werden. Es ist also Aufgabe der Philosophie, nicht nur vernünftige Denkwege zu Gott zu erschließen, sondern auch vor Kurzschlüssen und Götzenbildungen zu warnen.

Zum anderen versucht Philosophie, aktuelles Denken und zeitgenössische Debatten unterschiedlicher Weltanschauungen aufzugreifen. Damit schafft sie die begrifflichen und inhaltlichen Voraussetzungen für eine sachgerechte Auseinandersetzung mit den „Zeichen der Zeit“ (GS Nr. 4), die in die Theologie Eingang finden. Nicht nur für die Inkulturation der christlichen Botschaft ins jeweilige Heute, sondern auch für pastorale Überlegungen werden auf diese Weise wichtige Voraussetzungen geschaffen.

Wie man sieht, hat das Fach Philosophie im Rahmen des Theologischen Kurses einen wichtigen Beitrag für ein theologisches Denken zu leisten, das nicht nur der eigenen Tradition verpflichtet ist, sondern auch auf der Höhe der Zeit sein will. Die Art und Weise, wie Philosophie diese Aufgabe zu erfüllen versucht, bezieht sich nicht auf die Innenperspektive des Glaubens, sondern auf die Außenperspektive, die sich auf menschliche Vernunft stützt. Dass Philosophie dabei an kein Ende kommt und einen offenen Weg einschlägt, macht die Eigenart ihres Denkens aus.

Univ.-Prof. DDr. Reinhold Esterbauer


Erstveröffentlichung: theologie aktuell. Die Zeitschrift der THEOLOGISCHEN KURSE, Sonderheft / 31. Jh. 2015/16, S. 77-80.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert