Wie biblische Texte als Wort Gottes verstehen?

Vortrag von Prof. Hans Kessler am 6.11.24 in Werther/Westf. zum Thema: Wie biblische Texte als Wort Gottes verstehen?

Liebe Freunde!

Etwa 1/3 der Menschen, die in der Bibel lesen, erklären, sie sollte wortwörtlich verstanden werden. Das hat eine neue empirische Untersuchung ergeben. Also: Ein Drittel derer, die überhaupt in der Bibel lesen, sagen, die Bibel sollte buchstäblich wörtlich verstanden werden.

Was dabei herauskommen kann, zeige ich in einem ersten Teil an 3 Beispielen.
In einem zweiten Teil will ich die Grundfrage behandeln, wie man biblische Texte verstehen kann, was das große Zweite Vatikanische Konzil 1962-1965 dazu gesagt hat: ob und wie wir in biblischen Texten Gottes Wort finden können.
Im dritten und letzten Teil will ich dann fragen, ob es einen Maßstab, ein Kriterium gibt, woran wir uns heute orientieren können.  

1. Teil: Es gibt in der Bibel manches, was irritieren kann. 3 Beispiele.  

    Erstes Beispiel frauenfeindliche Texte:

    Um 130 nach Chr. haben irgendwelche Christen dem Paulus in seinen (8o Jahre vorher, um 50, verfassten) ersten Korintherbrief folgenden Einschub hineingeschrieben, wörtlich: „In der Gemeindeversammlung sollen Frauen schweigen, sie sollen sich unterordnen, und wenn sie etwas lernen wollen, dann sollen sie zu Hause ihre Männer fragen“ (1 Kor 14,33b-36). Holla! Redeverbot für Frauen im Gottesdienst! Und Unterordnung! Das ist ein direkter Widerspruch zu dem, was Paulus im selben Brief kurz vorher sagt, nämlich dass Frauen genauso wie Männer „im Gottesdienst vorbeten und prophetisch reden (also predigen) sollen“ (11,4-5). Und derselbe Paulus hat im Galaterbrief erklärt: „Ihr seid alle durch den Glauben Kinder Gottes in Christus Jesus. Da gilt nicht mehr Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann und Frau – denn ihr seid alle einer in Christus Jesus“ (3,28). D.h.: Die diskriminierenden Unterschiede, die in der Gesellschaft herrschen, sind aufgehoben. (Freilich, schon um 75 hat der nachpaulinische Kolosserbrief 3,11 das letzte Paar „nicht Mann und Frau“ schon wieder gestrichen und in 3,18 von Unterordnung der Frau gesprochen!)

    Genau diese diskriminierenden Unterschiede, die in der antiken Gesellschaft Norm waren, wurden von Jesus und ihm folgend von Paulus aufgehoben, aber dann von späteren christlichen

    Autoren wieder zur Norm erhoben (z.B. im 1 Tim 2,11-15 um 130 nC). Und just diese wieder patriarchal denkenden Christen der dritten Generation haben um 130 nC dem Paulus in seinen (8o Jahre vorher, um 50, verfassten) ersten Korintherbrief diesen Einschub hineingeschrieben: die Frauen sollen in der Gemeinde schweigen und sich den Männern unterordnen.

    Heute sagen manche: Bitte, so steht es doch in der Bibel: „in der Kirche sollen Frauen schweigen“ – und Jesus habe doch nur Männer zu Aposteln berufen.

    Doch das stimmt nicht: Im Urchristentum waren auch Frauen Gemeindeleiterinnen, man muss nur z.B. das Schlusskapitel des Römerbriefs aufschlagen, wo Paulus etliche Gemeindeleiterinnen namentlich grüßt: Phöbe, Prisca, Junia usw. – Frauen waren Gemeindeleiterinnen (erst im 2.Jh. werden sie verdrängt), und Frauen gehörten, wie z.B. Maria von Magdala in Joh 20 zeigt, auch in den Apostelkreis (der wurde erst später auf Männer reduziert).

    Ein zweites Beispiel: antijudaistische Stellen in den Passionsgeschichten der Evangelien. Historisch gesehen ist klar, dass Jesus (auf Betreiben der Jerusalemer Tempelaristokratie) vom römischen Statthalter Pilatus als Aufrührer zum Tod am Kreuz verurteilt worden ist. Genau das aber (dass Pilatus, der Vertreter des römischen Kaisers, Jesus zum Kreuzestod verurteilt hat), das wurde später im römischen Reich für Christen zum Problem, setzte sie der Verfolgung aus. Deshalb versuchten die Evangelisten immer mehr den Römer Pilatus zu entlasten, den nach damaligen Zeugnissen tatsächlich ganz brutalen Pilatus, den suchten sie zu entlasten. Am wenigsten das MkEv, am stärksten das späte JohEv, das schließlich Pilatus Jesu Unschuld bezeugen lässt und stattdessen (in Joh 8,40.44 wörtlich) erklärt, „die Juden“ hätten Jesus „getötet“ und  würden „vom Teufel stammen“. „Die Juden“ – der spätere christliche Antijudaismus setzt hier an.

    Um 150 taucht in einer Osterpredigt des Bischofs Melito von Sardes zum ersten Mal die Rede vom „Gottesmord“ der Juden auf, womit später jahrhundertelang Hass und Pogrome gegen Juden gerechtfertigt wurden. Erst das Zweite Vatikanische Konzil hat auf Wunsch von Papst Johannes XXIII. (+ 1963) hier 1965 eine klare Umkehr der Kirche vollzogen. Evangelische Christen haben 1947 das Stuttgarter Schuldbekenntnis gesprochen.

    Doch obwohl wir also jeden Antijudaismus überwinden möchten, wird am Palmsonntag immer noch die Passionsgeschichte (auch die aus dem JohEv mit den antijüdischen Stellen) vorgetragen – ohne jeden erklärenden Kommentar. Viele alte Texte erfordern einfach eine Erklärung (die oft fehlt).

    [Nebenbei: für die judenchristlichen Gemeinden des JohEv war der Konflikt noch ein innerjüdischer: für Judenchristen war der Bruch zwischen ihren Gemeinden und der Synagoge ein Trauma, das solch harte Urteile über die Juden hervorbrachte, obwohl doch dasselbe JohEv immer wieder die Jünger Jesu als Juden bezeichnet. Aber dann wurde aus dem innerjüdischen Bruch ein Bruch zwischen Christen und Juden überhaupt.]

    Noch ein drittes Beispiel (eins aus dem AT): Im Buch Exodus gibt es zwei verschiedene Erzählungen vom Auszug aus Ägypten (die miteinander verflochten sind, aber unterscheidbar sind, weil die eine Gott immer Elohim nennt, die andere immer Jahwe). Nach der ersten, älteren Erzählung ließ Gott einen starken Ostwind kommen, der die Wasser zurücktrieb, so dass die Israeliten gut durch das Schilfmeer kommen konnten. Für die zweite, spätere Erzählung ist Ostwind zu wenig wunderbar, nein, Moses Stab bewirkt, dass die Wassermassen rechts und links wie Mauern standen und in der Mitte Israel trockenen Fußes hindurchkam, während die Ägypter alle ertranken (Ex 15,21: „Singt Jahwe, hocherhaben ist er, Ross und Reiter warf er ins Meer“). Das wird in der Osternacht noch immer ohne Kommentar vorgelesen.

    Doch schon der Prophet Jesaja hat gegen solchen ausländerfeindlichen Nationalismus seinem Volk Israel folgendes ins Stammbuch geschrieben: „An jenem Tage wird Israel der Dritte im Bunde sein neben Ägypten und Assyrien, ein Segen inmitten der Erde, indem der Herr der Heerscharen spricht: Gesegnet ist Ägypten, mein Volk, und Assyrien, das Werk meiner Hände, und Israel, mein Erbbesitz!“ (Jes 19,24f).

    Oder im dritten Buch Mose, in Levitikus 19,33f.36, heißt es gegen alle Ausländerfeindlichkeit: „Wenn ein Fremdling bei dir wohnt in eurem Land, so sollt ihr ihn nicht bedrücken. Wie ein Einheimischer aus eurer eigenen Mitte soll euch der Fremdling gelten, der bei euch wohnt, und du sollst ihn lieben wie dich selbst – seid ihr doch selbst Fremdlinge gewesen im Lande Ägypten; ich bin der Herr, euer Gott, der euch aus dem Lande Ägypten herausgeführt hat“.

    Die ertrunkenen Ägypter ließen gläubige Juden nicht in Ruhe. So heißt es im Talmud: Gott weinte über die toten Ägypter. Wie wäre es, in der Osternacht solches (aus Jes 19 oder Lev 19) zu erwähnen? Oder: Gott weinte über die toten Ägypter.

    Und müsste es heute nicht entsprechend heißen: Gott weint über die toten Kinder in Gaza und Beirut ebenso wie über die toten oder verschleppten Israelis vom 7. Oktober 2023? Doch heute verjagen rechtsradikale, extremistische Siedler im Westjordanland die palästinensischen Bauern, brennen ihre Häuser ab und berufen sich dafür auf Stellen im AT, wonach Gott ihnen das Land versprochen habe, es also ihnen gehöre. Dem heutigen Israel tun sie damit keinen Gefallen.  

    Irritierende Bibeltexte, was man aus ihnen alles gemacht hat! Und immer noch macht!

    Man darf halt nicht einzelne Texte isolieren und für eigene Zwecke missbrauchen, sondern man muss den großen Zusammenhang und Gesamtsinn der Bibel beachten. Das wäre eine erste Regel.  

    2. Teil: Grundsatzfragen: Wie die Bibel verstehen?

    Die Bibel ist nicht einfach ein Buch, das buchstäblich von Gott kommt und Wort für Wort zu befolgen ist.

    Anders als der Koran. Der Koran gilt ja strenggläubigen Muslimen als vom Himmel gefallenes Buch, als wunderbares, absolut vollkommenes, heiliges Buch, das Buchstabe für Buchstabe zu akzeptieren ist als Wille Allahs, trotz aller Widersprüche. Gut informierte muslimische Intellektuelle und Forscher (wie Mouhanad Korchide in Münster) sehen das anders, erkennen die Zeit-Bedingtheit des Koran, bedingt durch verschiedene politische Situationen im Leben Muhammads, sehen vorislamische, jüdische und christliche Einflüsse im Koran, erkennen Bildungen der späteren islamischen Gemeinde oft lange nach Muhammads Tod usw.! Aber für strenggläubige Muslime ist der Koran eben das absolut vollkommene Buch, das Wort für Wort zu akzeptieren ist als Wille Allahs, von Gott herabgesandt.

    [Eine himmlische „Urschrift“ des Koran sei bei Allah präexistent (heißt es in den Suren 3,7 und 85,21f), und es gab Streit darüber, ob dieser himmlische Urkoran geschaffen ist oder unerschaffen ewig ist.]

    Die Bibel aber ist nicht einfach ein Buch, das vom Himmel kommt, menschlichen Schreibern von Gott diktiert, Wort für Wort inspiriert, also verbalinspiriert und daher irrtumslos, deshalb Wort für Wort zu befolgen. So haben das zwar engstirnige Buchstabengläubige früher angenommen und Evangelikale sehen das auch heute so (nicht nur in den USA).

    Aber der Bibel wird das nicht gerecht.

    Nun wird man nicht bestreiten, dass biblische Verfasser (zumal Propheten oder Psalmbeter) für den Geist Gottes offen waren, dass sie etwas von diesem Geist eingelassen haben (in ihr Leben, ihr Denken, ihr Schreiben), der eine mehr, der andere weniger, dass sie also vom Geist Gottes „inspiriert“ waren, auch wenn ihre Sätze und Buchstaben von menschlicher Begrenztheit geprägt sind.

    Deswegen sagt Paulus gegen alle Buchstabengläubigen: „Der Buchsstabe tötet, der Geist ist es, der lebendig macht“ (2 Kor 3,6); „wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2 Kor 3,17). „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, zu der Freiheit, die „in der Liebe tätig wird“ (Gal 5,1.6.11f).

    Die Bibel ist also nicht vom Himmel gefallen, sie wurde  von sehr verschiedenen Autoren auf Erden geschrieben, zu ganz verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Situationen. Daraus folgt: die Bibel (auch das NT) ist nicht ohne Mängel und Fehler, nicht ohne Beschränkung und Irrtum. Sie ist eine höchst vielfältige Sammlung von Zeugnissen des Glaubens.

    Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) hat dazu Wegweisendes gesagt in seiner Offenbarungskonstitution, die mit den Worten beginnt „Dei Verbum“ (= Gottes Wort).

    [Dieses II. Vatikanum war das bisher größte Konzil in der Geschichte, fast 3000 Bischöfe aus aller Welt, dazu viele theologische Berater (wie Karl Rahner, Joseph Ratzinger, Hans Küng, um nur einige deutsche zu nennen). Zunächst wollte eine Minderheit ihre römische Schultheologie festschreiben (die Heilige Schrift sei verbalinspiriert und irrtumslos, Gen 1-3 seien Tatsachenberichte). Diese Minderheit legte einen Entwurf vor, der von der großen Mehrheit zurückgewiesen wurde, so dass ein neuer Text erarbeitet werden musste und dann 1965 mit überwältigender Mehrheit beschlossen wurde.] 

    Aus diesem grundlegenden Text will ich nur drei Punkte nennen:

    1. Offenbarung bedeutet nicht Information über irgendwelche unbekannten Sachverhalte, sondern Offenbarung bedeutet „der unsichtbare Gott offenbart sich selbst“ (heißt es in Art. 2). Er „spricht Menschen an wie Freunde, um sie in seine Gemeinschaft einzuladen“. In der Heiligen Schrift erzählen Menschen von ihren Erfahrungen mit Gott. In dieser Welt kann Gott sich nicht deutlicher kundtun, als er es in Jesus Christus getan hat, in ihm ist Gottes Selbstoffenbarung vollendet (heißt es in Art. 4). Das bedeutet: Gott kann auch anderswo, auch heute, zu Menschen sprechen, aber alles Entscheidende, was er uns in dieser Welt zu sagen hat, das ist in Jesus Christus zu finden, er ist die end-gültige Offenbarung, die bis ans Ende dieser Welt gilt.   

    2. (heißt es in Art. 11,1) Die Bibel ist nicht von Gott diktiert, sie ist nicht einfach buchstäblich die Offenbarung, sondern „das von Gott Geoffenbarte“ ist „in der Heiligen Schrift enthalten“. Gott hat „in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen“ (so Art. 12,1), durch Menschen, die ihre besondere Erfahrung mit Gott in menschliche Worte gebracht haben. Die Heilige Schrift ist also Gotteswort im Menschenwort, man muss im Menschenwort das Gotteswort suchen.

    3. Deswegen heißt es in Art. 12,1: „um zu erfahren, was Gott uns mitteilen wollte, muss man sorgfältig erforschen, was die  biblischen Autoren „wirklich zu sagen beabsichtigten und  was Gott mit ihren Worten kundtun wollte“.

    Also zwei Schritte: Zunächst sorgfältig erforschen, was die menschlichen Verfasser wirklich sagen wollten (das ist Aufgabe der Bibelwissenschaft). Dann fragen, was Gott uns damit sagen will. Eine naiv wörtliche Auslegung greift immer zu kurz.

    Und in Art 11,2 heißt es: Die Heilige Schrift lehrt die Wahrheit, aber „nur die Wahrheit, die Gott um unseres Heiles willen aufgezeichnet haben wollte“, damit unser Leben gelingt.

    Also: die Bibel will nicht naturwissenschaftliche Kenntnisse lehren, da sind ihre Vorstellungen zeitbedingt.

    Bekanntestes Beispiel: Immer noch behaupten Evangelikale in den USA und hierzulande, auch in Werther oder Steinhagen, die Schöpfungserzählungen Gen 1-3 seien Tatsachen-berichte, die Welt sei in 6 Tagen erschaffen (oder in 6000 Jahren, weil nach Ps 90,4 für Gott 1000 Jahre wie ein Tag sind), usw., deswegen müsse man die Evolution ablehnen.

    Erleuchtete Menschen der christlichen Geschichte wie Augustinus oder Nikolaus von Kues haben das anders gesehen. So hat z.B. schon um 370 nC. der Bischof Gregor von Nyssa in Kappadokien, einer der vier griechischen Kirchenväter,  in seiner Auslegung von Gen 1 (dem Text mit den 7 Tagen) folgendes geschrieben (ich zitiere ihn): „Gott hat am Anfang gleichsam eine gewisse Keimkraft zur Entstehung des Alls grundgelegt (griech.: dynamis tis spermatikä = eine gewisse Keimkraft), darin war der Möglichkeit nach alles enthalten, was sich dann entfaltet hat, der Wirklichkeit nach war das Einzelne noch nicht da“, es hat sich allmählich entwickelt. Das hat Gregor 1500 Jahre vor Darwin geschrieben, mit einem ganz ähnlichen Satz hat dann 1859 Charles Darwin sein epochemachendes Werk „Über die Entstehung der Arten“ beschlossen („Es liegt etwas wirklich Erhabenes in der Auffassung, dass der Schöpfer den Keim allen Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht hat und dass … aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und weiter entsteht“ – Gregor hatte das schon auf die gesamte, auch kosmische Evolution ausgedehnt).

    Der griechische Bischof Gregor von Nyssa hat nie gedacht, der Text mit den 7 Tagen sei Wort für Wort inspiriert, so habe sich das alles abgespielt, nein, Gregor hat gefragt, was das für ein Text ist (ein Gedicht nämlich, ein Loblied auf Gott mit 7 Strophen, formuliert in den Vorstellungen der damaligen Zeit und Kultur).

    Das Zweite Vatikanum hat 1965 in seiner vorher erwähnten Offenbarungskonstitution (Art. 12,2-4) ganz klar gesagt: Um zu verstehen, was die Texte sagen wollen, muss man vieles erforschen, z.B. die sozialen und Zeitbedingungen, dann die „Redegattungen“ (ein Brief sei anders zu verstehen als eine Erzählung, ein Gleichnis oder Gedicht anders als eine geschichtliche Darstellung oder Bericht, ein Prophetenwort anders als eine Gesetzesbestimmung) usw.  Also in der Bibel will Gott uns nur die Wahrheit mitteilen, die wir für ein gelingendes Leben brauchen.

    Man muss sich klarmachen: Die Bibel ist nicht einfach nur ein Buch, sie ist eine ganze Bibliothek: 46 Bücher des AT + 27 Bücher des NT. Verschiedene Schriften, verschieden lang (zwischen 1 und 66 Kapitel), aus einem Zeitraum von über 1000 Jahren. Also eine höchst vielfältige Sammlung von Zeugnissen des Glaubens aus einer langen Geschichte von Menschen mit Gott, einer wechselvollen Lerngeschichte von Menschen mit Gott.

    Die Bibel: eine große erregende, herausfordernde Erzählung, aus vielen kleinen Erzählungen gewachsen.

    Viele biblischen Texte, bei den Propheten Elia, Amos, Hosea, Jesaja, in den Psalmen, bei Hiob, sind ein einziges Ringen darum, wie Gott zu verstehen ist, und was das für unser Menschsein und unser Zusammenleben bedeutet. Wie Gott zu verstehen ist:

    z.B. die Erzählung über Elia am Gottesberg Horeb (1 Kön 19): Ein gewaltiger Sturm, ein Felsen spaltendes Erdbeben und versengendes Feuer. Aber Jahwe (=„Ich bin da“) war nicht im Sturm, auch nicht im Erdbeben, und nicht im Feuer, nein, Elia vernimmt „eine leise Stimme verschwebenden Schweigens“ (übersetzt Martin Buber), eine Stimme in seinem Innern.

    Das ist es immer wieder: Menschen, die ein Sensorium, eine Antenne für Gott entwickeln, Menschen, die für Gottes Stimme in ihrem Innern offen sind und innerlich ein Echo geben, Resonanz geben, antworten – und die deswegen das Unrecht der Mächtigen anklagen und für Gerechtigkeit kämpfen.

    Solche für Gott und ihre Mitmenschen offenen Menschen tragen zu einer erstaunlichen Lerngeschichte mit Gott bei. Eine Lerngeschichte! So wird schon in vielen Texten des AT die allen geltende Güte Gottes geradezu zum Inbegriff Gottes. In vielen Psalmen, z.B. Ps 86,11.15: „lehre mich, Herr, deinen Weg, denn du bist barmherzig, gnädig, langmütig und reich an Güte und Treue“, oder Ps 57,11: „Deine Güte reicht, soweit der Himmel geht“. Prägnant fasst Sirach 18,13 so zusammen: „Das Erbarmen des Menschen gilt nur seinem Nächsten, das Erbarmen Gottes gilt allen Menschen.“  

    Ganz eindeutig wird das dann bei Jesus von Nazaret: Bei ihm tritt Gott in großer Klarheit hervor als reine Barmherzigkeit ohne Grenzen, als eindeutige Güte, die für alle entschieden ist, die alle sucht, wirklich alle, auch den Verlorensten, selbst den Verkommensten, und keinen fallen lässt. Dass Gott pure Barmherzigkeit und Güte sei, die für alle entschieden ist, das sagt Jesus nicht bloß, er lässt es für andere geschehen, es wird für sie spürbar. „Das Reich Gottes bricht an“, wo solches geschieht. Auch in seinem Anhängerkreis werden andere Beziehungen eingeübt: nicht mehr Mobbing und Über-andere-herrschen-wollen, sondern Andern-aufhelfen, die ganz unten, die Kinder und die Geringsten, werden zum Leitbild. 

    Dass der tiefste Urgrund der Wirklichkeit kein kalter Urgrund ist, den es nicht berührt, was da läuft in unserer Welt, dass Gott vielmehr Agape ist, d.h. eine eindeutig bejahende Größe, die in den positiven Dynamiken am Werk ist (im Antrieb zum Guten) und auf Gutes hinaus will, dass seine Güte alle erreichen möchte, genau das behauptet Jesus mit seiner ganzen Existenz. Damit setzt er sich in klaren Widerspruch zu vielem in der Welt. Deswegen wurde er ja auch liquidiert.

    [Eine Fußnote dazu: Seine Botschaft von Gott, dessen Güte grenzenlos allen gilt, seine Botschaft von Gott, der jeden zuvorkommend annehmen will (man muss ihn nur an sich ran lassen, ihn in sich zulassen), seine Botschaft von Gott, der vergibt, ohne zuvor eine Bußleistung oder ein sühnendes Tier-Opfer im Tempel zu verlangen, – das war denen, die von diesem blutigen Tempelbetrieb Profit hatten, unerträglich, deswegen spielten sie Jesus als Aufrührer dem Römer Pilatus zu.]

    Jesus hat an der allen geltenden Güte Gottes festgehalten, auch in Misserfolg, Leiden und im Schweigen Gottes, dort, wo ihm der allmächtige Nothelfer verloren ging, wo er nur noch seine Not hineinschreien konnte in das Dunkel der nicht mehr begreifbaren Güte Gottes, an den er sich nochmals klammerte: „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

    Dass Gott ihn, der sich von Gott verlassen fühlte, nicht verlassen hat, ihn vielmehr aufgefangen hat und aufgenommen in sein göttliches Leben, er also lebt, das glauben Christen. Christen, die sich in dieser Unrechts-Welt heute durchaus von Gott verlassen fühlen können.  

    Die Bibel eine Lerngeschichte mit Gott, hatte ich gesagt. Nichttheologen, Kulturwissenschaft-ler (wie René Girard oder wie Jan und Aleida Assmann) haben festgestellt,  es sei auffällig, wie in der Bibel (schon vor Jesus, erst recht bei ihm) Zug um Zug die Gewalt entlarvt und zurückgedrängt wird, keine Heldenverehrung, vielmehr werden die Helden vom Sockel gestoßen und die Kleinen werden groß gemacht, die Unbedeutenden, die Unerwünschten, die Unterdrückten. Die Bibel ist voller Realismus und voll tiefer Menschenkenntnis (von der Paradieserzählung angefangen). 

    Durchweg geht es in den Texten der Bibel um die Zentralfrage nach dem einen Gott – und seine Bedeutung für unser Menschsein und für unser Zusammenleben. Es geht um diesen Gott und seine Güte, die alle erreichen möchte, zuerst die Kleinen und Armen.

    Und wer sich ernsthaft mit diesen biblischen Zeugnissen einlässt, kann die Erfahrung machen, dass sie sichunversehensin eine Anrede an ihn selbst verwandeln, in eine Anrede an mich.

    Nimm und lies! Schweige und höre! „Schweige und höre, öffne deines Herzens Ohr, suche den Frieden“ (GL 433,2).

    3. Ein kurzer Schluss: Gibt es ein Kriterium zur Beurteilung biblischer Texte, einen Maßstab, an dem sie alle zu messen sind?

    Ich sprach von der Lerngeschichte mit Gott, dass schon in vielen Texten des AT, erst recht dann und definitiv bei Jesus, die allen geltende Güte, Barmherzigkeit, Liebe zum Inbegriff Gottes wird. Das ist der Maßstab, an dem die biblischen Texte allesamt zu messen sind: die unbedingt für jeden entschiedene Güte oder Liebe Gottes. Das ist der Orientierungspunkt. Das Entscheidende, das Wichtige an der Bibel.

    Und auf das stößt man immer wieder, egal, ob man die Jesusworte liest, die Mt in der Bergpredigt zusammengestellt hat, oder ob man das MkEv liest oder den Philipperbrief des Paulus oder den ersten Johannesbrief, alles ziemlich gut lesbare Texte. Oder auch Jesaja und viele Psalmen, mit denen Jesus gelebt hat und mit denen wir auch heute leben können. Es gibt in der Bibel ganz viele Sätze, die man wörtlich nehmen darf, weil sie den Geist Jesu atmen.

    Die Bibel (v.a. des NT) ist wichtig, insofern sie uns diesen Gott bezeugt und diesen Jesus, seine Proexistenz, seinen Einsatz für andere. Die Bibel ist also wichtig, soweit sie den Geist Jesu spiegelt, oder, wie Luther sagte, soweit sie „Christum treibet“. Das ist der Maßstab, an dem alles zu messen ist. Jesus, das menschliche Antlitz Gottes, zeigt uns, wie Gott zu uns ist und was sein guter Wille ist.

    Christsein ist Orientierung an Jesus: was würde er jetzt sagen, was würde er tun?

    Eine russlanddeutsche Frau, die hier zur freien christlichen Gemeinde gehört und die weiß, dass ich Theologe bin, hat mich gefragt: Glauben Sie an die Wiederkunft Christi?

    Ich habe ihr geantwortet: Ja, ich glaube an die Wiederkunft Christi, aber nicht erst am Weltende „auf den Wolken des Himmels“, sondern an meinem Lebensende und an Ihrem Lebensende, dass er uns entgegenkommt, uns in Empfang nimmt, uns umarmt, unsere Tränen abwischt.

    Hinterher ist mir gekommen, dass ich etwas Wichtiges vergessen hatte zu sagen: Ich glaube an die Wiederkunft Christi schon hier und heute, dass er auf uns wartet in seinen geringsten Brüdern und Schwestern (Mt 25,40+45), und: dass er, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, mitten unter ihnen da ist (Mt 18,20).

    „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an, wer meine Stimme hört und die Tür auftut, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, miteinander“ (JohApk 3,20).                             

    Danke, dass Sie mir zugehört haben.


    Autor: Prof. Dr. Hans KESSLER war von 1972 bis 2005 Professor für Systematische Theologie (Dogmatik und Fundamentaltheologie) am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dort war er u. a. Vorsitzender von „Theologie interkulturell“ sowie Leiter der interdisziplinären Forschergruppe „Naturwissenschaft und Theologie“. Arbeitsschwerpunkte: Schöpfungstheologie und Schöpfungsspiritualität, Christologie, Erlösungs- und Heilskonzepte der Religionen sowie Dialog mit anderen Religionen und mit dem heutigen Atheismus.

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