Wollte ich rufen, würde er mir Antwort geben?

Ich glaube nicht, dass er auf meine Stimme hört. (Iob 9,16) Das ist Hiobs bittere Einsicht am Ende seiner vergeblichen Empörung gegen das ungerechte Leiden, das ihn getroffen hat. Die „wissenden“ Antworten seiner theologisch gebildeten Freunde erschienen ihm als untauglich. Hiobs Frage nach dem Warum quälen ihn (und viele Leidende) nicht weniger als Krankheit, Schmerz, Verlust der Liebsten und sozialer Tod. Dazu kommt die Frage: Wozu leide ich? Gott aber, wenn ich ihn in meinem Elend fragte, würde er mir Antwort geben? Und welche?

Am erwarteten Ende des irdischen Daseins stellt sich nicht nur Ijob die Frage nach der Endgültigkeit des gelebten Lebens: nach Gut und Böse, Mühe und Leid, Erfolg und Misserfolg, Recht und Unrecht, Seligkeit oder Verdammnis. Im Jüngsten Gericht, so glauben wir, kommen Menschen in die Wahrheit über ihr Leben. Es verleiht ihrem Leben Geltung für immer. Daran erinnern auch die ernsten liturgischen Texte im sich neigenden Kirchenjahr. Sie stammen nicht zufällig aus dem letzten Buch des christlichen Alten Testaments und dem letzten Buch des Neuen Testaments und sprechen Schlussworte über das Ende des Lebens und das Ende der Welt im kommenden Endgericht.

Die verheißene Wiederkehr des Herrn – „Siehe, ich komme bald.  … Ja, ich komme bald. – Amen. Komm, Herr Jesus!“ (Offb 22,7.20) war einst erfüllt von Hoffnung auf Gerechtigkeit für alle Opfer von Leid und Unrecht. Doch die bittende Naherwartung des kommenden Christus ist im Lauf der Zeit der Vorfreude auf die alljährliche Feier der Geburt des Jesuskindes gewichen. Und der Advent rückte als dessen Vorbereitungszeit vom Ende an den Anfang des liturgischen Jahres. Nur wenige Spuren des ursprünglich eschatologisch-adventlichen Kommens Christi haben sich in den gottesdienstlichen Lesungen erhalten. Haben wir den Blick vom Ende abgewendet, weil wir uns nichts (mehr) davon versprechen? Ist unsere Hoffnung inzwischen so kleingläubig, dass sie zwar dem historischen Eintritt Jesu in die Erdenzeit gilt, aber nicht mehr seiner endzeitlichen Ankunft und Offenbarung, auf die die Schöpfung „in Geburtswehen“ doch sehnsüchtig (Röm 8,22) wartet?

Rede und Antwort stehen im Gericht

Jahrhundertelang hat die Gerichtsdrohung der kirchlichen Verkündigung Menschen in Angst und Schrecken versetzt – und das Bild des biblischen Gottes furchterregend ins Groteske verzerrt. Was wird der Richter mich fragen, wie über mich urteilen „wenn die Bücher geöffnet werden“ (Offb 20,12)? Die Bilder der Verdammnis, welche die Bibel, aber mehr noch die Fresken und Bilder der Biblia pauperum den Gläubigen vor Augen stellen, sind unfassbar grausam und vernichtender endgültig. Die geringe Hoffnung der Hölle zu entrinnen war an penibel einzuhaltende Bedingungen geknüpft. Ein extrem bußfertiges Leben und die mittelalterliche Ars moriendi konnte helfen, nicht im Zustand der Todsünde zu sterben. Nicht schuldig zu werden schien freilich ebenso unmöglich wie im Gericht bestehen zu können. Heute meidet die Liturgie zum Totengedenken sowie die Sterbe- und Begräbnisliturgie alles Bedrohliche und Beängstigende, sie klagt nicht an und beschuldigt nicht, will bergen und trösten, lässt Klagen und Fragen zu. So hat das Gericht viel von seinem Schrecken verloren, nicht aber seine Notwendigkeit. Denn die Fragwürdigkeit des Lebens in seiner Abgründigkeit bleibt.

Was aber, wenn auch wir im Gericht Gott fragen, anklagen, ja beschuldigen dürften? Und anders als Hiob Antwort erhielten? Umfassender auch als die theologische Expertise es lange Zeit für denkbar hielt? Es ist doch weder die Verteidigung Gottes noch seine Rechtfertigung durch Menschen (Theodizee) Gottes würdig, von dem die Schrift sagt: „Der HERR macht tot und lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf.“ (1 Sam 2,6) und „Der das Licht formt und das Dunkel erschafft, der das Heil macht und das Unheil erschafft, ich bin der HERR, der all dies macht.“ (Jes 45,7)?

Warum ist deine Schöpfung voll Leid?

Der Pastoraltheologe Ottmar Fuchs plädiert für die erlaubte Umkehrung der Frage nach der Ursache für das Böse in der Welt, denn sie weckt neue Zuversicht auf das Gericht „über Lebende und Tote“: So sehr Menschen fähig und willens sind, einander (gänzlich frei?) Böses anzutun und abgrundtiefes Leid zuzufügen – größer bleibt Gottes „dunkle“ Letztverantwortlichkeit für eine Welt, seine Schöpfung, in der die Erfahrung von Leid, Grauen und Unrecht die der Freiheit bei weitem übersteigt. Darf also die Verantwortung des Schöpfers eingeklagt werden in der Frage: Warum hast du nicht eine Welt geschaffen, in der Freiheit vom Bösen herrscht und unendliche Freiheit zum Guten? – in der Gewissheit, dass Gottes Antwort „niemals unter dem Niveau dessen sein [wird], was an Gottesfinsternis auszuhalten war.“[1]

War nun aber das Böse alternativlos der Preis der Freiheit des gut geschaffenen, aber selbstverschuldet gefallenen Menschen?

Nicht wie Hiob aus Verzweiflung, aber aus Gewissenszweifeln eines Naturwissenschaftlers, der im Einklang mit der Schrift eine plausible Synthese von evolutionstheoretischen Erkenntnissen und theologischen Einsichten sucht, unternimmt Wolfgang Schreiner in seiner „Evolutionstheologie“ einen ungewöhnlichen Denkversuch.[2] Wo ihm gängige theologische Erklärungen für das Leid – „Aus Gut wird Schlecht?“[3] – und die Erlösung ungenügend erscheinen, nähert er sich „vollkommen umgekehrt“[4] an – und kommt ins Fragen: Die vertraute Erzählung vom Sündenfall lastet dem Menschen die Hauptschuld am Verlust des Paradieses an; doch auch Gott hat durch die strafweise Verhängung eines beschwerlichen Erdenlebens einen Anteil an seiner „Schlechtigkeit“. Stimmen freilich diese Schuldkonzepte, die sich – teils wörtlich (miss)verstanden – bis in die Gegenwart halten? Oder ließen sich andere Konsequenzen aus der Ursprungserzählung ziehen?

Sind wir vom Bösen erlöst?

Wenn nämlich Gott mit der Evolution einen Anfang gesetzt hat und ihren a-moralischen Mechanismen von Mutation und Selektion freien Lauf ließ, wurde sie zwar kein Paradies, aber in ihrer wunderbaren Artenvielfalt höchst erfolgreich – bis zum Auftauchen des Menschen, dessen Intellekt ihm als erstem Geschöpf erlaubt hat, über den persönlichen „Erfolg“ hinaus Möglichkeiten zum Guten und Besseren zu erkennen und zu erstreben: Es gingen ihnen die Augen auf … (vgl. Gen 3,5.7) Hier könnte das Leiden des Menschen begonnen haben, denn auch er trägt sein „ererbtes evolutionäres (Verhaltens-) Inventar“ in sich, das ihn tagtäglich in Widerspruch zu dem ethisch Guten bringt, das er anstrebt. Dieser „stammesgeschichtlichen Erbschuld“ – in der Verhaftung an evolutionsbedingte Übel – wollen alle seither von Menschen ersonnenen und göttlich offenbarten moralischen Grundsätze, ethische Normen und Lehrsätze, die Goldene Regel, der Dekalog, das Gebot der Nächsten- und der Feindesliebe etc. entgegenwirken. Denn die vor-ethischen Regulative seiner Abstammung, die dem Zufall Macht über Sein oder Nicht-mehr-sein geben und das Schwache am Recht des Stärkeren zugrunde gehen lassen, haben den Menschen auch heute im Griff. Diese Situation bedarf der Erlösung.

Hat uns dein Leiden versöhnt?

Christ*innen finden die Erlösung im Kreuz und deuten sie traditionell als „Sühne“. Wie die Sühnerituale im Heiligtum Israel die Begegnung mit Gott ermöglichten, offenbart das Kreuz als „Sühnemal“ (Röm 3,25; vg. 1 Joh 2,2; 4,10; 5,6-8; Kol 2,14) den wahrhaft „heruntergekommenen“ Gottessohn selbst, dessen Mitgefühl alles erträgt, um alles „an sich zu ziehen“ (vgl. Joh 12,32). Vor diesem Hintergrund führen beide Autoren ihre Fragen weiter: Sühnt hier Gott selbst „für den Staub des Todes“[5] seiner unvollkommenen Schöpfung indem er solidarisch darin hinabstieg und die „Sünde der Welt“ – „die Kollateralschäden der Evolution“[6] – auf sich genommen hat? Um den an der Wirkmacht ihrer Abstammung leidenden Menschen mit-leidig beizustehen und ihnen mit der Botschaft Jesu „Soforthilfe“ zu ihrer Überwindung zu leisten? Und uns zu bitten: „Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,20)?

Ob Evolution oder Schöpfung: In unserer Welt übertrumpft das Böse vielfach die Freiheit, und Menschen tun es, obwohl sie es nicht wollen (vgl. Röm 7,15). Sie alle werden zu Opfern und Tätern gleichermaßen und am Letzten Tag als solche end-gültig gerichtet – „instandgesetzt“, wiederhergestellt, vollendet? Ihre Befragung wird alles aufdecken, damit es vom Licht erleuchtet wird (vgl. Eph 5,13), denn „auch die Finsternis ist vor dir nicht finster.“ (Ps 139,12) Gottes Befragung aber, die das zu begreifen sucht, wird ihn nicht weniger als Gott anerkennen als Hiobs Resignation vor der Unbegreiflichkeit des Schöpfers. Wie würde er nicht auf unsere Stimme hören?

DDr. Ingrid Fischer, THEOLOGISCHE KURSE


Erstveröffentlichung: https://www.praytellblog.com/index.php/2022/11/21/if-i-summoned-him-and-he-answered-me/


[1] Fuchs Ottmar, Das Jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtigkeit, Regensburg 2007, 107.

[2] Schreiner Wolfgang, Göttliches Spiel. Evolutionstheologie, Wien 2013, 145.

[3] Ebd. 145.

[4] Ebd. 143.

[5] Fuchs Ottmar, Der zerrissene Gott. Das trinitarische Gottesbild in den Brüchen der Welt, Ostfildern 2014, 5.

[6] Wie Anm.2, hier 172.

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