Von der Fassungskraft der Gläubigen

„Und weil ich nichts kann, drum fang ich nichts an.“ So meint im Kinderreim das „kleine Binkerl im Winkerl“, dem keiner etwas zutraut – weshalb es auch nie erfahren wird, dass und was es kann.

„Die Riten mögen den Glanz edler Einfachheit an sich tragen und knapp, durchschaubar und frei von unnötigen Wiederholungen sein. Sie seien der Fassungskraft der Gläubigen angepaßt und sollen im allgemeinen nicht vieler Erklärungen bedürfen.“ (Sacrosanctum Concilium 34)

Nur ein Jahr nach Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962) wurde der Auftrag für eine fundamentale Reform der Liturgie erteilt: Weder pompös noch banal, maßvoll und sachgerecht reduziert, von sich her sprechend sollte sie wieder sein – und: „der Fassungskraft der Gläubigen angepasst“ (fidelium captui accommodati). Wer aber waren und sind „die Gläubigen“, die den Riten nicht mehr nur passiv beiwohnen, sondern die sie nun verstehen und aktiv mit- oder selbst vollziehen würden? Denen das rituelle Geschehen zur persönlichen Aneignung aufgegeben wurde? Wer beurteilt, was „die“ (immer schon ungleichartigen) Gläubigen zu fassen imstande sind, um daraus Konsequenzen für „angepasste“ Formen liturgischen Feierns zu ziehen?

Rituell-kommunikative Partizipation bedarf einer gemeinsamen Basis. Dafür sind die Bedingungen je neu zu prüfen, und es besteht gleichermaßen eine Bring- wie Holschuld aller Beteiligten: Von kirchenamtlicher Seite erforderte die angestoßene Ritenreform Verantwortung für eine der – wie auch immer bemessenen – „Fassungskraft der Gläubigen“ förderliche Pastoral: Stimmig und in der Volkssprache vollzogen, würden diese die Riten, Gebete und Zeichen „leicht verstehen“ (SC 59). Zugleich sollten sie das Mysterium „wohl verstehen lernen“ (SC 48) und ihrerseits „recht bereitet“ hinzutreten (SC 11; 61). Die liturgische Bildung des Gottesvolkes (inklusive Klerus) wurde als unerlässlich für eine Ritualkompetenz in „voller, bewusster und tätiger Teilnahme“ (SC 14; 19 u. ö.) erkannt. Und: „Anpassung“ berücksichtigt Gegebenheiten – das allgemeine Vermögen genauso wie spezielle (etwa kindliche) oder individuelle (außerordentliche) Bedürfnisse – ohne sie festzuschreiben.

Nicht wenige vom Konzil motivierte Priester haben mit ihren Gemeinden neue Maßstäbe liturgischer Teilhabe gesetzt und viele sogenannte „Laien“ ihre theologische Bildung selbst in die Hand genommen. Doch so zügig die Liturgiereform zunächst ihre Prägekraft entfaltet hat, so rasant haben sich Kirche und Gesellschaft seither verändert. Die ab den 1980er-Jahren spürbare klerikale Restauration in einer schwindenden Volkskirche und die Abkehr von der – „strukturreformiert“ inzwischen todgeweihten – Pfarrgemeinde hin zur Kasualienpastoral und einer „diakonischen“ Liturgie für spirituell Suchende (seltener mit ihnen) ohne engere kirchliche Bindung haben die Parameter gottesdienstlichen Handelns radikal neu bestimmt.

Diese Situation bindet pastorale Kräfte und setzt liturgisch-theologischem Anspruch engere Grenzen. Denn Personen mit seltener Feiererfahrung richten ihre Aufmerksamkeit und Wahrnehmung anders aus als ein (als homogen zumindest postuliertes) Kirchenvolk, das rituell zwar nicht kompetent, aber immerhin eingewöhnt war. Das einstige optimistische, aber nicht konsequent verfolgte Bildungsziel wurde, nach unten korrigiert, den Fassungsvermögen ihrer alten und neuen Adressat*innen neu angepasst – und Ähnlichkeiten festgestellt: Vieles, was „Fernstehende“ nicht kennen oder wissen, war auch „Laien“ die längste Zeit nicht zugänglich, entfremdet oder vorenthalten. Und: Was die einen wie die anderen zu fassen bekommen (und was nicht), entscheiden nicht sie, sondern die zuständigen Autoritäten. Drei Bereiche sind davon besonders betroffen: die Schriftlesungen, die sinnliche Symbolik und der liturgische Gesang.

Die Kirche beteuert, sie habe „die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlaß das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht“ (DV 21), doch die Bibellektüre war dem christgläubigen Volk jahrhundertelang verwehrt. Was ihm davon – meist Ewiggleiches fast immer nur aus den neutestamentlichen Schriften – gereicht wurde, vermochte es gerade ausreichend zu nähren, aber kaum auf den Geschmack zu bringen. Erst die neue Leseordnung hat tatsächlich „den Tisch des Gotteswortes reicher bereitet“ (SC 51); und in jüngster Zeit hat der durch den Ordinationsmangel erzeugte eucharistische Notstand dazu geführt, dass sich eigene Wort-Gottes-Feiern etablieren konnten.[1] In einer durchschnittlichen Sonntagseucharistie hingegen sind die alttestamentliche Lesung und der als „Zwischengesang“ missverstandene Psalm immer noch „Wackelkandidaten“ der Liturgieplanung. Begründet wird dies eilig mit ihrer angeblichen pastoralen Unzumutbarkeit – zu viel, zu lang, zu schwierig … oder wie in der Allgemeinen Einführung ins Stundengebet zur Vermeidung „gewisser psychologischer Schwierigkeiten“ (AES 131) mit einem „allemal unpassenden Gott“ (J. B. Metz).

Covid-19 hat der „den Gläubigen“ seit dem letzten Konzil schrittweise zugestandenen Kommunion unter beiderlei Gestalt (Brot und Wein) ein Ende bereitet, bevor sie ins rituelle Gedächtnis eingehen konnte, und andere elementare leibliche Erfahrungen wie singen, einander berühren, sich bewegen etc. neuerlich auf ein Minimum reduziert.

Der liturgische Gesang entbehrt der eingemahnten Pflege (SC 121), wo das spirituell und theologisch reiche Liedrepertoire vom gregorianischen Choral bis zu qualitätsvoller zeitgenössischer Kirchenmusik – angeblich zu alt, zu fremd, zu viele Strophen … – brachliegt und unbeachtet bleibt, dass im Singen –  in Worten, „die man niemals allein verwirklichen kann, an die man sich nur mit anderen gemeinsam heranwagt“ (Huub Ooosterhuis) – die Sprache des Glaubens erlernt wird.

Die von der Liturgiereform angestrebte Vertiefung aller Feiernden in die Liturgie konnte teils nur bedingt fruchten, teils scheint die Zeit über sie hinweggegangen zu sein. Heutige Bemühungen um Attraktivität gottesdienstlicher Feiern rechnen fast immer mit einer minimalen Fassungskraft der Beteiligten als kleinstem gemeinsamen Nenner. Zu selten führen sie in die vom Konzil aufgetane „Schatzkammer der Bibel“ (SC 51), zum „Schatz der Kirchenmusik“ (SC 114) oder zur Teilhabe am Kelch, „sooft dies einem Priester, dem als zuständigem Hirten die Gemeinschaft anvertraut ist, richtig erscheint“ (GORM 283) – eine erfreuliche Erweiterung der „vorgesehenen Gelegenheiten“ (GORM 85) für den „Laien-Kelch“, doch klingt selbst hier noch die Verwechslung der feiernden Subjekte der Liturgie mit Objekten der Seelsorge durch.

Ihre – ebenso unterschätzte wie unterforderte – liturgisch-theologische Fassungskraft selbst auszuloten, wurde Katholik*innen bisher kaum jemals zugestanden. Sechzig Jahre nach der Konzilseröffnung wäre es freilich an der Zeit, damit ernstzumachen, dass die Getauften sonntags nicht „in die Kirche“ gehen, sondern sich versammeln und vor Gott erscheinen, um gemeinsam „kraft der Taufe berechtigt und verpflichtet“ die kirchliche Liturgie zu tragen (SC 14) – und dazu befähigt sind die Zumutung der göttlichen Selbstmitteilung zu fassen: in den Schriften beider Testamente, in den Liedern ungezählter Generationen, denen sie ihren Glauben verdanken, und am Tisch des Herrn, der sie nicht abspeist, sondern ihnen mit Herzblut begegnet … Gott denkt groß vom Menschen – warum nicht endlich auch wir?

DDr. Ingrid Fischer, Theologische Kurse

Erstveröffentlichung: https://www.feinschwarz.net/von-der-fassungskraft-der-glaeubigen/


[1] Noch ist aus der Not keine echte Tugend geworden, solange diese Feiern als Kompromiss und (mit Kommunion) als vermeintlicher „Messe-Ersatz“ dienen müssen, doch werden derartige von ausgebildeten Frauen und Männern solide vorbereitete Feiern inzwischen sehr geschätzt.

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