Von der Vergänglichkeit alles Irdischen im Koheletbuch

Beitrag von Ao. Univ.-Prof. Dr. Andreas Vonach / Universität Innsbruck

Den berühmten Mottovers des Buches Kohelet hebel habalim amar kohelet, hebel habalim, hakol hebel (hebr.) hat Martin Luther in seiner ersten Version der Lutherbibel wiedergegeben mit: Eitelkeit der Eitelkeiten … es ist alles eitel. Im deutschen Sprachverständnis des 16. Jahrhunderts hatte „eitel“ eine andere Bedeutung als heute und meinte soviel wie „verdorben, ungenießbar, unbrauchbar, leer, nichtig, …“. Einem solchen Verständnis entsprechen allerdings auch bereits die griechische und die lateinische Texttradition mit ihren Wiedergaben mataiotes bzw. vanitas. Dahinter steht die Grundprämisse, dass das Koheletbuch von einer negativen, pessimistischen, ja gar nihilistischen Weltsicht geprägt sei, eine Vorannahme, der auch heute noch zahlreiche Exegetinnen und Exegeten folgen.[1]

Immer mehr hat sich jedoch seit der Mitte des letzten Jahrhunderts die Gegenthese etablieren können, Kohelet sei ein vorsichtig optimistischer Realist, der sich mit der Frage nach Herkunft, Sinn und Ziel menschlicher Existenz auseinandersetzte und das Phänomen der Kontingenz und Vergänglichkeit des Lebens selbst, aber auch einzelner Momente, Erfahrungen und Empfindungen in Gottes unerforschlichen (Heils)plan gläubig zu integrieren vermochte.[2] Dementsprechend ist man auch der konkreten Grundbedeutung des bei Kohelet abstrakt gebrauchten Nomens hebel neuerlich auf den Grund gegangen und konnte das Wortfeld „Wind / Windhauch[3] / Verwehen“ ausmachen.

Windhauch: Kontingenz und Vergänglichkeit als Hermeneutisches Prinzip bei Kohelet

 Die Einsicht, dass alles im Leben Erfahrbare „Windhauch“ ist, also der Kontingenz im Gegensatz zur (oft ersehnten) Beständigkeit unterliegt, hat Kohelet gleichsam zur Grundhermeneutik seiner Schrift erhoben. Sein Rahmenstatement, dass alles Windhauch sei, kann daher – mehr konkret – dahingehend ausgelegt werden, dass alles menschlich Erfahrbare, ja letztlich alles Weltliche, vergänglich und der zumindest zeitlichen Beschränkung unterworfen ist. Damit rührt er an einem Grundproblem menschlicher Erfahrung: Welchen Sinn hat all das Tun, Bemühen, Streben und Arbeiten des Menschen, wenn es letztlich „für den Wind“ ist?

Als generelle Antwort auf diese Frage prägt Kohelet den Begriff des „Anteils“; es gibt nichts Bleibendes für den Menschen, aber er kann seinen Anteil am und vom Leben erhalten, leben und auch genießen:

Dies ist etwas, was ich eingesehen habe: Das vollkommene Glück besteht darin, dass jemand isst und trinkt und das Glück kennenlernt durch seinen eigenen Besitz, für den er sich unter der Sonne anstrengt während der wenigen Tage seines Lebens, die Gott ihm geschenkt hat. Denn das ist sein Anteil. Außerdem: Immer wenn Gott einem Menschen Reichtum und Wohlstand geschenkt und ihn ermächtigt hat, davon zu essen und seinen Anteil fortzutragen und durch seinen Besitz Freude zu gewinnen, besteht das eigentliche Geschenk Gottes darin, dass dieser Mensch sich nicht so oft daran erinnern muss, wie wenige Tage sein Leben zählt, weil Gott ihm Antwort gibt in der Freude seines Herzens. (Koh 5,17-19)

Dieses Konzept ist oft als purer Hedonismus missverstanden worden. Kohelet will aber alles andere denn als Stoiker oder Hedonist aufgefasst und abgetan zu werden. Es ist viel mehr sein beispielgebender gläubiger Realismus, der hinter solchen Kernaussagen des Koheletbuches steht. Die Genussfähigkeit des Menschen ist es, die ihn punktuell gleichsam für sein Streben belohnt, ihn aber auch dankbar werden lässt, dankbar gegenüber Gott, der dies überhaupt ermöglicht. Gleichzeitig soll sich der Mensch zwar der Kontingenz seines irdischen Daseins bewusst sein, aber nicht permanent darüber lamentieren. Der Mensch muss fähig bleiben, gerade auch angesichts der zeitlichen Limitierung seines Lebens, den ihm gebotenen und gebührenden „Anteil“ zu nehmen und die sich bietenden angenehmen Augenblicke seines Lebens zu genießen. Diese Momente sind von Gott gegeben und können daher nicht durch Eigeninitiative beliebig vermehrt werden. Vielmehr unterliegen auch sie der Begrenztheit, also dem Windhauchprinzip; die Kunst und Eigenverantwortung des Menschen besteht vielmehr darin, die entsprechenden Momente zu erkennen und zur gegebenen Zeit zu leben.[4] Überhaupt ist es die verantwortungsvollste und schwierigste Aufgabe des Menschen, grundsätzlich den kairos, den geeigneten Zeitpunkt für die entsprechenden gebotenen Tätigkeiten zu erkennen. Denn zweierlei ist für Kohelet auch gewiss, nämlich dass einerseits nicht jederzeit alles möglich ist (Koh 3,1-15) und dass andererseits das Anhäufen von Reich- und Besitztümern allein nicht glücklich, sondern im Gegenteil unglücklich, abhängig, unfrei und genussunfähig macht (Koh 2,20-23; 5,12-16). Der „Anteil“ ist eben ein Anteil, und damit und davon zu leben ist Kunst und Aufgabe des einzelnen Menschen, aber auch von menschlichen Gruppen und Gemeinschaften. Sowohl positive (glückliche) als auch negative (unglückliche) Momente gehören zum menschlichen Dasein und dessen Bewältigung, so das Koheletbuch, und beide sind „Windhauch“, sprich sie kommen, sie vergehen aber auch wieder und lassen sich nicht festhalten; die Kunst menschlicher Lebensgestaltung liegt nach Kohelet nun darin, die jeweiligen Momente rechtzeitig zu erkennen und richtig einzuschätzen, um so die einen gebührend genießen, die anderen entsprechend bewältigen zu können.

Kosmischer Windhauch – Oder gibt es eine Möglichkeit der Überwindung der irdischen Vergänglichkeit?

 Der Autor des Koheletbuches lebte und schrieb in einer Zeit (3. Jh. v. Chr.), in der es in Palästina noch keine Hoffnung auf eine Auferstehung, ein Jenseits, ein Leben nach dem Tod, etc. gab. Derartige Konzepte drangen allerdings sehr wohl über den ägyptischen, persischen und griechischen Kulturraum nach Palästina ein. Der gläubige Realist Kohelet hat solche Ideen vorsichtig in seine Windhauch-Lehre zu integrieren gewagt:

Denn jeder Mensch unterliegt dem Schicksal und auch die Tiere unterliegen dem Schicksal. Sie haben ein und dasselbe Schicksal. Wie diese sterben, so sterben jene. Beide haben ein und denselben Atem. Einen Vorteil des Menschen gegenüber dem Tier gibt es da nicht. Denn beide sind Windhauch. Beide gehen an ein und denselben Ort. Beide sind aus Staub entstanden, beide kehren zum Staub zurück. Wer weiß, ob der Atem der einzelnen Menschen wirklich nach oben steigt, während der Atem der Tiere ins Erdreich hinabsinkt? So habe ich eingesehen: Es gibt kein Glück, es sei denn, der Mensch kann durch sein Tun Freude gewinnen. Das ist sein Anteil. Denn wer könnte ihn dahin bringen zu sehen, was nach ihm sein wird? (Koh 3,19-22)

 Zunächst geht Kohelet hier auf die allgemein wahrnehmbare Tatsache ein, dass Mensch und Tier bezüglich des Todes das selbe Schicksal haben. Wenn ihre Lebenszeit abgelaufen ist, sterben sie.

Derselbe Lebensodem von Mensch und Tier wird betont; unter Rückgriff auf Schöpfungstheologie konstatiert Kohelet zunächst, dass durch die Gottesgabe dieses Odems Leben ermöglicht, durch den Entzug derselben Leben beendet wird. Mensch und Tier sind so gesehen sterblich und damit vergänglich (Windhauch). Die allzu greifbare Erfahrung, dass sowohl der Tierkadaver als auch der menschliche Leichnam am Ende verwesen und zu Erde zerfallen, wird in biblischer Diktion wiedergegeben,[5] dann jedoch erfolgt eine für die Lebenswelt Kohelets fast revolutionäre Frage. Gibt es doch einen Unterschied zwischen Mensch und Tier bezüglich des Todes und der Vergänglichkeit? Sinkt der Lebensodem der Tiere mit dem zerfallenden Körper ins Erdreich hinab, während jener des Menschen zu Gott, dem Schöpfer, hinaufsteigt? Und wenn ja, was heißt das? Kohelet lässt am Ende seines Buches keinen Zweifel daran, dass er persönlich davon überzeugt ist, dass gerade darin eine Überwindung des reinen Windhauch-Prinzips bezüglich des Menschen gegeben ist, wenn er in 12,7 festhält, dass der Staub auf die Erde zurückfällt als das, was er war, und der Atem zu Gott zurückkehrt, der ihn gegeben hat. Diese Sicherheit drückt er im dritten Kapitel noch nicht aus, da er generell bei seiner wissenschaftlichen Redlichkeit bleibt: „Wer weiß denn …“, und „wer könnte ihn dazu bringen zu sehen, was nach ihm sein wird?“. Kohelet wagt demnach deutlich zu hoffen, aber diesen Glauben nicht als wahre Tatsache auszusprechen. Er bleibt vorsichtig: Wir wissen nicht, was nach dem Tod sein wird, aber es besteht berechtigte Hoffnung auf eine wie immer geartete bleibende Identität des Menschen über den individuellen Tod hinaus. – Damit hat Kohelet unter Rückgriff auf Einflüsse aus der Umwelt in Israel einen Boden bereitet, der bislang theologisch tabu war.

Auf der sicheren Aussageebene jedoch bleibt er dabei: In diesem Leben ist es das beste für den Menschen, dass er seinen „Anteil“ nimmt, sprich die sich bietenden freudigen Momente ergreift und lebt. Denn was danach sein wird, dürfen wir zwar berechtigt hoffen, sicher wissen tun und können wir es aber nicht.

Genießen, aber in Verantwortung – Kohelets Appell zu einer Spiritualität der Zufriedenheit

 Insgesamt führt die Wahrnehmung der Vergänglichkeit menschlichen Daseins, aber auch jeglicher Anstrengung sowie allen Tuns und Mühens, gepaart mit der Einsicht, dass dies dem den Menschen entzogenen Ratschluss Gottes entspricht, den Autor des Koheletbuches zu einer Grundhaltung, die ich als „Spiritualität der Zufriedenheit“[6] bezeichnen würde. Damit scheint mir das Koheletbuch besonders „modern“ zu sein, denn gerade eine solche Einstellung würde meines Erachtens auch in unserer Zeit dazu führen, dass mehrere Menschen Werte wie Glück, Demut, Zufriedenheit, Freude, etc. trotz aller Kontingenz- und Ohnmachtserfahrungen neu (er)leben und schätzen lernen könnten. Die prägnanteste Zusammenfassung dieser von Kohelet empfohlenen Haltung findet sich in Koh 9,7-10a:

Wohlan, iss freudig dein Brot und trink vergnügt deinen Wein; denn längst hat der Gott gefallen an deinen Werken. Trag jederzeit frische Kleider und nie fehle duftendes Öl auf deinem Haupt. Mit einer Frau, die du liebst, genieß das Leben alle Tage deines Lebens voll Windhauch, die er dir unter der Sonne geschenkt hat, alle deine Tage voll Windhauch. Denn das ist dein Anteil am Leben und an dem Besitz, für den du dich unter der Sonne anstrengst. Alles, was deine Hand, solange du Kraft hast, zu tun vorfindet, das tu!

Essen, trinken und das Leben in trauter Zweisamkeit zu verbringen stehen noch einmal für die Möglichkeit, die sich bietenden schönen Augenblicke des Lebens zu ergreifen und zu genießen, und zwar nicht nur punktuell, sondern möglichst als Grundhaltung. Dies ist gottgegeben und auch gottgewollt; die frischen Kleider und das duftende Öl unterstreichen die Würde des Menschen, wie Gott sie schöpfungsgemäß angelegt hat. Diese Momente zu ergreifen ist umso wichtiger, als nicht nur einzelne Tage als solche schnell vergehen, sondern das Leben als ganzes „Windhauch“ ist. Aber auch hier betont Kohelet nochmals, dass es ihm nicht um puren Hedonismus, sondern um verantwortungsvollen Lebensgenuss geht. Wer grundsätzlich seiner Arbeit nachgeht und sich gewissenhaft um ein gutes (Zusammen)leben unter der Sonne bemüht, dessen Tun hat bereits Gefallen bei Gott gefunden. Im Blick ist ein Genuss der schönen Seiten des Lebens als Belohnung für das Bemühen um Verantwortung für das irdische Leben und Dasein insgesamt. Wenn das Leben des einzelnen Menschen auch vergänglich ist, so hat doch jeder und jede auch eine Grundverantwortung für diese Welt und das Leben auf und in ihr im Allgemeinen. Wer dem nachkommt, darf auch seinen „Anteil“ nehmen und die sich bietenden Gelegenheiten genießen. Dafür – davon ist Kohelet überzeugt – ist es allerdings notwendig, auch genießen zu können, sprich auch mit dem von Gott Gegebenen und Ermöglichten zufrieden sein zu können. Wer vor lauter Anhäufung von Reichtum nicht zum Genuss seines Besitzes fähig ist, ist letztlich nicht nur unglücklich, sondern er handelt gegen den Willen und Plan Gottes (Koh 6,1-2). Das „Leben voll Windhauch“ bedingt die Fähigkeit, „seinen Anteil nehmen“ zu können, oder mit anderen Worten, gerade angesichts der Begrenztheit und Vergänglichkeit des Lebens braucht es die Muße, das was möglich ist zu genießen, und mit den sich bietenden schönen Momenten zufrieden sein zu können. Auch wenn man auf eine bleibende Identität nach diesem Leben gläubig hofft, darf, soll und muss man zunächst im von Windhauch geprägten Diesseits leben und dieses verantwortungsvoll mitgestalten. Salopp gesagt lautet die Kernbotschaft Kohelets: Es gibt (auch) ein Leben vor dem Tod!

Ausblick

Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Metapher „Wind“ beziehungsweise „Windhauch“ bei Kohelet durchaus ambivalent, aber keineswegs rein negativ gebraucht wird.

Die grundsätzliche Kontingenz menschlicher Existenz wird in gleicher Weise als „Windhauch“ bezeichnet wie die Erfahrung negativer und deprimierender Momente, Ereignisse und Erlebnisse. Aber gerade darin liegt die positive Komponente der Botschaft Kohelets: Auch schwierige, beschwerliche, ja erdrückende Momente gehen vorüber; man muss sie nicht dauerhaft als schwer erfahren, genauso wie man gute, beglückende und positive Erlebnisse nicht festhalten und „einzementieren“ kann.

Die Unbeständigkeit des Windes hat für Kohelet nicht nur Nach-, sondern auch Vorteile; das Verwehen und Vergehen des Alten bedingt den Hauch von Neuem, von Frischem.

Kohelet lädt uns gleichsam ein, uns dem Wind zu stellen. In einer Zeit fortschreitender – und nicht aufhaltbarer – Globalisierung scheint mir im Sinne Kohelets ein zweifacher Impuls im Raum zu stehen: Einerseits mit Mut und Zuversicht neuen Wind in unsere teils verstaubten Gemächer zu lassen, andererseits aber auch dort, wo wir in unseren Grundsicherheiten bedroht sind, dem Wind zu trotzen und als gläubige und beständige, fest verwurzelte Menschen für unsere Werte einzutreten – aber nicht in fundamentalistischer Weise, sondern mit der Kohelet eigenen Gelassenheit: Windhauch, Windhauch … das ist alles Windhauch … Diese Gegebenheit realistisch ins eigene Leben zu integrieren, ist die bleibende Botschaft des Koheletbuches.

Ao. Univ.-Prof. Dr. Andreas Vonach / Universität Innsbruck


Erstveröffentlicht in: Inspiration: Zeitschrift für christliche Spiritualität und Lebensgestaltung 44/3 (2018) 8-13.


[1] Siehe dazu im Detail Vonach, Andreas: Das Dilemma der Vergänglichkeit – Ein Beitrag zur Wortwurzel hbl bei Kohelet. In: M. Augustin / H. M. Niemann (Hgg.), „Basel und Bibel“ (Beiträge zur Erforschung des Alten Testaments und des Antiken Judentums 51). Frankfurt a.M. 2004, 229-233, hier 229.

[2] Ich habe dies ausführlich dargelegt in Vonach, Andreas: Nähere dich um zu hören. Gottesvorstellungen und Glaubensvermittlung im Koheletbuch (Bonner Biblische Beiträge 125). Berlin / Bodenheim 1999.

[3] Dieser Übersetzungsmöglichkeit folgte auch Norbert Lohfink zutreffend in der deutschen Einheitsübersetzung der Bibel.

[4] Vgl. dazu ausführlich Vonach, Nähere dich, 60-62.

[5] Siehe Vonach, Nähere dich, 121-123.

[6] Vonach, Nähere dich, 151.

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