Nachfolge Jesu als Zeugnis für Christus: Biblische Jesusbegegnungen neu bedacht

Beitrag von Prof. Dr. Martin M. Lintner OSM
aus: Cistercienser Chronik 119 (2012), Heft 3, 385–406[1]

Sich in die Nachfolge Jesu begeben – und das ist das Grundprogramm jeder christlichen Spiritualität und im Besonderen des Ordenslebens – bedeutet, den Spuen Jesu zu folgen, die keine ausgetretenen Spuren sind. Auch wenn ich nie allein unterwegs bin auf den Spuren Jesu, kann nur ich jenen Weg gehen, den Jesus für mich vorgesehen hat, auf den er mich berufen hat – aus Liebe zu mir. In diesem Sinn bleiben wir in der „Schule des Vertrauens zu Jesus“, ein Vertrauen, das besonders in schwieriegen und kritischen Momenten geprüft, aber auch geläutert wird. Gerade dann, aber nicht nur dann, ist es notwendig, d.h. wendet es die Not, dass ich mir bewusst Zeit nehme, um mich hineinzubegeben in die „Atmosphäre Jesu“, dass ich sein „Ja“ zu mir in mir erklingen höre, seinen Ruf in die Nachfolge, den ich irgendwann in meinem Leben vernommen und dem ich getraut habe, dem ich gefolgt bin, im Vertrauen darauf, dass Jesus mich nicht in die Irre führt und dass er mich nicht irre werden lässt an meiner Berufung. Jesus ist „der rekreative Mensch“, durch dessen bedingungslose Annahme wir neu geschaffen werden. Er ist der Mensch, der mir hilft, Mensch zu werden, d.h. meine menschlichen Qualitäten, meine Fähigkeiten und Potentiale an Menschlichkeit, bestmöglichst zu verwirklichen.

 1. Das Ordensleben als Zeugnis für Christus

Die Berufung, die Gott schenkt, ist ein geheimnisvolles Geschehen, in dem göttliches und menschliches Wirken sich gegenseitig durchdringen und durchwirken. Die Art und Weise, wie ich meiner Berufung entspreche und wie ich sie lebe, ist dabei wie ein Echo, in dem der Ruf Gottes erst erklingt. Der Ruf, der mich von Gott her ereilt, wird hörbar in der Art und Weise, wie ich diesem Ruf entspreche. Das bedeutet dann aber, dass die Art und Weise, wie ich auf den göttlichen Ruf antworte, zum Ort der Offenbarung wird, konkret: zum Ort der Gottesbegegnung. Um diesen Gedanken zu vetiefen, möchte ich zurückgreifen auf einen Aufsatz von Karl Rahner: Theologische Bemerkungen zum Begriff „Zeugnis[2]. Darin weist er zunächst darauf hin, dass das an jemanden gerichtete Zeugnis nicht nur „etwas“ mitteilt, sondern dass im Zeugnis vielmehr jemand sich auch selbst mitteilt. Das Zeugnis kommt nicht einer Mitteilung von Informationen oder der Auskunft eines Experten zu einem bestimmten Sachverhalt gleich, sondern impliziert immer auch eine Verfügung des Bezeugenden bzw. des Zeugen über sich selbst. Der Zeuge handelt zudem nicht im eigenen Namen, sondern stellt sich in den Dienst dessen, von dem er sich angerufen weiß und den er bezeugt. Das Zeugnis ist so von einem Anrufcharakter durchdrungen. Es ist das, was mir meinen, wenn wir von Berufung sprechen. Diese ist ein Anruf, sie richtet sich an jemanden, auf dessen Zuwendung bzw. Annahme sie angewiesen ist. Wenn ich meine Berufung zur Sprache bringe, dann ist sie mir schon widerfahren, und doch geschieht im Antworten auf die Berufung, im „adsum“, „ich bin bereit“, Berufung. Der Zeuge legt also von etwas Zeugnis ab, das ihm widerfahren ist. Im Zeugnis ist er in der ersten Person involviert, aber der Zeuge bezeugt nicht sich selbst. Als Zeuge kann er gerade nicht im eigenen Namen auftreten, die Last der Verantwortung für das Zeugnis aber liegt auf ihm. Er kann sich nicht auf die außenstehende Autorität berufen, in deren Namen er das Zeugnis eigenverantwortlich ablegen muss, denn das Zeugnis spricht nicht von sich, sondern von einem Anderen, einem Ereignis, von dem durch das Zeugnis lediglich eine engagierte Deutung gegeben werden kann. Die Berechtigung dieser Deutung aber obliegt wiederum dem Zeugen. Rahner spricht von der „Selbstevidenz des Zeugnisses“, davon, dass der Akt der vorbehaltlosen Übereignung, wie er im Zeugnis vollzogen wird, nicht von außen begründet werden kann. „Das Zeugnis bezeugt sich für den Zeugenden und den Hörenden selbst.“ Durch das Zeugnis ereignet sich das, was bezeugt wird, im Akt des Bezeugens wird das Bezeugte „erzeugt“.

Knapp zusammengefasst bedeutet das Zeugnis also: Ich gebe nicht von mir Zeugnis, sondern von jemand Anderem, auch wenn ich persönlich angefragt bin, und zwar unvertretbar, sodass ich mich nicht auf andere berufen kann für die Wahrheit meines Zeugnisses. Die Wahrheit meines Zeugnisses ereignet sich vielmehr in meinem Zeugnis selbst. Konkret: Wenn ich davon Zeugnis gebe, dass Gott die Welt liebt, dann deshalb, weil ich zuinnerst davon überzeugt bin und ich selbst schon diese Erfahrung machen durfte. Aufgrund dieser Erfahrung lege ich mich ganz ins Zeug für die Wahrheit der Liebe Gottes, ohne jedoch absolute Sicherheit dafür zu haben. Die Wahrheit der Liebe Gottes besteht ja gerade nicht in einer letzten Rückversicherung, sondern darin, dass ich durch mein Zeugnis für diese Wahrheit der Liebe Gottes selbst Raum in mir gebe und zugleich für andere Menschen die Liebe Gottes glaub-würdig mache, dass also auch sie, durch die Erfahrung meiner Liebe, die Liebe Gottes erfahren dürfen. Denn – und das ist ein Geheimnis des Glaubens an einen Gott, der Mensch geworden ist – dieser Gott offenbart sich dem Menschen immer auch durch Menschen. Papst Benedikt XVI. hat es als junger Theologieprofessor sinngemäß formuliert: „Gott will zum Menschen durch Menschen kommen.“[3]

Der deutsche Fundamentaltheologe Johann-Baptist Metz hat in einem viel beachteten Vortrag mit dem Titel „Gottespassion“ vor Ordensleuten schon vor 20 Jahren davon gesprochen, dass es heute ganz wesentlich einer neuen Form von „Gotteszeugenschaft“ bedarf, gerade im Kontext einer Gesellschaft, die zwar religionsfreundlich ist, aber zugleich gottlos. Metz sprach von einer religionsfreundlichen Gottlosigkeit und einer gottlosen Religionsfreundlichkeit.[4]

Einige Merkmale der Gotteszeugenschaft in der Nachfolge Jesu können sein:

(1) Die Nachfolge Jesu ist ein Weg der Liebe, die einen Menschen ganzheitlich, auch emotional und affektiv durchdringt; Liebe, die nicht leiblich gestillt werden kann und deshalb keusch sein muss, also nicht kompensiert werden darf; je näher sie zu Gott führt, umso stärker wird sie entfacht.

(2) Nachfolge Jesu kann nicht anders verstanden werden denn als Kreuzesnachfolge; Kreuzesnachfolge nicht nur verstanden als Annahme von Leid und Entbehrung, sondern auch als Erleiden der schmerzlichen Gottverlassenheit Jesu am Kreuz, des Getrenntseins vom Geliebten.

(3) Nachfolge Jesu führt zu einer unmittelbaren und höchstpersönlichen Begegnung mit Gott, in der ein Mensch unvertretbar und in seiner innersten Einsamkeit, in seiner Seele, allein vor Gott steht und von ihm durchformt wird. Im Unterschied zu einem pietistischen Rückzug in die reine Innerlichkeit bleibt aber die Verbindung der Gottes- mit der Nächstenliebe entscheidend. Das Freiwerden von sich wird als Freiwerden für Gott und die Menschen verstanden. Vereinigung mit Gott bedeutet Teilhabe an der schöpferischen Liebe Gottes, bedeutet also nicht Weltflucht, sondern Aufgabe, Sendung und Weg in die Welt.

Gotteszeugenschaft bedeutet Gottespassion: Passion, d.h. leidenschaftliche Liebe und leidenschaftlicher Eifer für Gott; Passion bedeutet aber auch Leiden an Gott und Gott leiden können, d.h. ihn lieben. Wenn ich bereit bin, für jemanden auch zu leiden, dann wird meine Liebe zu ihm geprüft oder dann erweist sich die Kraft meiner Liebe.

Gerade in unserer Zeit, in der die Kirche – der mystische Leib Christi – so oft und vehement angegriffen wird, und in der wir selbst oft auch an unserer Kirche leiden, müssen wir uns darauf besinnen, dass es nicht um die Kirche als solche geht, um die Kirche als Selbstzweck, sondern um sie als jene Institution oder besser als jene Gemeinschaft von Menschen, durch die Gott so, wie er uns von Jesus offenbart worden ist bzw. wie er in Jesus geschichtlich ein für allemal konkret manifest geworden ist, in unserer Welt präsent sein und wirken will. Wenn wir bereit sind, an unserer Kirche und auch für die Kirche zu leiden, dann deshalb, weil wir überzeugt sind davon, dass es sie braucht, um den Menschen in unserer Zeit den Himmel offen zu halten, Gott präsent zu halten inmitten der heutigen Zeit.

Als Ordenschristen ist uns diese Aufgabe besonders anvertraut: durch unsere ganz persönliche Berufung Gotteszeugenschaft zu leben. Dafür müssen wir uns aber je neu vergewissern, von wem wir wie Zeugnis ablegen. Dies erfordert je neu Bekehrung und Umkehr.

 2. Biblische Perikopen als Leitfaden für das Zeugnis für Christus im Ordensleben

2.1 Die Begegnung Jesu mit einer Sünderin (Lk 7,36-50)

 Aufgrund innerer Spannungen, die sich aus dem Text in der vorliegenden Komposition ergeben, wirft er schwierige exegetische und theologische Fragen auf. Im auf den ersten Blick als Parallelismus formulierten V 47 („Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber nur wenig vergeben ist, der liebt wenig.“) wird diese Spannung zwischen den zwei vordergründig widersprüchlichen Grundaussagen dieser Perikope deutlich. V 47a legt nahe, dass die Liebe der Grund für die Vergebung von Sünden ist, V 47b hingegen, dass erst die erfahrene Vergebung Liebe bewirkt. Diese beiden Aussagen stellen jedoch keinen Widerspruch dar. Sie beleuchten vielmehr das In- und Miteinander des göttlichen und des menschlichen Handelns.

(1) Das Verhalten der Frau

Während des Essens tritt die als Sünderin stadtbekannte Frau von hinten an Jesus heran. Ihre Absicht ist deutlich, sie will zu Jesus gehen, um ihm auf die ihr mögliche Art und Weise und mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln Dankbarkeit und Liebe zu erweisen, nämlich ihn mit kostbarem Öl zu salben. In der kostbaren Gabe der in einem Alabastergefäß mitgebrachten Myrrhe bringt die Frau ihre ganze Liebe zum Ausdruck. Ohne jegliche Rücksicht auf die Reaktion der anderen anwesenden Gäste beugt sie sich über die Füße Jesu. Sie weint, weshalb ihr das Missgeschick passiert, dass sie mit ihren Tränen die Füße benetzt, woraufhin sie nicht zögert, sich die Haare zu lösen, um die Füße abzutrocknen, sie dann zu küssen und mit Myrrhe zu salben. In all dem legt die Frau das Verhalten eines Menschen an den Tag, der sich in völliger Dankbarkeit und innerer und äußerer Freiheit einem anderen Menschen hingibt. Denn die Frau bezeugt ihre Dankbarkeit und überschwänglich liebende Zuneigung zu Jesus mit Gesten, die zumindest als unschicklich und zweideutig, ja anrüchig und skandalös gelten. Mit ihrem Verhalten macht die Frau jedoch deutlich, dass sie mittels der kostbaren Gabe nicht etwas, sondern sich selbst Jesus darbringt und hingibt, und dass nach ihrem Urteil Jesus einer solchen grenzenlosen Hingabe und Liebe würdig ist. Diese Hingabe ist eine äußere und innere Hinwendung zu Jesus als Folge der Reue und des Schmerzes über ihre Sünden, für die sie Vergebung erfährt, wie ihre Reue – und Freudentränen bezeugen. In ihrer ausschließlichen Hinwendung zu Jesus vergisst die Frau die ganze Umgebung, in der diese Begegnung stattfindet, den Hausherrn und die anderen Gäste, in deren Augen ihr Verhalten nur Anstoß erregen kann. Doch deren Urteil kümmert sie nicht. Im alleinigen Bestreben, Jesus ihre Liebe zu erweisen, ist sie frei von äußeren Zwängen und bricht mit allen Konventionen und Formen. Umso deutlicher ist die Liebe dieser Frau … Ausdruck überströmender Dankbarkeit für unbegreifliche Gottesgüte.

(2) Das Verhalten Jesu

Nicht weniger als das Verhalten der Frau jedoch wird Jesu Reaktion darauf als anstößig empfunden, wie die geheimen Gedanken des Pharisäers deutlich machen (vgl. V 39). Jesus schweigt und lässt die Frau handeln, anscheinend ohne die Zweideutigkeit, ja Anrüchigkeit ihres Verhaltens wahrzunehmen, und bricht so auch selbst mit allen Anstands- und Reinheitsvorschriften, da er die verunreinigende Berührung durch eine Sünderin duldet. Dieses Geschehenlassen ist es, das den Anstoß erregt und das in der folgenden Rede Jesu gerechtfertigt werden muss. Jesu Stillhalten ist ein Ja zu der Sünderin. Doch dies ist für einen Propheten des Rufs, der Jesus umgibt, unerhört. Daher könne er kein Prophet sein und der Anspruch, mit dem er auftritt, sei unberechtigt. In einem Gleichnis wendet sich Jesus dann an den Pharisäer, den er vertrauensvoll beim Namen nennt (vgl. V 40a), und lädt ihn ein, Position zu beziehen und seine Einstellung sowohl gegenüber dem Verhalten der Frau als auch gegenüber dem Jesu zu revidieren. Die Botschaft des Gleichnisses von den beiden Schuldnern, wonach dem einen viel Schuld erlassen wird, dem anderen wenig, ist das Erbarmen Gottes mit den Verschuldeten. Jesus rechtfertigt nicht nur sein Zugehen auf die Armen, denen Gottes Heil zuteil wird, sondern wirbt auch um seine Gegner, die ihn für sein Verhalten kritisieren. Er hält ihnen seine Frohbotschaft als Anklage gegenüber, da sie sich der gütigen Vergebung Gottes verschließen, wenn sie sich vor Gott nicht als Sünder bekennen. In der Reaktion Jesu auf das Verhalten des Pharisäers Simon wird deutlich, wie er sich auf dreifache Weise rechtfertigt, aber auch um die Zustimmung seines Gastgebers wirbt. Zunächst wendet er sich der Frau zu und lenkt auch den Blick des Simon auf sie, indem er aber gerade nicht ihre Sünden, sondern ihr Menschsein in den Vordergrund stellt. Im Unterschied zu Simon sieht er in der Frau nicht die Sünderin (vgl. V 39), sondern einen Menschen, eben diese Frau (vgl. V 44), die zu großer Liebe fähig ist. Weil Jesus das Verhalten der Frau als Ausdruck der Liebe deutet, fordert er Simon in der Gegenüberstellung der Gesten der Frau mit dessen eigenem Verhalten auf, sich selbst kritisch in den Blick zu nehmen, und zwar auf dem Hintergrund des Urteils, das dieser selbst im Anschluss an das Gleichnis gefällt hat, nämlich dass der seinen Gläubiger mehr lieben wird, dem die größere Schuld nachgelassen wird. So soll Simon schließlich erkennen, dass sein Verhalten und nicht das Jesu oder der Frau unter Anklage steht, denn – und das ist der entscheidende Gesichtspunkt – die Frau, die offensichtlich eine Sünderin ist, erkennt im Licht der Güte Gottes ihre Schuld, bereut sie und nimmt die Vergebung an. Er, Simon, hingegen verschließt sich der Liebe in seiner Selbstgerechtigkeit und erkennt nicht, wie gütig und barmherzig Gott ist. So wird sein Verhalten plötzlich als gottlos, unehrlich, unfrei und rein äußerlich-konventionell offenbar.

(3) Das Verhalten des Pharisäers Simon

Der Pharisäer Simon gewährt Jesus Gastfreundschaft nach allen Regeln des guten Benehmens, er handelt korrekt und höflich. Aber es mangelt ihm an Offenheit und Ehrlichkeit gegenüber dem Gast, wie in seiner Reaktion zum Ausdruck kommt (vgl. V 39), denn seine Bedenken gegenüber dem Verhalten Jesu behält er für sich und teilt sie ihm nicht mit. In dieser Reserviertheit gegenüber Jesus liegt ein Misstrauen und eine innere Distanz, die deutlich machen, dass seine Gastlichkeit nur eine äußere ist, sein Inneres aber verschlossen bleibt, auch wenn er Jesus wertschätzend „Rabbi, Meister“ nennt (vgl. V 40). Wenn Jesus auf dem Hintergrund des Gleichnisses von den beiden Schuldnern das anscheinend anstößige, überschwänglich liebevolle Verhalten der Frau als ehrlichen Ausdruck ihrer Liebe in Folge der ihr geschenkten Vergebung (vgl. V 47b) deutet, so erweist sich hingegen das nach außen hin zwar korrekte Verhalten des Pharisäers als lieblos und, da hiermit das Gesetz der Gastfreundschaft verletzt wird, als eigentlich anstößig. Jesus lädt Simon ein, das Verhalten der Frau in diesem Licht neu zu beurteilen, und zwar als Ausdruck ihrer von äußeren und inneren Zwängen befreiten dankbaren Zuwendung zu Jesus, während er selbst, Simon, gefangen ist in der Sichtweise des selbstgerechten und frommen Pharisäers und von der pharisäischen Gesetzesgerechtigkeit her nicht nur das Verhalten der Frau, sondern vielmehr noch jenes von Jesus verurteilt. Gerade damit erweist sich Simon aber als unfrei und unfähig, sein Gegenüber offen anzublicken und anzunehmen. So sieht er in der Frau nur die Sünderin und nicht die Liebe, zu der sie fähig ist, und vermag auch seinen Gast nicht bedingungslos anzunehmen, sondern nur im Rahmen der ihm vertrauten Konventionen und im Blick vorgefasster Vorurteile. Hierin wird die eigentliche Schuld des Pharisäers Simon offenbar, nämlich seine Unfähigkeit, aufgrund seiner Gesetzesgerechtigkeit in der Begegnung mit Jesus die Barmherzigkeit Gottes zu erfahren und anzunehmen. Jesus beansprucht, in seinem Handeln die Liebe Gottes zu dem bußfertigen Sünder zu aktualisieren, … dass er an Gottes Stelle handelt, Gottes Stellvertreter ist, doch diesen Anspruch weist der Pharisäer zurück. Simon erkennt Jesus nicht, weil er sich selbst für gerecht hält. Er vermag seine Schuld nicht zu sehen und einzugestehen, weshalb es ihm nicht möglich ist, Vergebung für sie zu empfangen, denn die Inanspruchnahme von Vergebung setzt Einsicht in die eigene Schuld und Verlorenheit voraus.

(4) Begegnung mit Jesus: Erfahrung von Vergebung und Liebe

Die Frau erfährt in der Begegnung mit Jesus Vergebung, die zunächst – wie das Gleichnis von den beiden Schuldnern nahe legt – im Nachlass ihrer Sündenschuld besteht. Auch wenn der explizite Zuspruch der Sündenvergebung erst in V 48 folgt, kommt diese bereits vorher im Verhalten Jesu zum Ausdruck, in seiner stillen Duldung ihrer Gesten von Liebe und Dankbarkeit. Diese bedeuten der Frau, dass sie von Jesus liebend angenommen ist. Diese Annahme ist ein „Ja“ Jesu zu der Frau, die er nicht als Sünderin, sondern als Menschen ansieht, der zur Liebe fähig ist und sich nach liebender Annahme sehnt. Jesu Aufmerksamkeit ist nicht auf die Sünde, sondern auf das Leid und den Schmerz der Frau gerichtet, die in den Augen der Anderen aufgrund ihrer Sünden gebrandmarkt ist, weshalb sie den öffentlichen Umgang mit ihr meiden. Indem Jesus die Frau still duldet und liebend annimmt, anerkennt er ihre Würde als Mensch, ohne sie auf ihre Sünden bzw. ihr nach außen hin anstößiges Verhalten festzunageln. Besonders auf dem Hintergrund des Gleichnisses der beiden Schuldner, bei dem aufgrund der zu erwartenden dankbaren und liebenden Reaktion dessen, dem viel nachgelassen wurde, implizit mitschwingt, dass den beiden Schuldnern nicht nur Schuld erlassen wird, sondern dass sie die Würde eines freien Menschen wiedererlangt haben und ihnen dadurch eine neue Lebensmöglichkeit eröffnet worden ist, wird deutlich, dass die eigentliche Gabe Jesu an die Frau seine vorurteilsfreie Annahme und Wertschätzung ist. Durch sein Verhalten spricht er der Frau ihre Würde als Mensch zu und gibt ihr, die von den frommen und gesetzestreuen Gläubigen als Sünderin abgestempelt und abgewiesen ist, das Ansehen eines Menschen wieder, konkret einer zur Liebe und Hingabe fähigen und nach Annahme und Liebe sich sehnenden Frau, die des offenen, vertrauens- und liebevollen Umgangs würdig ist. Die Erfahrung der Vergebung ihrer Sünden besteht für die Frau wesentlich darin, von Jesus unbedingt und liebend angenommen zu sein. In einer auf den ersten Blick unscheinbaren Geste bekräftigt Jesus diese Annahme der Frau, wenn es in V 44 heißt: „Dann wandte er sich der Frau zu.“ Dies meint nicht nur die körperliche Bewegung Jesu, sondern auch seine innere Hinwendung zu ihr, sein Sich-ihr-ganz-Zuwenden. Die körperliche Bewegung Jesu versinnbildlicht die barmherzige und gütige Zuwendung Gottes zum Menschen, besonders zum Sünder.

Wenn man diese Stelle entstehungsgeschichtlich betrachtet, dann lässt sich eine Entwicklung der Aussageabsicht erkennen von der Vorgängigkeit der erfahrenen Vergebung in Bezug auf die Liebe hin zur Liebe als Bedingung für die Vergebung. Allerdings ist die entscheidende Frage nicht die nach der Chronologie von Vergebung und Liebe, sondern nach der inneren Beziehung zwischen Liebe und Vergebung. Deutlich wird, dass die Überwindung der Sünde nicht vom Menschen selbst, etwa durch Frömmigkeit oder Gesetzestreue, bewirkt werden kann, sondern nur in einer lebendigen Begegnung mit Gott zugesprochen wird. Es ist die freie und ungeschuldete Entscheidung Gottes, auf den Menschen zuzugehen und ihm das Heil anzubieten, ihm Gnade zu schenken, ihn körperlich und seelisch zu heilen. Seitens des Menschen wird gefordert, dass er einsieht, des Heilshandelns Gottes zu bedürfen, weil er vor Gott als „großer Schuldner“ dasteht. Niemand kann sich mit dem ‚kleinen’ Schuldner in Vergleich setzen und meinen, ihm habe nur wenig vergeben werden müssen. Kann doch niemand sagen, er habe mit seiner kleinen Liebe ‚seine Schuldigkeit getan’ (Lk 17,10). Wir sind große Schuldner. Allein durch den gütigen Nachlass der Schulden wird ein Neuanfang ermöglicht, der zugleich ein qualitativ neues Leben in Freiheit und Würde bedeutet. Uns wird das Vertrauen zu Gott abverlangt, der Glaube, dass er uns liebend und gütig vergibt, noch bevor uns äußerlich hierfür ein sicheres Zeichen gegeben wird. So hat sich die Frau ohne innere oder äußere Reservierungen zu Jesus hinbegeben, von dem allein sie Vergebung ihrer Sünden erwartet hat, und diese ihre vertrauensvolle innere Hinwendung zu Jesus mit Gesten der liebenden Hingabe bezeugt. Dieser Glaube im Sinne der vorausgehenden Liebe hat der Frau die Annahme der Vergebung ihrer Sünden ermöglicht, weshalb ihr Heil zuteil geworden ist, wie Jesus der Frau beteuert: „Dein Glaube hat dich gerettet!“ (V 50b). Der Glaube, in dem die Frau die reuevolle Umkehr und liebende Hinwendung zu Jesus vollzieht, eröffnet ihr die Erfahrung des unbedingten und liebevollen Angenommenseins seitens Jesu. Darin macht sie die Erfahrung jenes eschatologischen Heilsereignisses, das als göttliches Gnadengeschenk im konkreten Zuspruch der Sündenvergebung in die Geschichte hineinragt als „Heimsuchung“ durch die barmherzige Liebe Gottes in der Begegnung mit Jesus, der das „aufstrahlende Licht aus der Höhe“ ist.

Die im V 47 aufleuchtende anscheinende Widersprüchlichkeit (Liebe bedingt Vergebung oder Vergebung bewirkt Liebe) signalisiert daher „am Ende einen theologischen Sachverhalt, der nur dialektisch in seiner Ganzheitlichkeit zu fassen ist: Die geforderte Liebe ist sowohl Auswirkung wie Wirkgrund der Vergebung: „Durch Liebe … erlangte Vergebung der Sünden … findet ihren Ausdruck in Liebe. Bei Lukas liegt der Akzent auf der vorgängigen Liebe im Sinne des Glaubens als Voraussetzung der Vergebung, als Bedingung der Rettung, als Anteil, den der Mensch selbsttätig zu seinem Heil zu leisten hat. Doch hierfür ist auch die nachfolgende Liebe des Empfangenden nötig, die sich nicht im dankbaren Gefühl gegenüber dem Geber erschöpft, sondern – als Konsequenz – im tätigen Erweis der Liebe gegenüber den Mitmenschen ihren Ausdruck findet.

Wie aus der Begegnung Jesu mit der Frau und dem Pharisäer Simon deutlich wird, führt wahre Annahme des Anderen zur Hingabe an den Anderen, nämlich dem Anderen nicht nur sein Haus anzubieten, sondern ihm sich selbst hinzugeben.

Die in der Sündenvergebung sich offenbarende unbedingte und liebende Annahme des Menschen seitens Gottes, die in Handeln und Wirken Jesu präsent wird, führt zu dessen Lebenshingabe. Die Annahme der göttlichen Zuwendung hingegen führt zur Hingabe des Menschen an Gott in Reue und Umkehr sowie zu Gesten der tätigen Liebe in der Hingabe an den Mitmenschen, da sich die erhaltene Vergebung in eine solche umsetzen muss, um der Vergebung weiterhin gewiss sein zu können. Die Liebe der Frau mündet nicht in eine euphorische Verschmelzung mit Jesus, dieser schickt sie vielmehr fort und entlässt sie in ihren Alltag mit dem Friedensgruß (vgl. V 50c), der nach frühchristlichem Brauch Zusage von Heil und Gemeinschaft mit Christus ist, dem abwesend Anwesenden. Die Annahme der zugesprochenen Vergebung muss die Frau im konkreten Lebensvollzug bewahren, indem sie Zeugnis jener Liebe gibt, die ihr zuteil geworden ist: durch Vergebung und Hingabe.

 

2.2 Die Begegnung Jesu mit Zachäus (Lk 19,1-10)

Die Erzählung der Begegnung zwischen Jesus und Zachäus schildert, wie tiefgreifend und nachhaltig die Begegnung mit Jesus das Leben eines Menschen verändern kann. Die Figur des Zachäus ist paradigmatisch für die geschenkhaft eröffnete Möglichkeit der Bekehrung, die jedem Menschen in Christus gegeben ist. Kennzeichnend ist, dass die Begegnung Jesu mit Zachäus „Schnittpunkt zweier gegenläufiger Bewegungen“ ist. Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem und „zieht durch“ (vgl. V 1) Jericho, Zachäus hingegen versucht, seinen Weg zu durchkreuzen, da er „begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre“ (Lk 19,3a).

(1) Zachäus

In V 2 wird Zachäus vorgestellt als oberster Zöllner und als sehr reich. Beides macht die soziale wie moralische Ambiguität dieser Person deutlich. Als Zöllner, noch dazu als Oberzöllner, ist er Kollaborateur der verhassten römischen Besatzungsmacht. Der zusätzliche Hinweis, dass Zachäus sehr reich ist, unterstreicht, dass er nicht nur die z.T. hohen Verwaltungsgebühren an die Besatzungsmacht abzuliefern imstande ist, sondern aus der Zolleinhebung auch den größtmöglichen eigenen Profit herausschlägt, indem er den einzuhebenden Betrag willkürlich, in der Regel auf Kosten der Armen und Wehrlosen, erhöht. Dieser durchaus übliche und gängige Missbrauch der willkürlichen Erhöhung der zu bezahlenden Taxen zugunsten der eigenen Bereicherung der Zöllner führte dazu, dass die Zöllner nicht nur sozial geächtet, sondern auch als unmoralisch angesehen wurden, da diese Praxis im palästinensischen Raum zur Zeit Jesu als eigentliche soziale Sünde angesehen wurde. Die generelle Abneigung gegenüber dem Berufsstand der Zöllner wurde dadurch bekräftigt, sodass Zöllnern aufgrund ihrer Tätigkeit nicht nur soziale und politische Rechte aberkannt (z.B. die Ausübung der Richter- oder Zeugenfunktion), sondern auch die religiöse und kultische Gemeinschaft aufgekündigt wurden (so durften z.B. von Zöllnern keine Almosen angenommen werden). Dass Zachäus sich unrechtmäßig bereichert hat, gesteht er in V 8b auch selbst. Er gehört also zu den Verlorenen, von denen Jesus in V 10 spricht, sein Zöllner-, Reich- und Sündersein lassen daran keinen Zweifel. Doch gerade das Eingeständnis in V8b sowie das ganze Versprechen des Zachäus in V 8 lassen ebenso keinen Zweifel daran, dass er sehr wohl um sein moralisch verwerfliches Handeln weiß. Er ist erwachsener Jude, er kennt das Gesetz und weiß auch darum, dass die Sorge um den Anderen, besonders um den Armen, im Zentrum der israelitischen Glaubenserfahrung steht, wonach in der Begegnung mit Gott als dem Gütigen und Befreienden die Pflicht zur Solidarität mit den Anderen, besonders den Armen, Waisen, Witwen, Fremden… begründet liegt. Doch gegen besseres Wissen handelt Zachäus wider die moralische Überzeugung seines eigenen Volkes. Zachäus ist „moralisch blind“. So erscheint Zachäus, der als Oberzöllner beruflich erfolgreich und reich ist und die Macht hat, andere zu erpressen, nicht nur aufgrund seiner physischen Statur (vgl. V 3) als doch recht klein, was auch durch sein Unvermögen unterstrichen wird, sich den Wunsch zu erfüllen, Jesus zu sehen.

Es ist aber dieser Wunsch, der Zachäus zutiefst erfüllt, und er lässt sich von äußeren Hindernissen, konkret der großen Menschenmenge, die Jesus folgt und umringt, nicht abhalten, sondern versucht sie zu überwinden, indem er auf einen Baum klettert, an dem Jesus vorbeikommen muss. Das suchende Verlangen und die innere Unruhe des Zachäus kommen im Verb zhte,w zum Ausdruck: Es meint, etwas Verlorenes unablässig suchen, um es wiederzufinden, ohne genau zu wissen, wo es zu finden ist. Es ist mehr als Neugier, die Zachäus antreibt Jesus zu sehen, er will erfahren, wer Jesus ist. Der äußeren Bewegung des Zachäus entspricht eine innere, suchende Hinwendung zu Jesus in der Hoffnung, in ihm zu finden, was Zachäus weiß verloren zu haben. Dieses „Hindernisse überwindende (V. 3b.4), aktive Suchen des Zachäus trifft sich mit dem Suchen Jesu (V. 10)“.

(2) Das Verhalten Jesu

Die Suche Jesu, mit der er in V 10 sein Verhalten gegenüber den murrenden Zeugen seiner Begegnung mit Zachäus rechtfertigt, bringt zugleich auf allgemeine Weise seine Sendung bzw. seinen Auftrag zum Ausdruck. Auch für das Suchen Jesu, für seine Sendung zu den Verlorenen, wird das Verb zhte,w  verwendet. „Zu suchen und zu retten, was verloren ist“, deutet somit die Vorstellung an von Rettung und Heil als einer Art Wieder-Finden von etwas, was zuvor schon vertraut war. Bei Zachäus, den Jesus als „Sohn Abrahams“, als dem Volk Israel zugehörig, bezeichnet, impliziert dies seine soziale Re-Integration in die jüdische Gemeinschaft. Doch wie äußert sie sich konkret in der Begegnung mit Zachäus?

Der Blick Jesu trifft Zachäus. In dieser Begegnung der Blicke wird der Wunsch des Zachäus, Jesus zu sehen, erfüllt, doch ereignet sich hierin mehr, da Zachäus nicht nur Jesus sieht, sondern auch von Jesus gesehen wird. Der Blick und die Worte Jesu haben nichts von Neugier oder Verurteilung in sich, sie bedeuten eine offene, vorurteilsfreie und zugleich vorbehaltlose Zuwendung Jesu zu Zachäus, den Wunsch, Gast zu sein bei Zachäus. In dieser „Selbsteinladung“, mit der Jesus in die Privatsphäre des Zachäus einbricht, schwingt auch eine Vertrautheit und Familiarität mit diesem mit, der sich unerwartet in der Rolle des Gastgebers wiederfindet. Alles in allem spiegelt das Verhalten Jesu das eines Freundes gegenüber seinem Freund wider, den er gern hat, und mit dem er zusammen sein will allein seiner Freundschaft wegen. Die Aufforderung Jesu, dass Zachäus schnell vom Baum heruntersteigen und ihn beherbergen soll, ist wie eine eindringliche Bitte Jesu an Zachäus, ihn als Gast aufzunehmen. Jesus macht sich damit gleichsam zum Bittsteller: Damit er seiner Sendung nachkommen kann, bedarf er der freien Aufnahme. Er ist darauf angewiesen, aufgenommen zu werden. Nur so kann sich erfüllen: Allen, die ihn aufnahmen, gab Gott die Macht, Kinder Gottes zu werden (vgl. Joh 1,12).

Wie anstößig dieses Verhalten Jesu gegenüber einem Sünder ist, diese seine Art, Zachäus anzunehmen, indem er bei ihm einkehrt, geht aus der empörten Reaktion der Leute, die Zeugen dieser Begegnung sind, hervor (vgl. V 7). Doch was für die Zeugen Anlass für Empörung ist, wird für Zachäus die eigentliche Erfahrung dessen, „wer Jesus ist“, sodass seine Suchbewegung gerade hierin zum Ziel kommt, nämlich von Jesus gefunden worden zu sein. Weil Jesus unmissverständlich in Worten und Gesten seinen Wunsch bezeugt, mit Zachäus in Beziehung zu treten, und weil er ihm – dem Sünder, dem Skrupellosen, dem allein auf eigenen Vorteil Bedachten, dem von den Anderen Gemiedenen – auch zutraut, eine solche Beziehung einzugehen, erfährt sich Zachäus als einer solchen Beziehung würdig und fähig. Zachäus weiß sich von Jesus angenommen, der doch gerade ihn um Annahme und Gastfreundschaft bittet. Er weiß, dass Jesus sein Verhalten vor den Anderen zu rechtfertigen haben wird, dass Jesus seinen guten Ruf aufs Spiel setzt, und doch gilt die Aufmerksamkeit Jesu allein ihm, dem Freund. Jesus mindert die Anstößigkeit seines Verhaltens nicht, etwa durch eine ernsthafte Ermahnung oder einen Aufruf zur Umkehr, die dem Zachäus bedeuten würden, wie er sich die Freundschaft Jesu „verdienen“ oder sich ihrer würdig erweisen könnte. Zachäus erfährt vielmehr die vorbehaltlose und bedingungslose Freundschaft und Liebe Jesu. Sein Wunsch ist – all seine Erwartungen bei weitem übertreffend – erfüllt worden, er hat „gesehen, wer Jesus ist“, er wurde von Jesus gefunden und hat sich so selbst wiedergefunden.

(3) Die Bekehrung des Zachäus

Zachäus zögert keinen Augenblick, Jesus die Gastfreundschaft, um die er bittet, sofort und voller Freude zu gewähren (vgl. V 6). Ohne es sich in irgendeiner Weise erwartet zu haben, erfährt Zachäus eine unerhörte Sorge und Aufmerksamkeit Jesu, seine unbedingte, vorbehaltlose und vorurteilsfreie Zuwendung, als sei er von einer Vergebung ereilt worden, um die er gar nicht gebeten habe. In dieser Erfahrung wahrer Liebe, in der sich Jesus dem Zachäus zuwendet und sich ihm hingibt in der Bitte um Gastfreundschaft, und in der sich Zachäus als Mensch angenommen und geliebt weiß, wird er „sehend“ und erkennt sein moralisch falsches Verhalten, um das er als solches schon wusste, auch als sündhaftes an, das es zu überwinden und wiedergutzumachen gilt. Was dem Zachäus bislang nicht möglich war, wird ihm durch Jesu Liebe ermöglicht. Ohne dass Jesus ihn dazu aufgefordert hätte, verspricht er jetzt, die Hälfte seines Vermögens den Armen zu geben und vierfach zurückzuerstatten, was er unrechtmäßig eingefordert hat (vgl. V 8). Er bringt seine Bereitschaft zum Ausdruck, sich von seinem gesamten Vermögen zu trennen, und erfüllt damit eine der wesentlichen Bedingungen, Jesu Jünger zu werden und ihm zu folgen. Zachäus muss gewusst haben, dass nach damaligen Brauch von religiösen Lehrmeistern und Predigern gute Werke als „Beweis“ bzw. als Früchte der Umkehr gefordert wurden, doch wozu sich Zachäus im ersten Teil seiner Erklärung freiwillig bereit erklärt, geht weit über das üblicherweise in solchen Fällen Verlangte hinaus. Im zweiten Teil der selbstauferlegten Verpflichtung wird zudem ersichtlich, dass Zachäus sich nicht nur seines unrechtmäßigen Handelns bewusst war, sondern auch die entsprechenden Gesetze der Haftung im Umgang mit fremdem Eigentum gekannt haben muss, wenn er diesen jetzt unaufgefordert – und zwar wiederum in einer über das vom Gesetz geforderte Maß hinausgehenden Weise – nachkommt.

Doch worauf es letztlich in dieser Selbstverpflichtung des Zachäus ankommt, ist nicht die Frage der Quantität bzw. Höhe des Betrags, den er den Armen geben bzw. den von ihm Übervorteilten rückerstatten will, sondern der Wert der Geste als solcher, in der er seinen festen Entschluss zu einem „grundlegenden Wandel der Lebensumstände“ bezeugt, indem er die von Jesus erfahrene Annahme und Liebe zu seiner eigenen handlungsleitenden Norm macht. Indem er sich der Armen besinnt und sich an die von ihm Betrogenen erinnert, wird die ihm neu eröffnete Befähigung ersichtlich, die Anderen nicht im eigennützigen und selbstsüchtigen Interesse in den Blick zu nehmen, sondern als Menschen, für die er, Zachäus, konkret Verantwortung trägt. Weil er sich von Jesus bedingungslos angenommen erfährt, wird ihm die Fähigkeit, derartige Beziehungen der Verantwortung für den Anderen einzugehen, zugesagt und zugetraut. So besteht eine enge Kontinuität zwischen der von ihm in Jesus erkannten und erfahrenen Intention und dem, wonach er ab jetzt sein Leben radikal ausrichten will. Auf diesem Hintergrund geht es nicht um eine buchstabengetreue Erfüllung des Gesetzes, von dem er erst jetzt begriffen hat, dass es ihn konkret betrifft, angeht und in die Verantwortung ruft, sondern um die Erfüllung von dessen innerem Sinngehalt, der ihm in der Begegnung mit Jesus eröffnet worden ist, weil sich dieser ihm unentgeltlich, unbedingt und vorbehaltlos genähert hat und sich zu seinem Nächsten und Freund gemacht hat. Was Zachäus in diesem Moment versteht, ist, dass sein Leben nur dann Erfüllung findet, wenn auch er aus dem Geiste lebt, in dem ihm Jesus begegnet ist, wenn auch er wie Jesus ungefordert, unbedingt und vorbehaltlos dem Anderen zum Nächsten und Freund wird, mit ihm Beziehungen eingeht, die in der Annahme des Anderen zur Hingabe an ihn führen in der Übernahme von Verantwortung für ihn.

(4) Heil durch die Begegnung mit Jesus

Ohne dass Zachäus danach gefragt hätte, ist ihm Vergebung und Heil zuteil geworden. Er, der Verlorene, ist von Jesus gefunden worden, sein inneres Suchen und Streben ist in der Begegnung mit Jesus zum Ziel gelangt. Der Begegnung Jesu mit Zachäus haftet nicht der Charakter des Zufälligen an, sondern sie ist integriert in die heilsgeschichtliche Sendung Jesu.

Das „heute“ dem Haus des Zachäus widerfahrene Heil (vgl. V 9) besteht nicht nur in der Vergebung der Sünden und in der Wiedereingliederung des Zachäus in das Volk des Bundes, sondern v.a. auch darin, dass Zachäus Jesus erkennt und „sieht“, „wer er ist“, konkret, dass er in Jesus der Barmherzigkeit und Güte Gottes begegnet und diese unverzüglich annimmt, und zwar als unerwartetes, ungebetenes und unverdientes Geschenk. Zachäus „sieht, wer Jesus ist“, weil er von Jesus angeblickt und gesehen wird. Er sieht, dass der Blick Jesu sich wesentlich von den Blicken der Anderen unterscheidet, die sich von ihm abgrenzen und über das Verhalten Jesu murren, denn Jesus verurteilt Zachäus nicht aufgrund seines Verhaltens. Der Blick Jesu unterscheidet sich jedoch auch wesentlich von dem des Zachäus, der im Anderen nur den eigenen Vorteil gesucht hat. Dieser Blick Jesu ist der Blick eines Menschen, der wahrhaft frei ist und deshalb auch befreiend wirkt.

Von diesem Blick getroffen, erkennt Zachäus den tieferen Sinngehalt seines eigenen Lebens. Die erfahrene und angenommene Barmherzigkeit und Liebe eröffnen ihm so einen neuen Sinnhorizont. Indem Zachäus die Barmherzigkeit Gottes annimmt und in ihr die liebende Hingabe Jesu an ihn, der ihn eindringlich um Gastfreundschaft bittet, macht er diese selbe Barmherzigkeit zum Kriterium der Gestaltung seiner eigenen Beziehungen. Die erfahrene Güte wird für ihn selbst erstrebenswert als die Möglichkeit eines sinnvoll verwirklichten Lebens schlechthin. Die Bekehrung ereignet sich in der Annahme dieses von Jesus Angenommen-Seins: Er lässt sich lieben. Einbezogen in diese lebendige Beziehung wird Zachäus fähig, sein Leben im Licht der ihm ungeschuldet geschenkten Zuwendung Jesu zu deuten und sich selbst dem Nächsten zu öffnen in einer über das Gesetz hinausgehenden Weise. Die Gabe Gottes, die ihm durch die Begegnung mit Jesus zuteil geworden ist und die ihm zur konkreten Heilserfahrung wird, wird von jetzt an als fundamentaler Bezugsrahmen bestimmend für sein Denken, Handeln und Urteilen. Zachäus macht die lebensweltliche Kontrast-, Sinn- und Motivationserfahrung, die charakteristisch ist für die Dynamik der ethischen Erfahrung bzw. der sittlichen Einsicht. Er wusste zwar um das sittlich Richtige, doch erst in der Begegnung mit Jesus hat er die sittlichen Werte der unbedingten und vorbehaltlosen Annahme des Anderen erfahrenen und sich angeeignet. Diese Sinnerfahrung ermöglichte ihm jene Kontrasterfahrung, dank der er einsehen und erkennen konnte, dass in seinem Leben diese Sinnverwirklichung bisher nicht möglich war aufgrund seiner eigenen Haltungen und Handlungen. Aus dieser persönlichen Betroffenheit heraus wird er schließlich fähig, die ihm geschenkte Sinneinsicht als sittlichen Anspruch zu erfahren, der ihn unmittelbar in die Pflicht nimmt. Auch wenn er in Jericho verbleiben und weiterhin seinen Beruf ausüben wird, ist er in die Nachfolge Jesu getreten.

Wie zu Beginn dieser Einheit angedeutet, ist die Umkehr des Zachäus deshalb paradigmatisch, weil Zachäus in der Begegnung mit Jesus den Sinn seines Lebens erkannt hat, den er zu verwirklichen versucht in der Aneignung der ihm von Jesus entgegengebrachten Haltung der liebenden und unbedingten Annahme. Nicht allein die Erfahrung der liebenden Annahme Gottes reicht aus für ein sinnvolles Leben. Vielmehr ist es auch notwendig, dass der, der sich frei und unbedingt angenommen und geliebt erfährt, seinen Lebenswandel danach ausrichtet, indem er dieselbe freie und unbedingte Liebe zur Grundhaltung seines eigenen Lebens macht. Die vorbehaltlose Zusage des Heils bleibt verwiesen auf die Offenheit des Menschen für den Empfang der Gabe bzw. auf die Entscheidung, der Gabe im Vollzug ihrer Annahme zu entsprechen. Es sind die beiden Suchbewegungen, die sich in der Begegnung zwischen Jesus und Zachäus kreuzen, und das Gefunden-worden-Sein des Zachäus, das in seine durch die Beziehung mit Jesus eröffnete und ermöglichte Bekehrung mündet.

 2.3 Die Begegnung des Auferstandenen mit den Jüngern am See von Tiberias (Joh 21)

Das letzte Kapitel des Johannesevangeliums ist besonders interessant. Es geht uns an dieser Stelle weniger um die textkritischen und historischen Fragen, wie dieses Kapitel sozusagen als zweiter Abschluss Eingang gefunden ins Johannesevangelium und aus wessen Feder es stammt, weil in ihm ja sowohl der typisch johanneische Stil als auch synoptische Anklänge harmonisch verbunden sind.

Wir wollen den Text betrachten unter dem Aspekt der Jesusbegegnung: Im Unterschied zur Begegnung Jesu mit der Sünderin und mit Zachäus handelt es sich hier um eine nachösterliche Begegnung mit Jesus, dem Auferstandenen. Einige Aspekte sollen nun näher beleuchtet werden, und zwar zunächst die Verse 1-14, dann werden wir den zweiten Abschnitt in den Blick nehmen.

(1) Die Situation

Der Text führt uns von Jerusalem zurück nach Galiläa an den See von Tiberias. Jerusalem war der Schauplatz der Ereignisse rund um die Verurteilung, den Tod und die Auferstehung Jesu. In Jerusalem haben die Jünger den Auftrag erhalten: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!“ Nach den synoptischen Evangelien war dies unmissverständlich der Auftrag, in die ganze Welt hinaus zu gehen und das Evangelium zu verkünden. Der See von Tiberias hingegen ist die Gegend, von der die Jünger stammen. In den umliegenden Dörfern wohnten die Jünger, lebten ihre Familien und Freunde. Der See von Tiberias war für wenigstens einige von ihnen – Petrus und Andreas, die Söhne des Zebedäus – die Arbeitsstätte: Als Fischer sind sie tagtäglich hinausgefahren auf den See um zu fischen.

Genau hier begegnen wir jetzt den Jüngern, von denen einige namentlich genannt werden, einige nicht, sie bleiben anonym. Jedenfalls sind sie zurückgekehrt in ihren Alltag. Das steht in einem eigenartigen Kontrast zur Sendung, die die Jünger in Jerusalem erhalten haben. Diese Jünger sind nicht nur in ihre Heimat zurückgekehrt, sondern auch zu ihrer gewohnten Tätigkeit, nämlich zum Fischen. Was hat das zu bedeuten? Ist das ein Ausdruck dafür, dass die Jünger definitiv, möglicherweise nach einem anfänglichen nachösterlichen Höhenflug, im Alltag angekommen sind, dass sie vielleicht endgültig resigniert haben, dass dieses wundersame und wunderbare dreijährige Intermezzo mit Jesus einen Abschluss gefunden hat?

Petrus ergreift die Initiative zum Fischengehen. Dass der Fischfang erfolglos bleibt, lässt den biblischen Leser an die Berufungsgeschichte in Lk 5 denken: Auch dort berichten die Jünger von einer erfolglosen Nacht, aber auf das Wort Jesu hin haben sie am Morgen ihre Netze erneut ausgeworfen und reichen Fischfang gemacht. Die Erfolglosigkeit der Mühe der Jünger wird auch noch dadurch verstärkt, dass Jesus sie fragt: „Habt ihr denn keinen Fisch?“, und sie verneinen müssen. Wieder ist es Jesus, der sie auffordert, auf der rechten Seite – die Rechte ist, biblisch gesprochen, Ausdruck der Großherzigkeit und des Wohlwollens Gottes – die Netze auszuwerfen und die Netze werden übervoll. Dies ist der Moment, da der „Jünger, den Jesus liebte“, Jesus erkennt.

Schauen wir kurz auf die beiden Jünger, die im Kapitel 21 im Vordergrund stehen: Simon-Petrus wird als der Aktive vorgestellt, der die Initiative ergreift, und zwar dreimal: Er ergreift die Initiative zum Fischengehen, er reagiert, als sie Jesus erkennen, indem er sich gürtet und ins Wasser springt, er ist es schließlich auch, der das Netz ans Land zieht. Aber: Er ist nicht der, der den Auferstandenen erkennt. Den Herrn hat der Jünger, den Jesus liebte, erkannt. Um Jesus, den Herrn, den Auferstandenen zu erkennen, bedarf es der Liebe. Abgesehen von der schwierigen und komplexen Frage, wieso sie alle, die dem Auferstandenen begegnet sind, ihn zunächst nicht erkannten, soll hier nur festgehalten werden, dass es der Liebe bedarf, um den Auferstandenen zu erkennen.

(2) Das Mahl

Interessant ist nun, dass Jesu bereits alles vorbereitet hat zum Mahl: Kohlenfeuer, Fisch, Brot. Jesus hat das Mahl bereitet, er ist es, der einlädt zum Mahl, aber er will, dass die Jünger von ihrem Fisch bringen. Die Jünger haben von sich aus Jesus gleichsam nichts anzubieten: Sie sind in ihren Alltag zurückgekehrt, sie fischen erfolglos, sie erkennen Jesus zunächst gar nicht, sie nehmen seine Gegenwart so nah bei ihnen zunächst nicht wahr. Der erfolgreiche Fischfang ist nicht Verdienst der Jünger, sondern ein Geschenk, das ihnen Jesus macht, aber gerade von diesem Geschenk will Jesus, dass die Jünger beitragen zum gemeinsamen Mahl, das er dann segnet und es ihnen reicht.

Darin zeigt sich, glaube ich, wiederum, wie wunderbar göttliches und menschliches Handeln ineinandergreifen. Gott ermöglicht das Handeln des Menschen, er eröffnet ihm neue Möglichkeiten, die zuvor vom Menschen selbst gar nicht erahnt werden konnten oder von denen der Mensch gar nicht zu träumen wagte. Gott ermöglicht das Handeln des Menschen, aber er ersetzt es nicht, er handelt nicht einfach statt des Menschen. Obwohl Jesus das Mahl bereits bereitet hat, will er, dass die Jünger von ihrem eigenen Fisch bringen und so beitragen zum Gelingen des Mahles. Das Mahl ist in der Bibel immer Ausdruck von Freude und Gemeinschaft und – im Anklang an die Eucharistie – Gemeinschaft mit dem Auferstandenen: Wer mit Jesus Mahl hält, nimmt seine Lebenshingabe für sich an: Der Apostel Paulus hat bekannt: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat.“ (Gal 2,20) Wer am eucharistischen Mahl teilhat, wer das Brot empfängt und dabei bekennt, „es ist der Leib Christi“, der bekennt zugleich seinen Glauben, dass Christus aus Liebe sein Leben für ihn hingegeben hat und nimmt zugleich diese Lebenshingabe Jesu an: Er glaubt und nimmt an, dass er so sehr geliebt ist, dass Jesus sein Leben für ihn hingibt! Diese Liebe ist reines Geschenk, reine Gnade. Sie geht von Gott aus, der den Menschen als sein Kind angenommen hat (auch Jesus spricht die Jünger an mit „Kinder“), aber damit dieses Geschenk auch zum Ziel gelangt, muss es als Geschenk angenommen sein, und dies geschieht im Glauben an Jesus Christus, im Vertrauen ihm gegenüber, in einer Hoffnung gegen jede Hoffnungslosigkeit. In unserem Text ist dies die Bereitschaft der Jünger, entgegen ihren Erfahrungen als Fischer am Morgen das Netz erneut auszuwerfen. Nur so können sie jenen Fisch fangen, den Jesus dann als ihren Beitrag zum Mahl einfordert und nur so gelingt die Mahlgemeinschaft mit Jesus.

(3) Zurück zur ersten Berufung

Dass uns das Johannesevangelium bei der dritten Begegnung der Jünger mit dem Auferstandenen zurückführt nach Galiläa an den See von Tiberias, ist nicht ohne Bedeutung. Wie schon angedeutet, bedeutet dies die Rückkehr der Jünger in ihren Alltag. Es kann auch Ausdruck von Resignation sein, vielleicht dafür, dass sie sich für eine Weile zurückziehen wollen, alles überdenken wollen, danach suchen wollen, wie sie weitermachen sollen. Und genau hier kommt ihnen Jesus erneut entgegen. Dort, wo er ihnen das erste Mal begegnet ist, und dort, wo er sie anfangs berufen hat. Nach Lk 5 war die Situation dieselbe bis hin zum zunächst erfolglosen Fischfang und der Aufforderung, die Netze erneut auszuwerfen und dem reichen Fischfang.

In Momenten der Resignation, des Zweifelns, vielleicht auch lediglich einer Neubesinnung oder eines Überdenkens des eigenen Lebensweges und der eigenen Berufung, ist es wichtig, dass wir uns zurückerinnern, ja gleichsam zurückgehen an die Stätte der ersten Berufung. Es geht gleichsam darum, sich der eigenen Berufung zu vergewissern und dabei zuzulassen, dass Gott es ist, der die Initiative ergriffen hat, der sie aber auch jetzt wieder ergreift. Nicht ich festige meine Berufung, sondern er ist es, der sich mir neu zuspricht. Momente und Zeiten der Krise oder des Zweifelns werde ich weniger dank meiner eigene Anstrengung und Kraft – so unerlässlich dies auch ist – meistern, sondern weil er mich neu ruft. Wie gesagt, die Vergegenwärtigung und das vertiefende Nachdenken darüber, wie es damals war, als ich meine Berufung zu erkennen glaubte, kann dabei hilfreich sein und helfen, in der Annahme der eigenen Berufung zu wachsen. Unerlässlich dafür ist aber der Blick der Liebe, und zwar in einer zweifachen Hinsicht: Einmal ist es das Vertrauen, dass mir meine Berufung deshalb geschenkt ist, weil Jesus mich liebt, dann aber auch in der Hinsicht, dass ich der Berufung folge aus Liebe zu Jesus, nicht aus Furcht oder Gehorsamsgesinnung, sondern aus Liebe zu ihm, nicht, weil ich auf Nummer sicher gehen möchte und mir dafür gleichsam eine Garantie oder eine Eintrittskarte für das ewige Leben sichern möchte, sondern weil ich ihn liebe, weil ich in ihm die wertvolle Perle erkannt habe, für die ich alles hingebe, die zu gewinnen ich mein ganzes Leben auf die eine Karte setze.

Es gibt in unserem Leben sicher Phasen, die wir durchstehen müssen, in denen wir um Treue zu unserer Berufung ringen müssen, in denen wir uns fragen, warum wir uns das antun, wer denn hinter unserem Tun steht. Vielleicht machen wir auch die Erfahrung, dass unsere Treue zur Ordenprofess, unsere Treue zu Christus brüchig wird, dass wir im Kleinen, vielleicht auch im Großen untreu werden. Vielleicht müssen wir auch mit der Erfahrung ringen, dass wir den Eindruck haben, unserem Versprechen nicht mehr treu sein zu können, weil wir zu weit, innerlich oder äußerlich, abgewichen sind vom Weg unserer Berufung, oder wir erleben die angstvolle und bange Frage, ob wir noch fähig oder würdig sind, den Weg weiterzugehen.

Wie gesagt, gerade in solchen Situationen ist es wichtig, innerlich zurückzukehren an jene Orte und zu jenen Stunden, da uns der Ruf Gottes ereilt hat. Und vielleicht tut es not, ist es notwendig im wahrsten Sinn des Wortes – Not wendend – den Blick ganz von sich selbst weg auf Jesus hinzurichten, oder noch mehr: Sich von Jesus neu anblicken zu lassen, zuzulassen, dass er sich mir zuwendet.

(4) Jesus wendet sich Petrus zu

Der zweite Abschnitt des 21. Kapitels des Johannesevangeliums mag uns da leiten. Da fällt natürlich auf, dass Jesus den Petrus dreimal fragt: Simon, Sohn des Johannes, liebst mich? Beim ersten Mal fügt er dabei noch hinzu: Liebst du mich mehr als diese? Den Petrus kann dies nur an seinen dreimaligen Verrat in der Nacht, in der Jesus ausgeliefert worden war, erinnern. Beim letzen Abendmahl hat er noch großspurig angegeben: Ich werde niemals Anstoß an dir nehmen; ich werde dir folgen, wohin immer du gehst. Aber noch ehe der Hahn den anbrechenden Tag ankündigt, hat er dann Jesus dreimal verleugnet: Ich kenne diesen Menschen nicht. Im Lukasevangelium finden wir ganz kurz, aber ebenso ganz wesentlich folgenden Satz, nachdem Petrus Jesus zum dritten Mal verleugnet hat und der Hahn gekräht hat: Da wandte sich der Herr um und blickte Petrus an. Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. (Lk 22,61f) Der Herr „wandte sich um“: Hier wird dasselbe Verb verwendet wie in Lk 19,8: Zachäus wandte sich dem Herrn zu. Es ist mehr als eine bloße körperliche Bewegung, es ist ein inneres sich jemandem Zuwenden, ein sich zu jemandem bekehren, sich zu jemandem bekennen. Jesus hat sich gleichsam zu Petrus bekannt, sich ihm zugewandt, sich ihm hingegeben in jenem Moment, da dieser ihn zum dritten Mal verleugnet hat.

Die Exegeten sehen in der dreimaligen Frage „Liebst du mich?“ einen deutlichen Anklang an den dreimaligen Verrat des Petrus. Jesus begegnet weder dem Petrus noch irgendeinem der anderen Jünger mit Vorwürfen darüber, dass sie ihn im Stich gelassen haben, dass sie ihn verraten haben. Im Gegenteil: Die nachösterlichen Begegnungen sind dadurch geprägt, dass Jesus sich zu seinen Jüngern bekennt: In Joh 20,17 nennt er sie „meine Brüder“ und hier in 21,5 „meine Kinder“. Die Liebe Jesu zu den Seinen ist und bleibt ungebrochen. Die Evangelien lassen keinen Zweifel daran. Jesus bleibt der, der seine Jünger weiterhin beruft. So wie am Anfang seines öffentlichen Auftretens. Er nimmt die damalige Berufung trotz des menschlichen Scheiterns, trotz der menschlichen Schwäche seiner Jünger nicht zurück, er lässt keinen Zweifel daran, dass der Ruf „Folgt mir nach“ weiterhin gültig bleibt! Petrus wird nach seiner Liebe zum Auferstandenen gefragt, die wichtiger und stärker ist als seine menschliche Schwäche und Feigheit. Petrus weiß, dass er nicht für sich garantieren kann, sondern er kann sich nur auf die Liebe Christi zu ihm verlassen. Die Liebe und Treue Christi zu ihm sind Garantie dafür, dass auch er Christus lieben und ihm treu sein kann.

Vielleicht führt uns das vierte Evangelium deshalb bei der dritten Begegnung der Jünger mit dem Auferstandenen zurück an den Ort der ersten Berufung und der „ersten Liebe“. Aber was ganz deutlich geworden ist, die Jünger können Jesus nicht aus eigener Kraft folgen, aus eigenem Verdienst, sondern weil sich Jesus ihnen zugewandt hat und ihnen zugewandt bleibt. So oft die Jünger fallen, so oft wendet er sich ihnen neu zu. Wie könnten wir da nicht an das Bild des guten Hirten denken, der den verlorenen Schafen nachgeht ins Dickicht und Gestrüpp, in dem sie sich verirrt und verrannt haben. Er wartet nicht einfach, bis sie sich von sich aus neu bekehren oder reumütig zu ihm zurückkehren: Nein, er geht ihnen nach, weil er es nicht ertragen kann, wenn sie in die Irre gehen. Das lässt sich nur mit dem Blick einer unbedingten und vorbehaltlosen Liebe begreifen. Ein Blick, der von sich selbst und den eigenen Verletzungen absieht und den Anderen anblickt und ihn liebt, und zwar umsonst, um seiner selbst willen, nicht seiner Verdienste oder Leistungen wegen oder dafür, was der Andere für mich getan hat. Die dreimalige Frage Jesu an Petrus ist auch eine dreimalige Bekräftigung der Liebe Jesu zu Petrus. So oft Petrus Jesus verraten hat, so oft bekräftigt Jesus seine Liebe zu ihm, und sooft Jesus seine Liebe zu Petrus bekräftigt, so oft will er eine Antwort der Liebe von Petrus!

Nun ist es von Bedeutung, dass Jesus beim ersten Mal fragt: Liebst du mich mehr als diese!, und zugleich nach jeder Antwort dem Petrus den Auftrag gibt: Weide meine Schafe! Jesus über alles zu lieben bedeutet nicht, dass die Liebe zu ihm in Konkurrenz tritt zur Liebe zu Menschen. Die Liebe zu Jesus ist nicht so, dass dadurch die Liebe zu den Menschen weniger würde, sondern im Gegenteil: Den Auftrag, die Schafe und Lämmer zu weiden, kann Petrus ja nur erfüllen aus Liebe zu den Schafen und Lämmern. Petrus erweist seine Liebe zu Jesus gerade darin, dass er die Liebe Jesu hinausträgt in die Welt, dass er mit eben dieser Liebe Jesu ein guter Hirte wird wie es Jesus war. So führt er den Auftrag Jesu aus: Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch! Die Gottesliebe nimmt der Nächstenliebe nichts weg, sondern sie übersetzt sich vielmehr in die Nächstenliebe und in die Verantwortung füreinander, die so weit geht, das eigene Leben hinzugeben.

In den Versen 18-19 findet sich deshalb auch die Ankündigung, dass Petrus in der Nachfolge Jesu das Leben hingeben wird: „Amen, amen, das sage ich dir: Als du noch jung warst, hast du dich selbst gegürtet und konntest gehen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein Anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst. Das sagte Jesus, um anzudeuten, durch welchen Tod er Gott verherrlichen würde. Nach diesen Worten sagte er zu ihm: Folge mir nach!“

Oft betrachten wir selbstmitleidig unsere Misserfolge oder lassen uns entmutigen, wo uns Gott doch einlädt, nicht aufzugeben und jeder Hoffnungslosigkeit zu trotzen mit je neuer Hoffnung! „Nur wenige Menschen wissen, was Gott aus ihnen machen würde, wenn sie sich ihm ganz anvertrauten“ (nach Ignatius von Loyola).

3. Abschließende Gedanken: Im Zeugnis für Christus ihn selbst als Gabe empfangen

Sich in die Nachfolge Jesu begeben – und das ist das Grundprogramm jeder christlichen Spiritualität und im Besonderen des Ordenslebens – bedeutet, den Spuen Jesu zu folgen, die keine ausgetretenen Spuren sind. Auch wenn ich nie allein unterwegs bin auf den Spuren Jesu, kann nur ich jenen Weg gehen, den Jesus für mich vorgesehen hat, auf den er mich berufen hat – aus Liebe zu mir. In diesem Sinn bleiben wir in der „Schule des Vertrauens zu Jesus“, ein Vertrauen, das besonders in schwieriegen und kritischen Momenten geprüft, aber auch geläutert wird. Gerade dann, aber nicht nur dann, ist es notwendig, d.h. wendet es die Not, dass ich mir bewusst Zeit nehme, um mich hineinzubegeben in die „Atmosphäre Jesu“, dass ich sein „Ja“ zu mir in mir erklingen höre, seinen Ruf in die Nachfolge, den ich irgendwann in meinem Leben vernommen und dem ich getraut habe, dem ich gefolgt bin, im Vertrauen darauf, dass Jesus mich nicht in die Irre führt und dass er mich nicht irre werden lässt an meiner Berufung. Jesus ist „der rekreative Mensch“, durch dessen bedingungslose Annahme wir neu geschaffen werden. Er ist der Mensch, der mir hilft, Mensch zu werden, d.h. meine menschlichen Qualitäten, meine Fähigkeiten und Potentiale an Menschlichkeit, bestmöglichst zu verwirklichen.

Mit einer Aussage von Papst Benedikt XVI. möchte ich diese Gedanken beschließen: „Man muss in eine Logik des kostenlosen Gebens eintreten, um ein richtiges Bild vom Leben zu haben. Es gibt eine Verantwortung aus Liebe und Barmherzigkeit, die dazu verpflichtet, aus dem eigenen Leben ein Geschenk an die Anderen zu machen, wenn man sich tatsächlich selbst verwirklichen will.“[5]

Dieser Gedanke zielt ins Herz des christlichen Glaubens, insofern sich das Christusereignis selbst – von der Menschwerdung bis hin zum Tod am Kreuz und zur Auferstehung – als Gabe deuten lässt, die seitens des Menschen gerade deshalb eine unbedingte Antwort erfordert. Der Ruf Gottes, das Angebot der Liebesgabe seines Sohnes, ist der heilsgeschichtliche Indikativ, der dem sittlichen Imperativ vorausgeht und diesen erst eröffnet. Dieser Imperativ besteht in der Nachfolge Jesu darin, sich der Gesinnung Jesu mehr und mehr anzugleichen, nämlich seiner Kenosis und Proexistenz aus Liebe (vgl. Phil 2,5-11). In der Angleichung an die Gesinnung Jesu, die sich in einer liebenden und selbstvergessenen Selbsthingabe vollzieht, empfangen wir die Gabe Christi – u.zw. im Sinne sowohl des genitivus subjectivus als auch objectivus, d.h. die Liebe, die Christus schenkt, sein unbedingtes Ja zu uns, aber auch Christus selbst als das Geschenk des Vaters an uns. In der Selbsthingabe öffnen wir uns der Heilswirksamkeit des Christusereignisses und gewinnen in der Gemeinschaft mit Christus das ewige Leben, sodass sich das Paradoxon als wahr erweist: In der Hingabe des (irdischen) Lebens vollzieht sich der Empfang des (ewigen) Lebens. Der Gewinn des ewigen Lebens bedeutet den Empfang der ersten Gabe, die der Gabe der Selbsthingabe vorausgeht, diese ermöglicht und schließlich auch vollendet. Eine Spiritualität des Ordenslebens ist durchdrungen von dieser „Logik der Gabe“, wonach die Selbsthingabe der Vollzug des Empfangs seiner selbst ist.

Prof. Dr. Martin M. Lintner OSM


Erstveröffentlichung: Cistercienser Chronik 119 (2012), Heft 3, 385–406.


[1] Beim folgenden Beitrag handelt es sich um den zweiten Teil der Exerzitienvorträge für die Gemeinschaft von Wettingen-Mehrerau vom 16.-18. August 2011. Der Stil des mündlichen Vortrags wird weitgehend beibehalten, ebenso wird auf einen ausführlichen Fußnotenapparat verzichtet. Der erste Teil wurde in Cistercienser Chronik 118 (2011) 3, 389-396 veröffentlicht. P. Martin M. Lintner OSM ist Mitglied des Servitenordens und Professor für Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen.

[2] Karl Rahner, Theologische Bemerkungen zum Begriff „Zeugnis“, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. 10., Einsiedeln 1972, 164-180.

[3] Vgl. Ratzinger Joseph, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. Mit einem neuen einleitenden Essay, unveränderte Neuausgabe, München 52005, 85.

[4] S. dazu: Metz Johanna Baptist, Religion, ja – Gott, nein, in: ders./Peters Tiemo Rainer, Gottespassion. Zur Ordensexistenz heute, Freiburg u.a. 1991, 13-62, bes. 14-21.

[5] Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer am internationalen Kongress der päpstlichen Akademie für das Leben zum Thema „Ein Geschenk für das Leben. Überlegungen zum Problem der Organspende“ (7.11.2008). 

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