In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Beitrag von DDr. Ingrid Fischer & Dr. Piotr Kubasiak

Am 9. Mai wird der Europatag gefeiert: Eine Erinnerung daran, dass wir in Frieden und Einheit leben. Die Bedeutung der europäischen Gemeinschaft und der Bedarf an Solidarität ihrer Staaten untereinander sind in der Corona-Krise sichtbarer denn je. Am Europatag lohnt es sich, einen Blick auf die eigene Geschichte zu werfen und zu fragen, in welcher Zukunft wir leben wollen und ob die Kirchen etwas dazu beitragen können.

1918 hat Österreich entschieden, seine Zukunft auf demokratischen Grundlagen aufzubauen. Seine seither wechselvolle Geschichte ist von enormen Erfolgen, aber auch von Verwerfungen und dunklen Phasen geprägt. Seit über 25 Jahren gehört Österreich zur Europäischen Union: von der Mehrheit als selbstverständlich und positiv zur Kenntnis genommen, von anderen kritisiert und beklagt. In welchem Österreich wollen wir in Zukunft leben? Was können Kirche und Staat – bei Bewahrung ihrer Trennung – dazu beitragen?

Ein besonderes Jahr

1918 brachte ein Ende: für die moralisch-kulturelle Selbstgewissheit der Europäer auf der Überholspur des Fortschritts, für die Österreichisch-Ungarische Monarchie und für „Europa“ – als koloniale Macht, die der Welt Tempo und Entwicklungslinie diktiert hatte.

Auf welchen Grundlagen sollte sich Europa in dieser Situation neu erfinden? Hierzulande wurde das Restgebilde der zerfallenen Monarchie als Erste Republik ausgerufen, trotz allem „mit einer großen Zuversicht auf eine neue Welt“ (Heinz Fischer).

Die katholische Kirche suchte nach dem Verlust der Allianz von Thron und Altar den „Schutz“ der christlichsozialen Partei und fand im autoritären Ständestaat bis 1938 Heimat. Das NS-Regime schien suspekt, aber besser als der Kommunismus, und so schlingerte der Kirchen-Kurs zwischen Anbiederung, Widerstand und Überleben – nach dem Krieg mit dem Ergebnis, künftig auf jede parteipolitische Anbindung oder Einflussnahme zu verzichten (Mariazeller Manifest 1952).

Neues Verhältnis von Kirche und Staat

Das II. Vatikanische Konzil (1962-1965) bestimmt das Weltverhältnis der Kirche neu: nicht im Gegenüber zur Welt, sondern inmitten dieser Welt, von der sie nicht mehr Unterordnung verlangt, sondern deren Autonomie sie anerkennt. „Die Welt“ wird der Kirche zur „Menschheitsfamilie“, für die sie sich fortan „politisch“ engagieren wird, denn: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“

Europa im Wandel

Zwei Weltkriege haben Europa gravierend verändert. Die Gründung der politischen Europäischen Union soll den Frieden, Wohlstand und Lösungen grenzüberschreitender Probleme sichern – ein Erfolgsmodell und doch im letzten Jahrzehnt mannigfaltigen Krisen ausgesetzt: Wirtschafts- und Währungskrise, geopolitische Konflikte und Terrorismus, die Krise der (liberalen) Demokratie und des Sozialstaates, Nationalismen, Populismus, Umgang mit Migration; dazu stehen Bürokratie, unzureichende demokratische Legitimierung und die Ferne zur Lebensrealität der Bürger als Vorwürfe im Raum; der Einheitsgedanke wird in einzelnen Mitgliedsstaaten immer öfter nationalen Interessen oder politischer Opportunität geopfert. Der „Brexit“ ist der vorläufige Tiefpunkt dieser Entwicklung.

Offene Zukunft

Über 100 Jahre sind seit dem großen Umbruch im Jahr 1918 vergangen und über 50 seit dem Konzil. Österreich ist ein demokratisches Land und Teil der europäischen Gemeinschaft. Die Kirchen verlieren zwar Mitglieder, stellen aber immer noch eine starke gesellschaftliche Kraft dar.

Die jüngsten Entwicklungen in Europa und in den USA zeigten, dass Demokratie und die Einheit Europas nicht selbstverständlich sind. So bleibt Europa eine Aufgabe und ein Zukunftsprojekt, dessen Identität potentiell mit jeder Entscheidung auf dem Spiel steht. Es kommt darauf an, das europäische Erbe und Europa als geistig-kulturelle Gemeinschaft zu bewahren und für die kommenden Generationen zu gestalten. Dazu könnten die Kirchen mit ihrer Erfahrung von Bewahrung der Einheit in größtmöglicher Vielfalt entscheidend beitragen …

Erstveröffentlichung: Magazin Klassik No. 10/Herbst 2018, 60-63. Auch online: [Link]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert