Predigt von Hans Kessler am 21.08.2022 in Werther/Westf. (zu Lk 13,22-30)

Lk 13,22-30: „Auf seinem Weg nach Jerusalem zog er von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf und lehrte. Da fragte ihn einer: Herr, sind es nur wenige, die gerettet werden? Er sagte zu ihnen: Bemüht euch mit allen Kräften, durch die enge Tür zu gelangen; denn viele, sage ich euch, werden versuchen hineinzukommen, aber es wird ihnen nicht gelingen. Wenn der Herr des Hauses aufsteht und die Tür verschließt und ihr draußen steht, an die Tür klopft und ruft: Herr, mach uns auf!, dann wird er euch antworten: Ich weiß nicht, woher ihr seid. Dann werdet ihr anfangen zu sagen: Wir haben doch in deinem Beisein gegessen und getrunken und du hast auf unseren Straßen gelehrt. Er aber wird euch erwidern: Ich weiß nicht, woher ihr seid. Weg von mir, ihr habt alle Unrecht getan! Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein, wenn ihr seht, dass Abraham, Isaak und Jakob und alle Propheten im Reich Gottes sind, ihr selbst aber ausgeschlossen seid. Und sie werden von Osten und Westen und von Norden und Süden kommen und im Reich Gottes zu Tisch sitzen. Und siehe, da sind Letzte, die werden Erste sein, und da sind Erste, die werden Letzte sein.“

Das heutige Evangelium – was für ein Text!
Irgendeine Liturgiekommission im Vatikan hat ihn vor Jahrzehnten für den heutigen Sonntag vorgeschrieben. Ich hätte lieber einen anderen Text gewählt. Aber jetzt haben wir ihn und müssen uns mit ihm auseinandersetzen.
O Herr Jesus Christus, hast du das alles so gesagt? All diese Worte? Und zu wem sind sie gesagt?
Und wenn du, Herr Jesus, bei Gott bist, also auch heute hier bei uns gegenwärtig bist, was willst du uns heute sagen? Oder willst du uns heute vielleicht eher etwas anderes sagen?

Ein kleiner Blick in die Werkstatt der Bibelwissenschaft. 4 Punkte:

1. Die Worte des heutigen Sonntagsevangeliums finden sich nicht im ältesten Evangelium, im MkEv, sie finden sich nur bei Lk und ähnlich bei Mt. Lk und Mt haben sie aus der sog. Logien- oder Spruchquelle übernommen.
Was ist das für eine Quelle, die Logien- oder Spruchquelle? Hinter ihr steht eine Gruppe von jüdischen Christen, die in denselben Dörfern und Städten Galiläas lebt und wirkt, in denen Jesus gepredigt und gewirkt hatte. Diese judenchristliche Gruppe hat Jesusworte gesammelt und weiterverkündet: Jesusworte, Logien, Sprüche (nicht Erzählungen vom Wirken und Leiden Jesu, von Heilungen Jesu, die hat Mk gesammelt).

Nun wurden die Jesusworte ja zunächst mündlich weitergegeben. Aber die Sammler und Tradenten haben an den Jesusworten auch weitergearbeitet, haben ihre eigenen Probleme und Erfahrungen mit einfließen lassen, also auch Formulierungen hinzugefügt. Irgendwann wurden die gesammelten Logien dann auch schriftlich fixiert, aufgeschrieben.
Als die Römer im Jahr 67 Galiläa einnahmen, flohen diese Judenchristen nach Syrien, dort haben dann Mt und Lk die Spruchsammlung kennengelernt und aufgenommen, zusätzlich zum circa 70 geschriebenen MkEv, und so haben Mt und Lk circa 90 ihre Evv verfasst, und zwar auch so, dass sie die Situation, die Probleme ihrer Gemeinden miteinfließen ließen.
Die Texte der Evv haben also eine längere Geschichte durchlaufen und transportieren die Erfahrungen ihrer Gemeinden in dieser Geschichte mit; das kann man an den Texten selber sehen, wenn man sie sorgfältig miteinander vergleicht und mit dem, was wir sonst über diese Zeit wissen.

2. Diese jüdischen Christen, die viele Jesusworte gesammelt haben, waren Wandermissionare in Galiläa, sie lebten weiter in der Jesusnachfolge (Lk 6,40): lebten in bewusster, zeichenhafter Armut (10,4), heimatlos (9,57f), gewaltlos (6,27-30) und in Naherwartung des Reiches Gottes (10,9). Sie hielten sich weiterhin an jüdische Speisevorschriften und Sabbat und Beschneidung, verblieben also im Verband des Judentums.
Diese Judenchristen verkündeten und lebten die Botschaft Jesu also mitten unter den anderen Juden Galiläas, und dabei gerieten sie oft und zunehmend in Konflikt mit denen, die sich nicht für Jesus gewinnen ließen. Einen Bruch zwischen Juden und Christen gab es noch nicht, es war noch ein ganz innerjüdischer Konflikt.
Das damalige Judentum (vor der Zerstörung des Tempels und Jerusalems im Jahre 70) war ja sehr vielfältig, es gab viele Strömungen, darunter eben auch diese messianischen Juden, die sich an Jesus hielten. Und zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppen gab es starke Spannungen und Diskussionen, wie die Tora zu verstehen und zu befolgen sei.
Zentral war auch die Diskussion: Wer wird im Gericht gerettet? Dazu sagten die einen groß-zügig: Ganz Israel hat teil an der zukünftigen Welt. Andere aber sagten: „Diese Welt hat der Höchste für Viele geschaffen, aber die zukünftige Welt nur für Wenige“ (so z.B. wörtlich in 4 Esra 8,1; u.a.). Viele – Wenige.

3. Hier setzt das heutige Sonntagsevangelium ein. Da fragt einer: Herr, sind es nur wenige, die gerettet werden?
Am Ende des heutigen Evangeliums heißt es dann: „Man wird von Osten und Westen, von Norden und Süden kommen und im Reich Gottes zu Tisch sitzen“, also viele.
Doch zuvor kommen ganz harte Gerichtsworte: „Ihr aber seid ausgeschlossen“.
Das sagen Juden, die sich an Jesus halten, zu anderen Juden, die sich nicht an Jesus halten. Ein innerjüdischer Konflikt, wie gesagt.
Und in diesem innerjüdischen Konflikt greifen die Judenchristen in Galiläa nicht nur Gerichtsworte Jesu auf, sondern sie verschärfen den Tonfall, indem sie vorgefertigte Gerichtsmotive aufgreifen, die damals bereitlagen.
Die Bilder von zwei Wegen, von der breiten Tür und der engen Pforte, und dass es wenige sind, die gerettet werden, solche Dinge stehen schon in Ps 1,6; Jer 21,8; 1 Hen 91,18f, 4Esra, 2Bar, TestAbr usw. Und die Ausdrücke „Heulen“ (Jes 15,3; 22,12; Jer 3,21; Mi 7,4; 1Hen 108,3.5) und „Zähneknirschen“ sind bei Propheten, in Psalmen 35,16; 37,12; Ijob 16,9; Klgl 2,16 gebräuchliche Wendungen für Trauer und Wut über die verpasste Chance; am endzeitlichen Heil teilzunehmen.
Und dann heißt es: Viele versuchen, durch die enge Tür ins Reich Gottes zu kommen, aber schaffen es nicht; da muss man also was schaffen. Erschreckender noch: Der Hausherr (Gott, der Richter) steht auf und verschließt selbst die Tür, dann steht ihr draußen; und wenn ihr klopft und aufbegehrt („wir waren doch mit dir zusammen auf unsern Straßen“), dann weist der Hausherr euch schroff ab: Ich weiß nicht, woher ihr seid, ich kenne euch nicht, weicht von mir, ihr habt alle Unrecht getan. Ganz harte Worte.
Frage: Wollen die Leute der Logienquelle und will dann auch das LkEv, in dem das alles steht, wollen sie die Andersgläubigen verdammen? Davon ist in diesen drastischen Worten keine Rede. Vielmehr warnen sie vor falscher Selbstsicherheit, vor Gleichgültigkeit und Unrecht-tun. Sie machen die Umkehr dringlich.
Durch die (enge oder verschlossene) Tür reinkommen, das heißt also, nicht Unrecht, sondern Recht tun, jüdisch: die Tora befolgen, judenchristlich: die Worte Jesu tun. Der Weg der Rettung im Gericht ist das Tun der Worte Jesu (und damit wird zugleich die jüdische Tora erfüllt, also nicht aufgehoben; die Tora ist in der Spruchquelle vorausgesetzt und bejaht).
Es geht den Juden, die sich an Jesus halten und die in Galiläa eine Minderheit unter den verschiedenen jüdischen Gruppen waren, nicht darum, Andersgläubige zu verdammen, sondern die eigene Gemeinde in ihrer Minderheitensituation zu bestärken: lasst euch nicht irritieren und abbringen, gehört lieber zu den „wenigen“, die gerettet werden.

4. Im heutigen Sonntagsevangelium geht es also um Rettung im Gericht.
Das war jahrhundertelang die Frage bei vielen frommen Christen: Was muss ich tun, damit ich in den Himmel komme? Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Bis hin zum Hochgebet in der Messe: „Vater erbarme dich über uns alle, damit uns das ewige Leben zuteilwird in der Gemeinschaft mit Maria usw.“ Da fehlt doch etwas, da fehlt: Vater, erbarme dich über uns alle, damit unser jetziges Leben gelingt und wir das zu tun vermögen, was jetzt wichtig ist.
Geht es denn Jesus nicht ganz primär genau darum?
Der Schwerpunkt des Wirkens und der Botschaft Jesu liegt doch auf der Gegenwart, wo Gott mit seiner allen geltenden Güte jetzt schon das Leben der Menschen erreichen und durchdringen möchte (wie der Sauerteig das Mehl durchsäuert, das Salz die Speise, das Licht die Dunkelheit durchdringt). Gott will mit seiner Güte jetzt schon alle erreichen, gerade die Leidtragenden, Armen, Unterdrückten, aber auch die schuldig Werdenden und Schurken, damit sie umkehren.
Gott will der Menschen Leben vor dem Tod verändern, sodass hier und jetzt ein gerechteres, friedlicheres Zusammenleben möglich wird. Aber er lässt die Menschen auch im Tod nicht fallen, sondern fängt sie auf. Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand.
Die Bergpredigt kann die Botschaft Jesu so zusammenfassen: „Sucht zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, und alles andere wird euch hinzugegeben werden.“ (Mt 6,33)
Die Vollendung des Reiches Gottes steht wahrlich noch aus, aber seine anfängliche Verwirklichung hier und jetzt, darum geht es Jesus (mag die Verwirklichung auch noch so klein sein wie ein Senfkorn, das aber wachsen kann). „Dein Reich komme, dein Wille geschehe, auch auf Erden“: das steht bei Jesus im Zentrum, die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod fehlt nicht, aber sie rutscht an den Rand.
Wir müssen runter von der verkehrten Meinung, dass Jesus uns wegen seiner Auferstehung primär aufs Jenseits und auf ein Leben nach dem Tod ausrichte, nein, er verweist uns an das jetzige Leben, um dort das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen.

Um solche Gerechtigkeit (des Reiches Gottes) mühen sich auch viele andere redliche Menschen: in der Politik, in Schulen und Kitas, in Heimen und Krankenhäusern, oder die Ehrenamtlichen in Secondhand-Shops und Tafeln usw. Oder die was tun für die Hungernden im Südsudan und in Ostafrika usw.
Oder jene Frau in der Nähe, die kaum in die Kirche geht und die es nicht dicke hat, die aber eine hochschwangere Ukrainerin und ihre dreizehnjährige Tochter aufgenommen hat und umsorgt, die zwei (nein die drei) waren 6 Tage zu Fuß unterwegs gewesen, das Baby ist inzwischen gut geboren.
Solche Menschen machen das alles ja nicht, um im Gericht gut dazustehen, sondern einfach, weil es nötig ist und anderen hilft.
Der Vater des Neugeborenen und seiner 13-jährigen Schwester ist übrigens in der Ukraine, schwer verwundet.

Komm, Herr Jesus, komm und hilf!

Amen.

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