Radio Ö1: „(Philosophische) Gedanken für den Tag“ (Jänner 2017) von Dr. Peter Zeillinger.
Die Regeln der Zukunft erfinden (Jean-François Lyotard) – Sendung Mo, 2.1.2017
Die Zukunft das Jetzt bestimmen lassen (Bibel und Koran) – Sendung Di, 3.1.2017
Den Anfang vom Ende her schätzen lernen (Judith Butler) – Sendung Mi, 4.1.2017
Die Gerechtigkeit und das „Vielleicht“ (Jacques Derrida) – Sendung Do, 5.1.2017
Wer hat eigentlich das Asyl erfunden? – Sendung Fr, 6.1.2017
„Vielleicht wird das Unmögliche daher notwendig gewesen sein“. Der Zukunft Stimme verleihen (Alain Badiou und Jacques Derrida) – Sendung Sa, 7.1.2017
Die Regeln der Zukunft erfinden (Jean-François Lyotard) – Mo, 2.1.2017
Vor knapp 35 Jahren formulierte der französische Philosoph Jean-François Lyotard (1924-1998) einen Gedanken, der die Aufgabe der zeitgenössischen Philosophie mit der Offenheit der Zukunft verknüpft: Der Philosoph arbeitet – ebenso wie KünstlerInnen und SchriftstellerInnen –, um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird.[1]
Ein wenig einfacher ausgedrückt und auf das alltägliche Leben hin ausgerichtet, heißt dies: Es gilt, hier-und-jetzt jene Entscheidungen zu treffen, die sich in der Zukunft bewährt haben werden.
Das Besondere an diesem philosophischen Gedanken ist die Zeitform, in der er formuliert wird. Im Französischen wird sie als futur antérieur bezeichnet, weil sie die Zukunft irgendwie mit der Vergangenheit verbindet. Im Deutschen sprechen wir von der Vor-Zukunft oder einfach vom Futur II: Jene Entscheidungen treffen, Handlungen setzen und Regeln erfinden, die sich bewährt haben werden … – Kann das jemals mehr sein als ein schöner Traum?
Lyotards Gedanke ist durchaus nicht banal: Nehme ich ihn ernst, so darf ich meine Entscheidungen keineswegs beliebig fällen und kann mich auch nicht bloß Träumen hingeben. Ich muss mein Handeln vielmehr an der Zukunft selbst ausrichten. Ich muss im Namen der Zukunft handeln. Das heißt aber auch, dass ich nicht einfach unhinterfragt den gewohnten Vorstellungen und den eingefahrenen Wegen folgen kann, denn damit würde ich mich gerade nicht an der Zukunft, sondern an der Vergangenheit oder den gegenwärtigen Verhältnissen ausrichten. Die Orientierung an der Zukunft verlangt hier offensichtlich mehr Erfindergeist. Plötzlich bin ich selbst gefragt Verantwortung zu übernehmen und die Regeln dessen zu formulieren, was die Zukunft ausgemacht haben wird.
Durch eine solche Orientierung an der Zukunft kann jedenfalls eine Veränderung in die Gegenwart eingebracht werden, die sich nicht dem Zufall oder einem orientierungslosen Herumexperimentieren verdankt. Die Zukunft hat begonnen, bereits die Gegenwart zu prägen …
… und ich arbeite daran, dass dieses Jahr ein gutes gewesen sein wird.
Die Zukunft das Jetzt bestimmen lassen (Bibel und Koran) – Di, 3.1.2017
Warum nicht mit dem Koran beginnen – wenn es um die Zukunft geht.
In einer der historisch frühesten Suren des Koran – der Sure 93 – heißt es: „Das Letzte wird dir besser als das Erste sein.“ (Sure 93:4)[2] Die koranische Botschaft ist also von Anfang an an der Zukunft ausgerichtet. Die Verkündigung des Propheten Muḥammad reiht sich damit in die Tradition des Judentums und des Christentums ein, in denen ebenfalls die Bedeutung der Zukunft hervorgehoben wird.
Dies stellt keineswegs eine Jenseitsvertröstung dar, wie es leider oft missverstanden wurde. Im Gegenteil: Im Zentrum der Botschaft von der Zukunft steht das Handeln im Hier-und-Jetzt. Und das ist vermutlich nicht nur von religiösem Interesse.
In einem islamischen Hadith, einer mündlichen Überlieferung von Worten des Propheten Muḥammad, findet sich eine Erläuterung dieser Beziehung der Zukunft zur Gegenwart:
Der Prophet Muḥammad erzählte – heißt es da –: „Im Jenseits wird Gott einen Mann fragen: ‚Ich war krank und du hast mich nicht besucht, ich war hungrig und du hast mir nichts zu essen gegeben und ich war durstig und du hast mir nichts zu trinken gegeben’, der Mann wird daraufhin erstaunt fragen: ‚Aber du bist Gott, wie kannst du krank, durstig, oder hungrig sein?!’, da wird ihm Gott antworten: ‚Am Tag soundso war ein Bekannter von dir krank und du hast ihn nicht besucht, hättest du ihn besucht, hättest du mich bei ihm gefunden […].’“ [3]
Eine fast gleichlautende Erzählung findet sich auch im christlichen Neuen Testament, im 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums.
Das Besondere an diesen Erzählungen ist die Einsicht, dass sich die Zukunft im Hier-und-Jetzt entscheidet, dass das, was mein Leben ausgemacht haben wird / das, was unsere Welt gewesen sein wird, davon abhängt, wofür ich genau jetzt einstehe. Nicht die Orientierung am Gewohnten, sondern die Ausrichtung an der Zukunft besitzt tatsächlich die Fähigkeit, die Gegenwart zu verändern.
Und das ist vermutlich nicht nur von religiösem Interesse – und der Grund warum sich auch die zeitgenössische Philosophie dafür interessiert.
Den Anfang vom Ende her schätzen lernen (Judith Butler) – Mi, 4.1.2017
In einem ihrer jüngsten Bücher stellt die amerikanische Philosophin Judith Butler (*1956) einen ungewöhnlichen Bezug zwischen Tod und Leben her, wenn sie schreibt, dass nur dort, wo auch dem Tod Bedeutung zukommt, der Wert des Lebens zutage treten kann.
Zur Verdeutlichung dieses Gedankens entwirft sie ein zunächst befremdliches Bild: „In der Regel stellen wir uns vor [– schreibt sie –], ein Säugling kommt zur Welt und bleibt am Leben – in und durch diese Welt bis zum Erwachsenwerden und dann bis zum Alter –, um schließlich zu sterben. Wir stellen uns weiters vor, dass, sofern es sich um ein gewolltes Kind handelt, die Ankunft dieses Kindes gefeiert wird. Doch eine solche Feier ist nicht möglich […] ohne das Wissen, dass wir um den Verlust dieses Lebens trauern würden.“[4]
Wieso aber sollte man sich über ein Neugeborenes nur freuen können und jedes Leben nur dann schätzen, wenn man auch seinen Tod berücksichtigt? Vielleicht kann auch die Umkehrung den Gedanken nochmals verdeutlichen: Worüber sollte man sich an einem Leben, das ewig fortdauern würde, freuen? Das Leben selbst würde nichts Besonderes mehr sein.
Judith Butler geht es mit dieser Überlegung allerdings nicht darum, das Maß der „Freude über das Leben“ zu beschreiben und über das Maß der „Trauer beim Verlust des Lebens“ zu stellen. Ein solcher Vergleich würde am Ende stets der Trauer das letzte Wort überlassen müssen.
Die Absicht der Philosophin ist eine andere: Aufzuzeigen, dass nur dort, wo das Faktum des Todes wahrgenommen und betrauert wird, auch von einer Würdigung des Lebens gesprochen werden kann. Dort, wo ich über den Tod von anderen und die vielen kleinen Zerstörungen und Vernichtungen, die einem Leben zustoßen können, nicht mehr trauere, nehme ich auch ihr Leben nicht ernst.
Man kann es auch nochmals anders formulieren:
Das Ende nimmt dem, was begonnen hat, nichts weg, sondern prägt überhaupt erst seinen Wert.
Die Gerechtigkeit und das „Vielleicht“ (Jacques Derrida) – Do, 5.1.2017
Manchmal – nein: fast immer – kommt es auf die kleinen Dinge, die Feinheiten an.
So ist dies auch mit dem kleinen Wörtchen „vielleicht“, das im Werk des französischen Philosophen Jacques Derrida (1930-2004) eine zentrale Rolle spielt. Wer von Gerechtigkeit sprechen will, der muss dabei stets auf den Gestus des „Vielleicht“ achten, hat er 1989 in einem berühmt gewordenen Vortrag vor Juristen in New York formuliert.
Was hat es mit diesem „Vielleicht“ auf sich – denn es ist gerade das deutsche Wort, auf das sich Derrida immer wieder bezieht. Das Grimm’sche Wörterbuch hebt hervor, dass das deutsche Vielleicht ursprünglich keine Unsicherheit bezeichnet. Im Gegenteil. Es hat seine Wurzel im mittelhochdeutschen „vîl lihte“ („sehr leicht“) – im Sinn von „es kann sehr leicht sein, dass …“. Und das Wörterbuch betont, dass das Vielleicht demnach nicht das Ungewisse, sondern die „angenommene Möglichkeit“ vermittelt.
Wer also einen Satz mit einem „Vielleicht“ formuliert, der macht nicht bloß eine allgemeine Aussage oder verkündet ein objektives Urteil, sondern benennt das, von dem er annimmt, dass es die Wahrheit ist. Das heißt, in einen solchen Satz bindet sich der Sprecher / die Sprecherin an die Aussage und übernimmt damit die Verantwortung, dass es sich so verhält.
Dort, wo es um die Gerechtigkeit, insbesondere um ein gerechtes Urteil geht, wird dieses Vielleicht schließlich zum Zünglein an der Waage: Von keinen meiner Entscheidungen und Urteile kann ich behaupten, dass sie unumstößlich sind und alle Eventualitäten bereits berücksichtigt haben. Ich muss damit rechnen, dass die Zukunft einen neuen Blickwinkel einbringen kann. Ich muss also schon jetzt die Möglichkeit der Berufung durch den anderen und die andere zulassen. Im Gestus des Vielleicht wird für Derrida diese Bereitschaft zum Ausdruck gebracht.
Es ist nicht nötig, jedem Satz das Wort „vielleicht“ hinzuzufügen. Aber es wird – im Namen der Gerechtigkeit – vielleicht nötig gewesen sein, schon jetzt die Möglichkeit einer Berufung gegen mein Urteil anzuerkennen.
Wer hat eigentlich das Asyl erfunden? – Fr, 6.1.2017
Aus gegebenem Anlass habe ich mich einmal gefragt, wer eigentlich das Asyl erfunden hat. Irgendwie macht es keinen Sinn sich vorzustellen, dass ein Gesetzgeber oder eine Kultur das Phänomen des Asyls, also des Zufluchtsuchens an einem bestimmten Ort einmal erfunden hätte – und dass es davor diese Praxis nicht gegeben hätte. Wenn das Phänomen des Asyls demnach älter wäre als unsere tradierten Rechtsvorstellungen – worum geht es dann dabei genau?
In der frühgriechischen Kultur, noch vor der Ausbildung reflektierter rechtlicher Vorstellungen, gab es die Praxis, an einem Tempel und dort insbesondere am Altar, der dem häuslichen Herd vergleichbar war, Schutz zu suchen. Wer auf diesem Weg bei den Göttern Schutz fand, durfte von dort nicht weggerissen werden. „Nicht-wegreißen“, das ist auch die wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes asylon. Die Frage ist lediglich, warum diese Praxis eigentlich funktioniert hat. Wieso haben sich Menschen davon abhalten lassen, die Verfolgung eines anderen auch an einem Tempel fortzusetzen? Niemals ist doch jemand von einem Gott bestraft worden, wenn er es dennoch getan hat.
Um dieses Asylphänomen zu verstehen, muss man zunächst verstehen, wofür die Götter in den frühen Kulturen gestanden sind. Sie waren der Inbegriff des jeweiligen kulturellen Weltbildes, die Garanten der herrschenden Ordnung und standen daher auch für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wer an die Götter appellierte, etwa bei einem Eidversprechen oder eben im Fall der Asylflucht, der berief sich nicht auf äußere Prinzipien, sondern auf das, was die jeweilige Gesellschaft zusammenhielt. Es handelte sich also um eine Berufung auf die Grundlagen der Kultur vor Ort – und gegen deren Umsetzung in der Praxis. Das Faktum der Asylflucht hielt der jeweiligen Gesellschaft den Spiegel vor, wo genau die Differenz zwischen ihren Idealen und ihrem politischen Handeln gelegen war.
Das ist auch eine Form zu sagen: Was eine Gemeinschaft oder Kultur einmal im Rückblick gewesen sein wird, entscheidet sich an ihrem Handeln hier und jetzt.
„Vielleicht wird das Unmögliche daher notwendig gewesen sein“. Der Zukunft Stimme verleihen (Alain Badiou und Jacques Derrida) – Sa, 7.1.2017
Wenn man die Zukunft ernst nimmt, dann muss man ihr zugestehen, dass sie etwas Neues bringen kann und nicht bloß denjenigen Vorstellungen entspricht, die man sich schon jetzt von ihr macht oder denen man sie zu unterwerfen sucht.
Auf eine solche Zukunft kann man nicht vorbereitet sein, man kann höchstens versuchen, offen für sie zu werden und das Neue als Chance zu nehmen.
Der französische Philosoph Alain Badiou (*1937) hat sich Gedanken darüber gemacht, inwiefern etwas tatsächlich Neues jemals fruchtbar werden kann in den bestehenden Verhältnissen. Sein Begriff für das Neue ist der des „Ereignisses“ – nicht im Sinne des Spektakels, das man durchaus auch inszenieren kann und das daher nicht wirklich etwas Neues darstellt, sondern im Sinne des französischen évenement, also des e(x)-venire, des „Heraus-kommenden“, des plötzlich Auftauchenden.
Vor etwas grundlegend Neuem versagen die alten Worte. Ich werde mir daher etwas einfallen lassen müssen, ich werde mich in die bestehenden Verhältnisse einmischen müssen, damit das, was künftig fruchtbar werden soll, nicht unbemerkt, unverstanden und wirkungslos bleibt.
Das Neue an der Zukunft wird nur ankommen können, wenn ich es wage, ihm im Hier-und-Jetzt eine Stimme zu verleihen. Nur wenn es gelingt, dem Ungewohnten, dem, was vielleicht bisher als unmöglich schien, eine erkennbare Ausdrucksform zu geben, kann das Künftige in der Gegenwart ankommen. Im Sinne von Badiou und seinem Philosophenkollegen Jacques Derrida (1930-2004) gibt es ein wirkliches Ereignis nur dort, wo die kommende Zukunft jemanden dazu inspiriert von diesem Neuen genau hier-und-jetzt Zeugnis zu geben und damit die Gegenwart zu verändern.[5]
Gibt es eine solche Zukunft? Wird etwas Neues stattfinden? Sieht man auf die Sackgassen, in die die Gegenwart manchmal zu geraten scheint, so wäre man versucht zu sagen: Vielleicht wird das Unmögliche daher notwendig gewesen sein.
Wenn die Zukunft Neues bringen soll, dann werde ich jedenfalls aufgefordert sein, für dieses Neue einen konkreten Ausdruck zu finden.
Dr. Peter Zeillinger, Theologische Kurse
Erstveröffentlichung: Gedanken für den Tag, Radio Ö1: https://oe1.orf.at/programm/20170102/456249
Fußnoten:
[1] Jean-François Lyotard, Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (1982), in: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985 (Edition Passagen 13; Wien: Passagen, 1987), 11-31, hier 29f
[2] Übersetzung nach: Angelika Neuwirth, Der Koran 1: Frühmekkanische Suren. Poetische Prophetie (Handkommentar mit Übers. v. A. Neuwirth; Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2011), hier: 78.
[3] Ḥadīṭ Nr. 2569 (überliefert nach Muslim), hier zit. n. Mouhanad Khorchide / Klaus von Stosch (Hg.), Herausforderungen an die islamische Theologie in Europa (Freiburg/Br.-Basel-Wien: Herder, 2012), hier: 71.
[4] Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen (Aus dem Engl. v. Reiner Ansén; Frankfurt/M.-New York: Campus, 2010 [amer. 2009]), hier: 22 (Übers. mod.)
[5] „An event is something that can be said to exist (or rather, to have existed) only insofar as it somehow inspires subjects to wager on its existence.“ (Peter Hallward, Badiou. A Subject to Truth. Minneapolis-London: University of Minnesota Press, 2003, 115.)