Die „Frankfurter Silberinschrift“. Ein frühchristliches Amulett stellt die Frühgeschichte der Liturgie und religiösen Praxis in Frage

Beitrag von Prof. Dr. Harald Buchinger (Universität Regensburg, Ehrenfreund der THEOLOGISCHEN KURSE)

Ein am 11.12.2024 vom Frankfurter Oberbürgermeister vorgestelltes Silberamulett aus einem Gräberfeld der Römerstadt Nida auf dem Gebiet des heutigen Frankfurt erregte zu Recht europaweit mediales Aufsehen und fand den Weg auf die Titelseiten von Leitmedien; wirft die vom Frankfurter Archäologen Prof. Dr. Markus Scholz entzifferte Inschrift aus dem dritten Jahrhundert doch nicht nur ein neues Licht auf die Frühgeschichte des Christentums nördlich der Alpen; mit dem Zitat des Dreimalheilig stellt es auch Fragen an die Entwicklung der altkirchlichen Liturgie und religiösen Praxis. Die Entzifferung war nicht zuletzt technisch bemerkenswert: Die fragile Rolle wurde überhaupt erst dadurch zerstörungsfrei lesbar, dass sie vom Leibniz-Zentrum für Archäologie Mainz durch Computertomographie elektronisch „entrollt“ wurde.

Eines der ältesten Zeugnisse christlichen Lebens nördlich von Donau und Main

Das gerollte Silberplättchen war in einer ebenfalls silbernen, ca. 3,5 cm langen Kapsel einem männlichen Verstorbenen im zweiten Drittel des dritten Jahrhunderts, zwischen 230 und 270 n. Chr., um den Hals gebunden; die Erdbestattung in einem Sarg war in der römischen Kultur dieser Zeit nicht selbstverständlich. Der Fund ist schon insofern eine Sensation, als es sich um eines der ältesten Zeugnisse christlichen Lebens nördlich von Donau und Main sowie östlich des Rheins überhaupt handelt; erstaunlich ist auch der rein christliche Inhalt der achtzehnzeiligen Inschrift: Der Text hat ausschließlich christliche Züge, ohne synkretistische Elemente, die sonst gerade auf Amuletten der Spätantike weit verbreitet waren. Jesus Christus wird wiederholt als Gottes Sohn bezeichnet; die Inschrift schließt mit einer Anspielung auf Phil 2,10-11, den sogenannten Christus-Hymnus des Philipperbriefes, und stellt so einen der frühesten Belege für die Bibelrezeption in der germanischen Peripherie des Römerreiches dar.

Das Dreimalheilig in Liturgie und religiöser Praxis

Besonders bemerkenswert ist das Dreimalheilig am Anfang des Textes, gleich nach der einleitenden Anrufung. In der Bibel kommt der dreifache Heilig-Ruf zunächst in der Berufungsvision des Propheten Jesaja vor, wo es im Mund der Seraphim vor dem Thron JHWHs im Jerusalemer Tempel erklingt (Jes 6,3); die Johannes-Apokalypse zitiert ihn in der Vision der Verehrung dessen, der auf dem himmlischen Thron sitzt, durch die vier Lebewesen (Offb 4,8), die ihrerseits der Schau des Thronwagens Gottes in Ez 1 entstammen. Dass das Dreimalheilig im ansonsten lateinischen Text der Frankfurter Silberinschrift zwar in lateinischen Buchstaben, aber in griechischer Sprache geschrieben ist, weist es eindeutig als Formel aus. In der christlichen Liturgie ist das Dreimalheilig allerdings erst ein Jahrhundert später, ab der Mitte des vierten Jahrhunderts, erstmals bezeugt (sogenannte Barcelona-Anaphora im Papyrus-Codex P.Monts.Roca; sogenanntes Euchologion des Sarapion); im Laufe der Zeit wurde es dann rasch als fixer Bestandteil des Hochgebets in Ost und West zu einem Höhepunkt der eucharistischen Liturgie. Ab dem fünften Jahrhundert verbreitet sich das Dreimalheilig auch auf Amuletten. Wenn der Text nun bereits im dritten Jahrhundert im heutigen Deutschland als Formel gebraucht wird, stellt die Frankfurter Silberinschrift weitreichende Fragen für die Geschichte seiner Verwendung in Liturgie und religiöser Praxis: Ein ins 3. Jh. datiertes Zeugnis verschiebt die älteste Bezeugung auf einem Amulett um zwei Jahrhunderte. Das ist nicht nur in sich sensationell, sondern hat darüber hinaus Konsequenzen für Rekonstruktion des Gesamtbilds; lag es doch bisher nahe, Zitate des Dreimalheilig auf Amuletten als von der Liturgie inspiriert zu betrachten. Entweder muss man aufgrund des neuen Fundes die Liturgiegeschichte umschreiben und die Interpolation des Sanctus ins Hochgebet, die man bislang im vierten Jahrhundert beobachten zu können glaubte, deutlich früher ansetzen, wofür aber liturgische Zeugnisse völlig fehlen; oder das biblische Dreimalheilig wurde nicht von der Liturgie auf Amulette übernommen, sondern unabhängig vom kirchlichen Gottesdienst direkt aus der Bibel.

Zwar illustriert der altkirchliche Hymnus „Te Deum“ (4./5. Jahrhundert?), dass das Dreimalheilig im spätantiken Christentum generell eine beliebte Formel war, die in verschiedensten Kontexten aufgegriffen werden konnte; es inspirierte auch einen Prozessionsgesang am Beginn der ostkirchlichen Messe, der ab dem 6. Jahrhundert greifbar ist und später auch im gallischen Westen rezipiert wurde. Die historisch schwierig einzuordnende Verwendung der biblischen Akklamation in der jüdischen Morgenliturgie zeigt, wie produktiv die Vision des Jesaja im Gottesdienst auch jenseits des Christentums war.

Das Amulett mit der Frankfurter Silberinschrift lädt ein, die Geschichte des Dreimalheilig als Formel in der Liturgie und in der breiteren religiösen Praxis neu zu bedenken und stellt dabei auch die fundamentale Frage nach der Richtung des Einflusses zwischen biblischem Text, Liturgie und „magischem“ Gebrauch der Formel.

Prof. Dr. Harald Buchinger
Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft
Fakultät für Katholische Theologie
Universität Regensburg
harald.buchinger@theologie.uni-regensburg.de
Homepage: https://www.uni-regensburg.de/theologie/liturgiewissenschaft/team/profdrharaldbuchinger/index.html


Links (auch mit Photos und Übersetzung der Inschrift):

Pressemitteilung der Stadt Frankfurt am Main vom 11.12.2024: https://frankfurt.de/aktuelle-meldung/Meldungen/Frankfurter-Silberinschrift/ mit Film: https://frankfurt.de/service-und-rathaus/presse/frankfurter-silberinschrift-film und weiteren Dokumenten (Pressemappe, Photos): https://media.frankfurt.de/Presse/TD_2024/12_Dezember_2024/Newsletter_20241211_2/Silberinschrift/

Pressemitteilung der Goethe-Universität Frankfurt am Main vom 12.12.2024: https://aktuelles.uni-frankfurt.de/forschung/frankfurter-silberinschrift-aeltestes-christliches-zeugnis-noerdlich-der-alpen-gefunden/


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