Vom Segen Gottes und der Kirche. Anmerkungen zur Erklärung „Fiducia Supplicans“

Dürfen Paare, die in einer nicht von der Kirche anerkannten Beziehung leben, einen Segen erhalten? Ein zartes Signal aus Rom, das ein klares „Ja, aber“ bedeutet, könnte nicht unterschiedlicher in den Kirchen Europas, Amerikas und anderer Kontinente interpretiert werden. Was kann man dazu sagen, ohne das zarte Pflänzchen der Hoffnung auszureißen? Aber auch ohne zu beschönigen, was theologisch höchst unbefriedigend geblieben ist?

„Vieles, vielleicht alles, was Sie dazu sagen, ist falsch“ – so ließe sich die knapp vor Weihnachten veröffentlichte Erklärung des Glaubensdikasteriums Fiducia supplicans[1] zur Segnung „irregulärer“ Paare, darunter gleichgeschlechtlicher, zusammenfassen. Freudig erleichterte, zunehmend nüchtern-kritische Kommentare und beinahe verzweifelt anmutende weitere Erklärungen zur Erklärung Fiducia supplicans überschlugen sich beinahe täglich, und jedes Für und Wider findet sein Gegenwort. Nach Amoris laetitia (2016) und trotz des 2021 weiterhin kategorischen „Nein“ der Glaubensbehörde zur Segnung gleichgeschlechtlich Liebender sollte offenkundig hierzu das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.

Präfekt Victor Kardinal Fernandez war in den darauffolgenden Tagen ein gefragter Interviewpartner zur Interpretation des von ihm verfassten und von Franziskus ratifizierten Dokuments – und plant in einigem zeitlichen Abstand als Nachdenkpause „eine Reise der Bekehrung und Vertiefung mit den deutschen Bischöfen“, um in persönlichen Gesprächen „alle notwendigen Klarstellungen vorzunehmen“[2]. Bis dahin möge man sich für den Text Zeit nehmen und ihn unideologisch lesen. Die Feststellung, dass keine weiteren Antworten erwartet werden sollten und schon gar „kein Manuale, vademecum oder eine Anleitung für eine so simple Sache“[3], war nicht haltbar. Vielmehr folgten weitere Präzisierungen, zuletzt am 4. Jänner 2024[4]: Was auf 26 (!) Seiten entfaltet wurde und permanenten Erklärungsbedarf mit sich bringt, dürfte so „simpel“ nicht sein. Und selbst „das eigentlich Neue“[5] einer auf „klassischer Theologie“[6] basierenden differenzierten Segenstheologie kann wenig überzeugen. Einige Wochen „danach“ ist zu befürchten, dass der (gutgemeinte) Vorstoß aus Rom in die Sackgasse führt.

Darf das Urteil der Kirche reifen?

Der umständliche Text, um Absicherung ebenso wie um das vorsichtig zu erkundende Neuland (das dann doch nicht betreten wird) bemüht, versucht – wie etwa auch beim Zweiten Vatikanischen Konzil bewährt – (möglichst) alle ins Boot zu holen und keine Tür zuzuschlagen.

Im Vorfeld hätte die differenzierte (ausnahmsweise persönliche und sofortige) Antwort des Papstes auf die an ihn gerichteten Dubia[7] vom 10. Juli 2023 den anfragenden Kardinälen Offenheit, Reflexion und geistige Beweglichkeit abverlangt: Franziskus erläuterte die bezweifelte Reinterpretation der göttlichen Offenbarung „gemäß den kulturellen Veränderungen unserer Zeit und gemäß der neuen anthropologischen Sichtweise, die diese Veränderungen fördern“[8], u. a. damit, dass der Reichtum der Offenbarung durch das Lehramt nicht ausgeschöpft werden könne und daher stetig weiterwachsen und reifen müsse: „Dass dies zu einem besseren Ausdruck einiger früherer Aussagen des Lehramtes führen kann“, sei deshalb „unvermeidlich“ und „im Laufe der Geschichte auch geschehen.“[9]; zudem sei Heilsnotwendiges von  dem zu unterscheiden, „was hingegen sekundär oder weniger direkt mit diesem Ziel verbunden ist.“[10] Darauf folgte eine zweite verschärfte Anfrage am 21. August 2023. Sie wollte die übliche Form eines klaren „Ja“ oder „Nein“ (ohne theologische Argumentation) erzwingen – und wurde vom Vatikan mit Fiducia supplicans beantwortet.

Richtig erkannt haben freilich die besorgten Hüter der rechten Lehre, dass es in Wahrheit nicht um eine angeblich neue Segenstheologie geht, sondern dass das kirchliche Menschenbild auf dem Prüfstand steht. Damit steht und fällt leider auch der Wert des pastoralen Vorstoßes aus dem Vatikan.

Stellt man sich dieser Herausforderung nicht, beginnt ein Schlingerkurs „um den heißen Brei“: Wie kann man Paare segnen, ohne ihren „irregulären“ Beziehungsstatus „offiziell zu konvalidieren und die beständige Lehre der Kirche über die Ehe in irgendeiner Weise zu verändern“, denn „nur in diesem Zusammenhang finden die sexuellen Beziehungen ihren natürlichen, angemessenen und vollständig menschlichen Sinn“ (FS 4)? Dass man daher „einen spezifischen und innovativen Beitrag zur pastoralen Bedeutung von Segnungen“ vorgelegt habe, müsse als „eine wirkliche Weiterentwicklung über das hinaus, was vom Lehramt und in den offiziellen Texten der Kirche über die Segnungen gesagt wurde“, gelten. Doch das eigentliche Problem bleibt programmatisch unangetastet: eine katholische Anthropologie, die Diversität anerkennt, und eine daraus folgende Sexualmoral, die noch weit von ihrer Reformulierung als „Christliche Beziehungsethik“[11] entfernt ist.

Eine neue Segenssophistik?

Das Schreiben unterscheidet indes mehrere Arten von Segen: „Gottes großer Segen ist Jesus Christus“ (FS 1); eine liturgische Segnung erfordere, „dass das, was gesegnet wird, dem Willen Gottes entspricht, wie dies in der Kirche zum Ausdruck kommt“ (FS 9), und „den in die Schöpfung eingeschriebenen und von Christus, dem Herrn, vollständig geoffenbarten Plänen Gottes entsprechen muss“ (FS 11) – wie es für die Ehe gelte; ein „einfacher Segen“ solle hingegen nicht „allzu vielen Voraussetzungen moralischer Art unterworfen“ sein. (FS 11)

Warum aber sollte einer an Diversität überreichen Schöpfung (für die der Schöpfer gepriesen wird) nicht „eingeschrieben“ sein, dass auch der nicht-binäre Mensch nach seinem „natürlichen, angemessenen und humanen“ (vgl. FS 4) sexuellen Ausdruck und Vollzug strebt und streben darf? Ist der Mensch – jeder trägt „weibliche“ und „männliche“ Anteile in sich – Bild Gottes, so doch in der je eigenen genetischen, hormonellen und phänotypischen Ausprägung, welche auch die sexuelle Orientierung mitbestimmt. Was heute aus den Natur- und Humanwissenschaften bekannt ist, steht nicht im Widerspruch zu den bildhaften biblischen Schöpfungserzählungen: Sie malen Kontraste, zwischen denen sich das Schöpfungswerk (der Mensch nicht ausgenommen) in allen Schattierungen ausdehnt:

„Tag“ und „Nacht“ schließen die Dämmerung ebenso ein wie das Morgenrot und die blaue Stunde; „Festland“ und „Meer“ die Küsten und das ewige Eis, die „Gestirne“ Lichtjahre, Weiße Zwerge und Schwarze Löcher, „Fische“ und „Vögel“ Pinguine, fliegende Fische und den tauchenden Kormoran, „Land- und Kriechtiere“ ebenso Amphibien und flugunfähige Vögel …[12]

„… Und Gott schuf die Menschen zu seinem Bilde, Gott schuf sie als männlich und weiblich. Und manche waren eindeutig männlich oder eindeutig weiblich und fühlten sich hingezogen zum anderen Geschlecht. Aber Gott schuf auch Menschen, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlten oder zu beiden Geschlechtern. Gott schuf männliche und weibliche Menschen, aber auch solche, die trans oder inter waren. Und Gott fragte nicht, ob sie zu den weiblichen oder zu den männlichen gehören, denn sie alle glichen etwa der göttlichen Gestalt. Stattdessen sprach Gott: Seid fruchtbar und vermehrt euch, seid zärtlich zueinander und kümmert euch um alles, was ich euch anvertraut habe. Und dann sah Gott, dass es sehr gut war. Und Gott segnete sie. Alle.“[13]

Eine exegetische Relecture, die den biblisch tradierten Schöpfungsglauben ins Heute zu vermitteln wagt. Die kirchliche Lehre von „Mann und Frau“ in ihrer Ausschließlichkeit hingegen bleibt eher um patriarchale Denkmuster und Rollenzuschreibungen besorgt als um die Lebensrealität vieler beziehungsfähiger und gläubiger Menschen.

So klassifiziert Fiducia supplicans Segen derart, dass gerade nicht „gutgeheißen“ wird, was zwar gut geschaffen ist, ausgelebt aber traditioneller kirchlicher Lehre zufolge (Verharren in der) „Sünde“ sein soll. Zwar darf der Mensch zunächst alles gutheißen (lat. benedicere), was er von Gott her (absteigend) als Segen empfängt (auch sich selbst und wohl auch seine Liebsten): Als derart Beschenkter – Gesegneter, Gutgeheißener – antwortet er und darf (aufsteigend) Gott mit Lob und Dank „segnen“: „Niemand kann an dieser Danksagung gehindert werden“ (FS 28).

Ein Kontrollverzicht, der keiner ist

Von anderer Art sei indes jener (absteigende) Segen Gottes, der „als Geste der Gnade, des Schutzes und der Güte“ der „Segensvollmacht“ der Kirche zur (kontrollierten) Weitergabe anvertraut ist:

„Der Segen, den Gott den Menschen gewährt und der von ihnen an ihre Nächsten weitergegeben wird, verwandelt sich in Integration, Solidarität und Stiftung von Frieden. Er ist eine positive Botschaft des Trostes, der Fürsorge und der Ermutigung. Der Segen drückt die barmherzige Umarmung Gottes und das Muttersein der Kirche aus, die die Gläubigen einlädt, ihren Brüdern und Schwestern gegenüber die gleichen Herzenshaltung wie Gott zu haben.“ (FS 19)

Die Kirche ordnet und kontrolliert also im Kleinen (z. B. klerikal: „Der Herr segne euch“ im Unterschied zu laikal: „Der Herr segne uns“) wie im Großen (die Ehe wird „sakramental“ gesegnet, für andere intime Beziehungen soll es auch künftig keinen liturgischen Segen geben), wer welches Zeichen der Integration und Solidarität setzen und wer es empfangen darf, wer welchen Segen für sich und andere erbitten, wünschen, zusprechen darf. Um einer drohenden Verwirrung der Gläubigen (FS 4, 5, 30, 39) oder gar Verwechslungen (FS 6, 31) vorzubeugen, verlangt (oder verbietet) sie dafür bestimmte rituell-liturgische Formen. Diese aber nur von der Abgrenzung her zu definieren, birgt eine ganz andere Gefahr, worauf der Erfurter Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann aufmerksam macht: „Es geht dann rasch um Abstufungen, die vom Grundgedanken eines Gottesdienstes [her] höchst problematisch sind, denn hier wie dort geht es um Leben und Feiern in der Gegenwart Gottes.“[14] Und selbst (und gerade) dort, wo die Beziehungsqualität auch Gemeinsamkeiten aufweist, würde wohl trotzdem „jedem klar sein, dass es unterschiedliche Situationen, aber auch Feiern sind, wenn nicht Mann und Frau vorne in der Kirche stehen, sondern zwei Frauen oder zwei Männer. So weit sind Menschen mit kirchlicher Lehre schon vertraut.“ [15]

Rom hingegen kann sich gerade einmal durchringen, „auf der Straße“ (FS 28) „spontan“ (FS 21, 23, 24 u. ö.) eine „einfache Geste“ (FS 36) der Zuwendung zuzugestehen, für die keine Kenntnis der genauen moralischen Lebensumstände nötig sei, damit die Kirche nicht „anstatt den Zugang zur Gnade zu erleichtern, die Energien im Kontrollieren verbraucht‘[16].“ (FS 25). Dies banne

„… die Gefahr, dass eine so geliebte und weit verbreitete seelsorgerliche Geste allzu vielen Voraussetzungen moralischer Art unterworfen wird, die unter dem Vorwand von Kontrolle die bedingungslose Kraft der Liebe Gottes in den Schatten stellen könnten, auf der jedoch die Geste des Segens beruht.“ (FS 12)

Beschrieben wird sie gemäß „klassischer Theologie“ als eine weitere Form des absteigenden Segens, nämlich als Bitte um „helfende Gnaden“, damit „alles, was in ihrem Leben und ihren Beziehungen wahr, gut und menschlich gültig ist, durch die Gegenwart des Heiligen Geistes bereichert, geheilt und erhöht wird.“ (FS 31) Darum zu bitten kann nie und nimmer falsch sein. Falsch ist aber die Absicht, ein solches „Gebet der Fürbitte“ (FS 33) um Heilung – gemeint ist hier wohl: zur Bekehrung vom „Ehebruch“ oder ihrer „in sich ungeordneten schlimmen Abirrung“[17], letztlich zum Verzicht auf die ausgelebte geschlechtliche Vereinigung – als „Segen“ anzupreisen.

Ob eine sexuell enthaltsam gelebte „Josefsehe“ oder „Josefsbeziehung“ eines liturgischen Segens tatsächlich würdig wäre? Sie zur Bedingung der Teilnahme am sakramentalen Leben der Kirche zu machen[18], zeigt eine angesichts der Beziehungswirklichkeit liebender und verantwortungsvoll lebender Paare absurde Fixierung auf den Geschlechtstakt: idealisiert und theologisch überfrachtet in der Ehe, entwertet und verwerflich in allen anderen Beziehungskonstellationen.

(Neu) Konstruierte Gegensätze

Das Zweite Vatikanische Konzil hat die seit dem Mittelalter überaus beliebten außerliturgischen Segnungen ausdrücklich wieder gottesdienstlich kontextualisiert und u. a. mit einem obligatorischen Schriftwort verbunden. Das ist auch für die zur „Hauskirche“ aufgewerteten häuslichen Segensfeiern empfohlen. Zudem hält die Liturgiekonstitution fest:

„Die Wirkung der Liturgie der Sakramente und Sakramentalien ist also diese: Wenn die Gläubigen recht bereitet sind, wird ihnen nahezu jedes Ereignis ihres Lebens geheiligt durch die göttliche Gnade, die ausströmt vom Pascha-Mysterium des Leidens, des Todes und der Auferstehung Christi, aus dem alle Sakramente und Sakramentalien ihre Kraft ableiten. Auch bewirken sie, daß es kaum einen rechten Gebrauch der materiellen Dinge gibt, der nicht auf das Ziel ausgerichtet werden kann, den Menschen zu heiligen und Gott zu loben.“[19]

Aus diesem Verständnis heraus haben sich bereits vielerorts Segensgottesdienste für „irregulär“ lebende Paare selbstverständlich in ritueller Form entwickelt, d. h. ausgestattet mit Wortverkündigung, Gebet und Zeichenhandlungen. Die Anordnung, nicht in der Kirche, sondern unterwegs, en passant und möglichst unauffällig zu „segnen“, ist ein Rückschritt nach dem (be)trügerischen Motto „(liturgisch) weniger ist (pastoral) mehr“.

Zudem ist nicht nur das „Qualitätsgefälle“ zwischen (Sprach-)Handlungen ordinierter Amtsträger und anderer Gläubiger fragwürdig geworden: Obwohl die Grenzen zwischen Liturgie und sogenannter Breitenreligiosität längst fließen, werden sie in der Erklärung – verfeinert durch die Kategorien „liturgisch oder halbliturgisch“ (?) und „pastoral“, „rituell“ und „spontan“ – erneut gezogen. Diesmal zum Nachteil der Liturgie durch das eingeschärfte Verbot der Ritualisierung einer „irregulären“ Paar-Segnung,

„… auf dass diese nicht ritualisierten Segnungen nicht aufhören, eine einfache Geste zu sein, die ein wirksames Mittel ist, …und dass sie dennoch nicht zu einem liturgischen oder halbliturgischen Akt werden, der einem Sakrament ähnelt. Eine solche Ritualisierung würde eine schwerwiegende Verarmung darstellen … und die Seelsorger der Freiheit und Spontaneität in ihrer seelsorgerischen Begleitung des Lebens der Menschen berauben.“ (FS 36)

Einfach und wirksam, frei und spontan – so soll Seelsorge, vielleicht sogar mancher Gottesdienst sein! Wer möchte da nicht zustimmen? Unglaubwürdig – und fatal! – aber ist die Rede von der drohenden „Verarmung“, ja „Beraubung“ der seelsorglichen Begleitung „des Lebens der Menschen“ durch liturgische Ritualisierung. Sind es doch genau jene von der Kirche als Schatz gehütete liturgischen Riten, durch die Menschen in allen Höhen und Tiefen vor Gott kommen, um sich und ihr Leben unter seinen Heilswillen zu stellen und gangbare Wege zu finden, ihm zu entsprechen. Wer aber nicht liturgiewürdig ist, für den muss eine Sekunden-Pastoral genügen?

Pastoral und Liturgie gegeneinander auszuspielen, verrät ein fragwürdiges Verständnis beider: Glaube und Frömmigkeit verarmen nicht durch liturgische Riten, sondern vielmehr umgekehrt, wenn diese vorenthalten werden. Die Kirche verliert so nicht nur Glaubwürdigkeit, sondern eine Kernkompetenz. Wer auf der Straße Segen „spendet“ statt in der Kirche Segen zu feiern, ist nicht „an die Ränder“ gegangen, sondern will die nur unwillig wahrgenommene Lebenswirklichkeit vieler Menschen möglichst unsichtbar machen. Vorgeschoben wird die Angst vor „Skandal“, vor Verwechslung und Verwirrung, statt der Unterscheidungsgabe und Fassungskraft der Gläubigen mehr zuzutrauen. Der moralische Kontrollverzicht zur Verschleierung mangelnden Respekts und versagter Anerkennung schmeckt schal. Eine als Segen getarnte Fürbitte um Befreiung (aus einer in kirchlicher Sicht lebensunwerten Beziehung) wird kaum ein Paar mit Freude und Zuversicht erfüllen, ebenso wenig „eine väterliche Geste inmitten seines Mühens um das Überleben“, die gerade das nicht annehmen will, was der Annahme bedarf.[20]

Eine enttäuschte Hoffnung mehr …

Rom hat ein Entgegenkommen (und Ankommen in der Gegenwart) versucht – und eine blinde Tür geöffnet: Anstelle der Teilhabe an einer liturgischen Segensfeier (die diesen Namen auch verdient) soll Betroffenen eine klerikale Geste „von wenigen Sekunden“ und angeblich „großem Wert für die Volksfrömmigkeit“ schmackhaft gemacht werden; als „das eigentlich Neue“ gepriesen, entpuppt sich die pastorale Ergänzung der Segenstheologie als theologisch altbacken und obendrein als Etikettenschwindel, denn trotz der „irregulären“ Paaren  zugestandenen (Für-)Bitte um diverse Güter (und um „Reinigung“) bleiben sie in kirchlicher Sicht „große Sünder“. Ist denn der Schritt zu einem beziehungsethisch begründeten Menschenbild, das die der Schöpfung eingeschriebene Diversität anzuerkennen und – liebevoll integriert und verantwortet gelebt – als bereichernd versteht, im 21. Jahrhundert wirklich so schwer zu gehen?

Die anglikanische Kirche hat diesen Schritt gesetzt und getan, was Rom ängstlich zu vermeiden (und verbieten) sucht: „Der Prozess des ,Living in Love and Faith‘ und die darauf folgenden ,Prayers of Love and Faith‘ haben eine christliche Anthropologie formuliert, die LGBTQI+-Personen und ihre Beziehungen positiv bewertet.“[21]

„In der Aussage ,In Gottes Gegenwart das Versprechen zu feiern, das zwei Menschen einander gegeben haben, ist ein Anlass zur Freude‘ liegt eine eindeutig positive christlich-anthropologische Wertung, da man in Gottes Gegenwart nicht legitimerweise das feiern kann, was ,ungeordnet‘, ,irregulär‘ oder sündhaft ist.“[22]

Diese Anerkennung schenken der Papst und sein Präfekt in Fiducia supplicans nicht. Ihr „Geschenk an das gläubige Volk“[23] ist die verkrampfte Erlaubnis „ein bisschen“ zu segnen. Leider aber können „defekte“ Geschenke aus dem Vatikan weder umgetauscht noch zurückgegeben werden.

Leider können „defekte“ Geschenke aus dem Vati­kan weder umgetauscht noch zurückgegeben werden. Vielleicht aber per viam facti „repariert“? Es wäre nicht das erste Mal in der Liturgiegeschichte, dass sich eine überzeugte und überzeugende Praxis „von unten“ Bahn bricht.

Erste Gehversuche in der Ungleichzeitigkeit?

Vorerst zeigt sich ein schwacher Silberstreif am Horizont: Ein Geschenk ist die Erklärung für die Segnenden insofern, als sie fort­an nicht mehr als Häretiker diffamiert werden, sondern ihrer pastoralen Über­zeugung zumindest bis vor die Kirchentüren folgen dürfen (die vielerorts ohnehin schon weit offenstehen).

Das größte Potential der Aufregung rund um Fiducia supplicans liegt jedoch im Zugeständnis der Ungleichzeitigkeit ihrer Rezeption: Den klar ablehnenden Reaktionen einiger Bischofskonferenzen bringt der Präfekt Fernandez aufgrund einer (vorläufigen?) gesellschaftlich-kulturellen Unverträglichkeit Verständnis entgegen:

„Ich kann die Besorgnis der Bischöfe in einigen afrikanischen oder asiatischen Ländern gut verstehen, in denen man als Homosexueller ins Gefängnis kommen kann. Das ist ein Verstoß gegen die Menschenwürde, der die Bischöfe sicherlich beunruhigt und sie in ihrer Vaterschaft herausfordert. Wahrscheinlich wollen die Bischöfe homosexuelle Menschen nicht der Gewalt aussetzen. Sie verweisen selbst auf die „Gesetzgebung“ ihrer Länder.“[24]

Vielleicht fällt Fernandez’ Erläuterung zu wohlwollend aus, denn jene „Gesetzgebung“ wird (nicht nur) in Ländern des globalen Südens von Bischöfen und Gläubigen selbst teils gebilligt, teils mitgetragen und nur selten erheben kirchliche Vertreter ihre Stimme dagegen.

Und doch: Kaum jemals gab es bisher ein derart klares (längst überfälliges) Signal der Bereitschaft aus dem Vatikan, gewisse kulturelle und gesellschaftliche Ungleichzeitigkeiten in der einen weltweiten katholischen Kirche zu akzeptieren. Die nächsten Monate, hoffentlich nicht erst Jahre, werden zeigen, ob dieses Entgegenkommen nur denen gilt, die Menschsein in seiner Diversität (aus europäischer Sicht gesprochen) „noch nicht“ anerkennen können oder wollen, oder auch jenen, die gerne „schon so weit“ wären.

DDr. Ingrid Fischer (THEOLOGISCHE KURSE)


Erstveröffentlicht: Heiliger Dienst online. Zeitschrift für Liturgie und Bibel 78 (2024) 3–11: [Link]


Fußnoten:

[1] Erklärung Fiducia supplicans über die pastorale Sinngebung von Segnungen (18. Dezember 2023) (vatican.va) (2.1.24)

[2] Cardinal Fernández: Same-sex blessing ‘does not validate or justify anything’ (pillarcatholic.com) (2.1.2024)

[3] Ebd.

[4] https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_ddf_doc_20240104_comunicato-fiducia-supplicans_ge.html (14.1.2024)

[5] Ebd. 4.

[6] Wie Anm. 2

[7] Eingebracht von den Kardinälen Walter Brandmüller, Raymond Burke, Joseph Zen, Juan Sandoval Íñiguez und Robert Sarah.

[8] 1. Dubium bezüglich der Behauptung, dass die göttliche Offenbarung angesichts der aktuellen kulturellen und anthropologischen Veränderungen neu interpretiert werden müsse; veröffentlicht auf: https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_risposta-dubia-2023_ge.html

[9] Aus der Antwort des Papstes e); wie Anm. 8.

[10] Ebd. g); wie Anm. 8.

[11] Wiewohl eine solche Rundumerneuerung bestens begründet und argumentiert seit Oktober 2023 vorliegt: Martin Lintner, Christliche Beziehungsethik. Historische Entwicklungen – Biblische Grundlagen – Gegenwärtige Perspektiven, Freiburg i.Br. u. a.: Herder 2023.

[12] Vgl. Anm.13.

[13] Juliane Link auf: https://www.feinschwarz.net/maennlich-und-weiblich-und-alles-dazwischen/ (3.1.2024)

[14] https://www.katholisch.de/artikel/44374-kranemann-segensfeiern-nicht-vorrangig-von-abgrenzung-her-gestalten

[15] Ebd.

[16] Franziskus, Ap. Exhort. Evangelii gaudium (24. November 2013), n. 94, AAS 105 (2013), 1060.

[17] Vgl. KKK 2357.

[18] Vgl. Familiaris consortio (22. 11. 1981) 84.

[19] Sacrosanctum Concilium 61.

[20] Presseerklärung (6); wie Anm. 4.

[21] Vgl. https://praytellblog.com/index.php/2024/01/05/more-on-the-trans-tiber-conundrum-of-blessing-the-irregulars/ (7.1.2024)

[22] Wie Anm. 21.

[23] Aus der Präsentation der Erklärung; wie Anm. 1.

[24] Wie Anm. 2.

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