Alte Sprachen neu entdecken

Beitrag von MMag. Dr. Alexander Kraljic

Ausgestorbene Sprachen lernen? – Meist erntet man verständnisloses Kopfschütteln, wenn man erwähnt, dass man sich mit Hebräisch oder Aramäisch beschäftigt. „Hast du nichts Besseres zu tun?“, lautet dann fast vorwurfsvoll die Frage. „Latein und Griechisch, das ist ja noch einzusehen, da es zu unserem kulturellen Erbe gehört, aber orientalische Sprachen …? Wozu soll das denn gut sein?“

Zugegeben, alltäglich ist es nicht, doch völlig befremdend auch wieder nicht. Unsere europäische Kultur wurzelt eben nicht nur in der griechisch-römischen Antike, sondern besitzt auch enge Verbindungen zum Orient: Judentum und Christentum, die Europa geistig geformt haben, stammen beide aus dem Nahen Osten, ebenso wie der Islam, dessen kulturelle Einflüsse in Teilen des Kontinents schon seit Jahrhunderten prägend sind. Den mittelalterlichen Scholastikern wie auch den Humanisten der Neuzeit war dies bewusst, wenn sie sich mit deren Schriften auseinandersetzten und dadurch auch ihr eigenes Weltbild erweiterten.

Es beginnt im Orient

Was war eigentlich die Sprache Abrahams? Die meisten würden sagen: Hebräisch, vielleicht auch Babylonisch, da seine Familie laut Genesis 11 aus Ur in Chaldäa, dem heutigen Südirak, stammte. Umso mehr erstaunt die Antwort, die ein ostsyrischer Bibelkommentar aus dem 10. Jhdt. gibt: Er hat natürlich Chaldäisch, d. h. Syrisch-Aramäisch, gesprochen, denn dies, so der unbekannte Autor, war die Ursprache der Menschheit, die erst nach dem Turmbau von Babel zu verschiedenen Regionalsprachen „verwilderte“. Diese These ist sprachwissenschaftlich sicher nicht haltbar, dennoch verdeutlicht die Anekdote, weshalb es sich lohnt, alte Sprachen zu studieren: man würde Texte wie diesen sonst nämlich gar nicht kennen!

Die Bibel – ein Buch in vielen Sprachen

Wenn man eine heutige Bibelausgabe zur Hand nimmt, übersieht man leicht, dass es sich dabei um eine ganze Bibliothek handelt, deren Schriften über einen Zeitraum von fast tausend Jahren entstanden sind. Während das Neue Testament von Anfang an auf Griechisch konzipiert wurde, weist das Alte Testament gleich mehrere „Originalsprachen“ auf: Neben Hebräisch und Aramäisch (in dem Teile der Bücher Esra und Daniel verfasst wurden) sind einige Schriften ausschließlich auf Griechisch überliefert (z. B. Tobit, Judit, Sirach u. a.). Der Text wurde bereits früh in andere Sprachen wie Latein, Syrisch oder Koptisch übersetzt, was die Entstehung einer blühenden christlichen Literatur im gesamten Mittelmeerraum gefördert hat. Gerade die Schriften orientalischer AutorInnen können unsere westliche Sicht erweitern, indem sie die Vielfalt theologischen Denkens und Betens in der Frühzeit der Kirche vor Augen führen.

Religionen im Dialog

Weder die Bibel noch die sich darauf berufenden Glaubensgemeinschaften sind im luftleeren Raum entstanden, sondern partizipierten stets an den religiösen und kulturellen Vorstellungen ihrer Umwelt. Das Alte Testament lässt sich ohne den ägyptischen oder mesopotamischen Kontext ebenso wenig verstehen wie das Neue ohne jüdisch-hellenistischen Hintergrund. Auch der Koran und die frühe islamische Theologie sind stärker in biblischen und jüdisch-christlichen Anschauungsformen verwurzelt als oft angenommen. Dies erschließt sich freilich nur, wenn man die Quellen in den Originalsprachen studiert, da Übersetzungen – sofern sie überhaupt existieren – die Feinheiten des Urtexts oft unzulänglich wiedergeben.

Die Wiener Theologischen Kurse haben seit Langem auf diese Anforderung reagiert. Neben Latein und Griechisch werden regelmäßig Hebräischkurse angeboten. Darüber hinaus fanden sich in den letzten Jahren Arabisch, Aramäisch, Syrisch und sogar Jiddisch im Programm. Weitere Lehrgänge sind in Vorbereitung. Fragen Sie nach, es lohnt sich!

Alexander Kraljic


Erstveröffentlichung: magazin KLASSIK, No. 13/Somme 2019, S. 36-38.

Veranstaltungshinweis: Am 13. Februar 2020, 18.30-20.30 Uhr spricht Dr. Kraljic bei der AKADEMIE am DOM zum Thema: „Die Geschichte der Schrift. Von Keilschrift und Hieroglyphen zum modernen Alphabet“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert