Auszug aus: Peter Zeillinger, Das Unvereinbare im Zentrum des Politischen. Zum politischen Potenzial von Agambens Homo-Sacer-Projekt, in: Martin Kirschner (Hg.), Subversiver Messianismus (Baden-Baden: Nomos, 2020) [im Druck].
Es ist an der Zeit einen Schritt zurückzutreten und die Situation zu überdenken: Die aktuelle globale Ausnahmesituation unterscheidet sich vom klassischen Verständnis eines politischen oder juridischen »Ausnahmezustands«. Sie entlarvt nicht nur das Konzept der souveränen Entscheidung über den Ausnahmezustand als Illusion, sondern betrifft auch das Verständnis souveräner Macht als solcher. Die Versuche »souveräner Gesten« wie Sie Donald Trump, Boris Johnson oder Jair Bolsonaro an den Tag gelegt haben, erwiesen sich alsbald als lächerlich. Auch Aussagen des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz lassen sich in diesem Kontext strukturell hinterfragen. Das nunmehr abgeschlossene Homo-Sacer-Projekt des italienischen Philosophen Giorgio Agambens lässt dagegen Kriterien für das kritische Potenzial einer »kommenden Politik« sichtbar werden, die ohne Rückgriff auf eine souveräne Instanz wirksam wird. Diese »Politik im-Kommen (ital. que viene, fr. à-venir)« verweist dabei nicht auf eine chronologisch künftige Zeit, sondern entfaltet sich bereits im »Hier-und-Jetzt«. Agamben vergleicht dieses »Kommende-schon-jetzt« mit der messianischen Struktur der biblischen Tradition.
(Der Text erscheint als Anhang zu einer Einführung in die Begriffe und die Methodik des Denkens von Giorgio Agamben, sowie ein affirmatives Verständnis seiner Hinweise zu einer »kommenden Politik« im Kontext seines Homo-Sacer-Projekts.)
Die herrschende Coronakrise – wir schreiben Anfang Mai 2020 – hat gezeigt, dass es so etwas gibt wie eine »globale Ausnahmesituation«, die sich sowohl von regionalen Naturkatastrophen unterscheidet, wie auch von anderen begrenzten, zumeist durch ökonomische Krisen oder ein destabilisierendes politisches Verhalten (Krieg, Revolution, Terror, etc.) verursachten Ausnahmezuständen. Die zur Zeit herrschende globale Ausnahmesituation ist zwar nicht schlagartig eingetreten, sondern hat sich „verbreitet“, ist aber aufgrund ihrer Eigenart nicht aufhaltbar oder regional beschränkbar, sondern nur durch eine in jeder einzelnen Region der Welt durchzuführende Anstrengung „eindämmbar“. Die dazu global eingeführten Maßnahmen ähneln in ihrer Struktur der Ausrufung oder Herstellung eines politisch-juridischen Ausnahmezustands, also jenem Paradigma der einschließenden Ausschließung, das von Agamben analysiert wird. Diese Maßnahmen stellen damit auf den ersten Blick einen politischen Akt dar. Eine genauere Betrachtung ihrer Struktur kann dagegen hilfreich sein, die gegenüber dem klassischen politischen Ausnahmezustand anders gelagerte Eigenart einer globalen Ausnahmesituation zu erfassen.
Ein »Ausnahmezustand« wird in traditioneller Sicht durch eine souveräne Instanz bzw. in demokratischen Systemen durch den regierenden Repräsentanten des Souveräns – dem Volk – ausgerufen, mit dem Ziel durch eine – zumeist temporäre – Aussetzung der gewohnten juridischen und politischen Ordnung eben diese Ordnung und das darauf aufbauende Zusammenleben auf einem bestimmten Territorium oder in einer definierten Gemeinschaft zu sichern bzw. wiederherzustellen.[1] Der paradoxe Charakter dieser Strategie ist offensichtlich, aber deshalb nicht automatisch unplausibel, sondern aufmerksam zu reflektieren.
In der aktuellen Coronakrise bestehen diese Maßnahmen weltweit in der Etablierung von Begrenzungen und Abgrenzungen (Quarantänemaßnahmen, »social distancing«) sowie der Aktivierung bestehender Grenzen (Ein- und Ausreiseverbote), die das Einschleppen und/oder Verbreiten eines das Leben des Einzelnen bedrohenden »Fremdkörpers«, im konkreten Fall ein Virus, verhindern oder zumindest erschweren und verlangsamen sollen. Es entsteht die Struktur einer affirmativen, als positive Beziehung intendierten Ausschließung. Ziel der politischen Maßnahmen ist dabei das Leben und Überleben, das Leben aller und zwar einzeln, »omnes et singulatim«. Michel Foucault hatte diese Formulierung zur Beschreibung der Struktur einer vom 16.–18. Jahrhundert an beobachtbaren politischen Aufmerksamkeit auf das zunächst nicht politisch bestimmte individuelle Leben herangezogen.[2] In der Terminologie von Michel Foucault und Giorgio Agamben handelt es sich bei den Coronamaßnahmen demnach um Bio-Politik.
Auffällig ist – und dies unterscheidet die aktuelle Situation von anderen Formen einer Biopolitik –, dass der Souverän bzw. der regierende Repräsentant des Souveräns die Situation de facto wie auch de jure weder zu beherrschen noch zu regieren vermag, sondern nur re-agierend eingreifen kann. (Auch ein vorausschauendes Eingreifen ist in diesem Sinn re-aktiv, da es die auslösenden Bedingungen der Krise auch künftig nicht zu verändern vermag und zugleich auf diese Bezug nehmen muss.) Es scheint demnach gerade das »souveräne« Element in der herrschenden Ausnahmesituation depotenziert zu werden und von Anfang an depotenziert zu sein. Dies wird besonders auffällig in jenen Situationen, in denen gegenwärtig eine politische Instanz die eigene »souveräne Position« zu unterstreichen und die Situation mit einer souveränen Geste zu beherrschen versucht. Diese Instanz macht sich damit unweigerlich lächerlich bzw. entlarvt seine ideologische oder quasi-ideologische Intention. Der amerikanische Präsident Donald Trump, der Premierminister des Vereinigten Königsreichs, Boris Johnson, oder der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro haben die Covid-19-Situation quasi-souverän »alternativ« einzuschätzen versucht und mussten ihre Meinung revidieren oder konnten zumindest ihre Interpretation nicht lange aufrechterhalten. Ihre Rückzieher geschahen nicht aufgrund eines politischen Widerstands (der natürlich gegeben war), sondern wurden strukturell bereits durch die Wahrnehmung der realen Situation notwendig. Ihre »politische« Entscheidung, so vehement sie auch vorgetragen werden mochte, vermochte die gegebene Situation im intendierten Sinn weder zu lenken noch zu beherrschen. Der souveräne Gestus scheiterte an sich selbst bzw. an der gegebenen Situation. Diese erwies sich offensichtlich als machtvoller.
Was bedeuten diese, nur scheinbar als »Randerscheinungen« zu qualifizierende Unfälle souveräner Gesten und Ansprüche für das Verständnis von Souveränität und souveräner Macht allgemein? Im klassischen Verständnis von Souveränität ist die Macht des Souveräns auf ein begrenztes Gebiet bezogen und gilt darin als »letzte Instanz«.[3] In demokratischen Systemen ist diese Macht zwar kritisch abgesichert durch Kontrollinstanzen – aber auch da bleibt die politische und juridische Vorstellung einer »letzten Instanz« stets aufrecht. Gegenwärtige Politik erweist sich damit strukturell als eine Politik der Souveränität. In diesem Sinn liegt auch die Ausrufung eines Ausnahmezustands in der Hand des Souveräns oder seines regierenden Repräsentanten. In der herrschenden globalen Ausnahmesituation der Coronakrise ist dieser Entscheidungsanspruch jedoch nicht mehr wirklich gegeben. Er beschränkt sich vielmehr auf den zu wählenden Zeitpunkt der Einführung von Maßnahmen. Die Maßnahmen selbst besitzen dagegen strukturell den Charakter einer Notwendigkeit, die nicht durch die politische Entscheidung beeinflussbar ist. Lediglich geringe Wahlmöglichkeiten bleiben dem politischen Handeln offen. Auch die »Letztinstanzlichkeit« eventueller politisch-juridischer Kontroll- und Berufungsinstanzen ist nicht mehr so recht überzeugend, da auch sie jene globale Ausnahmesituation durch keine Entscheidungen beeinflussen können und somit in ihrer Entscheidungsmacht ebenfalls begrenzt oder auf formale Funktionen beschränkt sind.
Muss man daher nicht feststellen, dass eine globale Ausnahmesituation, die nicht auf eine Entscheidung eines Souveräns oder seines regierenden Repräsentanten zurückgeführt werden kann, das Verständnis von Souveränität als solcher de facto im Agamben’schen Sinn grundlegend »destituiert«? Und zwar so grundlegend, dass auch außerhalb der globalen Ausnahmesituation die Rede von »souveräner Macht« oder von »souveränen Instanzen«, die über einen Ausnahmezustand entscheiden können, nur unter Ausblendung eines weit mächtigeren »Ausnahmezustands« aufrecht erhalten werden kann. Damit wären das Verständnis souveräner Macht oder ihrer Repräsentation zwar nicht automatisch verschwunden, aber ihr grundlegender Anspruch erweist sich strukturell desavouiert und ist de facto unentscheidbar geworden. Ist der Souverän überhaupt souverän innerhalb seines Einflussbereichs? Auch die sogenannte souveräne Instanz erweist sich vielmehr (nicht nur im Kontext einer globalen Ausnahmesituation) potenziell als ein nacktes, unqualifiziertes Leben, gewissermaßen reduziert auf ein Re-agieren im status necessitatis, das heißt beschränkt auf die Verwaltung eines Überlebens, das gemäß der von Aristoteles beschriebenen Unterscheidung von bíos und zoé den Bereich des oikos, den häuslichen Bereich beschreibt, der letztlich nicht von »politischen« Entscheidungen gelenkt wird. Auch für eine »souveräne Instanz« existiert also die reale Möglichkeit des Ausgeschlossenseins aus dem Bereich politischen Handelns.
Lässt sich nun aus diesen Wahrnehmungen eine Konsequenz für das Verständnis des Politischen bzw. einer kommenden Politik formulieren? Giorgio Agambens Verständnis der Struktur (!) eines permanenten Ausnahmezustands erweist sich vor dem Hintergrund dieser Wahrnehmungen als durchaus politisch handlungsleitend und vermag die abendländische Interpretation des Politischen und konkreter politischer Akte auf ihre ursprüngliche Struktur hin zu öffnen. Bei der Wahrnehmung eines »permanenten Ausnahmezustands« (den man hier in der stets gegebenen Möglichkeit einer globalen Ausnahmesituation erkennen kann) handelt es sich allerdings nicht um die zeitliche Ausdehnung eines souverän oder biopolitisch-gouvernemental herbeigeführten Ausnahmezustands, der als Konsequenz zwangsläufig konkrete homines sacri identifiziert oder »produziert«. Es geht vielmehr um jenen Ausnahmezustand, der eine Destituierung – und keineswegs eine »Destruktion« – der herrschenden Ordnung markiert. Man könnte dies im Sinne Walter Benjamins als den wirklichen Ausnahmezustand bezeichnen.[4] Die oben herausgearbeiteten Kriterien einer »kommenden Politik«, wie Agamben sie versteht, besitzen auch für globale Ausnahmesituationen wie der herrschenden Coronakrise oder dem globalen Klimawandel (der dieselbe Struktur erkennen lässt) eine handlungsleitende politische Relevanz. Wie wird ein nicht-souveränes, gleichwohl politisches Handeln im Kontext einer unhintergehbaren Ausnahmesituation möglich? Die Struktur des destituierenden »hos me« (»als-ob-nicht«)[5], die Temporalität des Futur II und die Neubestimmung von Subjektivität eröffnen die Möglichkeit eines solchen Handelns und machen Kriterien dafür sichtbar. Diese lassen sich als Imperative verstehen, die trotz der gegebenen Notwendigkeiten das Politische einer nicht-souveränen Handlung bzw. Entscheidung hervorheben: Handle so, als ob es nicht um die herrschende Logik der gegebenen (Ausnahme-)Situation ginge, sondern um die Repräsentation des in ihr Ausgeschlossenen. (Nur ein solcher Akt entkommt der Reduzierung des Lebens auf das Überleben.) Handle so, dass das Ausständige (Kommende) schon hier und jetzt eine Konkretisierung erfährt. (Nur dann handelt es sich nicht um eine Utopie oder ein leeres Versprechen.) Handle so, dass nicht Du Dich als autonomes Subjekt inszenierst, sondern Du das Subjekt einer Intervention im Hier-und-Jetzt bist im Sinn einer Verantwortung für das Kommende / bislang Ausgeschlossene – und Dein Handeln dadurch von diesem her auch stets kritisch überprüfbar bleibt. (Damit werden Subjektivität und Nicht-Souveränität miteinander verknüpft.)
Ein auffälliges Beispiel aus dem österreichischen Regierungsverständnis in der Coronakrise lässt die Bedeutung dieser Imperative konkret werden: Eine nur scheinbar pragmatische und lapidar vorgetragene Aussage des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz am 14. April 2020 zeigt die notwendige Relevanz der Aufmerksamkeit auf die strukturelle Performance politischer Akte und die Blöße souveräner oder quasi-souveräner Entscheidungen und Ansprüche auf. Auf die Verfassungsgemäßheit mancher Maßnahmen, Gesetze und Verordnungen seiner Regierung angesprochen, sowie auf die notwendige kritische Prüfung derselben, antwortete der Bundeskanzler, dass die Entscheidungen aus einer solchen Prüfung durch die Höchstgerichte vermutlich erst zu einem Zeitpunkt gefällt würden, an dem die Maßnahmen selbst nicht mehr in Kraft wären. Demnach würde eine solche Prüfung und ihr Ergebnis für die gegenwärtige Entscheidung und ihre befristeten Folgen de facto keine Relevanz besitzen.[6] Strukturell bedeutet diese Aussage die Negation der Bedeutung künftiger Kritik für die Legitimität des politischen Handelns in der Gegenwart, also die Negation des oben beschriebenen Modus des Futur II und damit die Negation der Verantwortung gegenüber dem, was durch die herrschenden Maßnahmen „ausgeschlossen“ wird und von ihr unberücksichtigt bleibt. Der politische Gestus, der hier performativ sichtbar wird, ist derjenige der klassischen Souveränität und des mit ihr einhergehenden souveränen Banns. Die dahinterliegende Pragmatik ist die der biopolitischen Gouvernementalität sowie eines populistischen Herrschaftsverständnisses: Solange die Akklamation des Volkes gegeben ist (die mangels Wahlmöglichkeit nicht als politische Zustimmung gewertet werden kann) oder solange der äußere »Erfolg« von Maßnahmen erkennbar sei, könne auch ein politischer Akt als begründet oder verantwortet gelten. Das Leben des Volkes bzw. der vielen Einzelnen (omnes et singulatim) wird dabei nicht als bíos (oder to eu zen) ernstgenommen, sondern auf ihre zoé reduziert und ihr Überleben entsprechend »verwaltet«. Strukturell bleibt das Leben der Menschen aus dem Bereich des politischen bíos, dem aristotelischen »guten Leben« (to eu zen) ausgeschlossen.
Nimmt man nun die gegebenen praktischen Herausforderungen ernst, die in der vorliegenden Argumentation des Bundeskanzlers als pragmatische Begründung für die gegenwärtige Ruhigstellung der politischen Instanzen wie des politischen Lebens der zahlreichen Einzelnen herangezogen wird, so fragt sich, wie ein alternatives und der Ausnahmesituation angemessenes politisches Handeln ausgesehen haben könnte. Hier eröffnen die Beobachtungen Agambens zur Struktur einer kommenden Politik einen neuen Horizont: Dieselben – möglicherweise durchaus effizienten – biopolitischen Maßnahmen würden durch die Aufmerksamkeit auf die strukturelle Performance politischen Handelns und ihrer Kriterien eine andere Politik ins Werk setzen. Nicht die biopolitischen Akte müssten in ihrer Effizienz überdacht werden, sondern die in der faktischen Situation daraus resultierende politische Ausschließung muss berücksichtigt werden und den souveränen Gestus des gouvernementalen Aktes destituieren / außer Kraft setzen: Würde die Möglichkeit der Berufung (und ihrer möglichen Berechtigung) ernstgenommen, so müsste sich ein nicht-souveräner politischer Akt von seiner Zukunft her legitimieren, das heißt von dem her, was mit ihm ins Werk gesetzt worden sein wird, – und nicht von der Gegenwart einer Akklamation oder der Pragmatik einer de facto nicht beeinspruchbaren Entscheidung. Ein politischer Akt, der diese performative Struktur der Zukunft-schon-jetzt vermissen ließe, wäre – unabhängig von seiner (gegenwärtig sowieso nicht abschließend zu beurteilenden) Inhalte – strukturell delegitimiert. Ihm wäre, in politischer Hinsicht, nicht zu trauen.
Mit diesem Kriterium würde Handeln keineswegs verunmöglicht und die Entscheidungsbefugnis des gouvernemental Agierenden keineswegs aufgehoben. Doch diejenigen, die aus der herrschenden politischen Ordnung ausgeschlossen werden – also wir, die vielen Einzelnen, die von den Maßnahmen betroffen sind –, blieben weiterhin berücksichtigt und als eine Instanz wahrgenommen, an deren Repräsentation als kritische Instanz unmittelbar überprüfbar wird, ob die getroffenen Entscheidungen strukturell als angemessene politische Akte ernstgenommen werden können – oder nicht. Die inhaltliche Entscheidung über diese Angemessenheit wird freilich auch weiterhin erst später durch eine Kontroll- und Berufungsinstanz gefällt werden können. Aufgrund der notwendigen Preisgabe des (faktisch unmöglichen bzw. zwangsläufig scheiternden und somit lächerlich wirkenden) souveränen Gestus würde das politische Leben derjenigen, die pragmatisch auf ihr Überleben im Bereich des oikos reduziert wurden, nicht mehr als ausgeschlossen gelten und daher sichtbar ernstgenommen wie auch entsprechend berücksichtigt werden müssen. Aus einer quasi-souveränen gouvernementalen Biopolitik ist eine nicht-souveräne Orientierung am Wohl der Gemeinschaft und der Einzelnen (omnes et singulatim) geworden. Michel Foucault hat angesichts eines vergleichbaren Phänomens die grundlegende Struktur einer Kritik beschrieben, die nicht von außen, sondern von innerhalb einer gemeinschaftlichen Ordnung formuliert wird und nicht als revolutionäre, sondern als destituierende Kraft fungiert.[7] Der politische Akt des Entscheidungsträgers ist an der Wahrnehmung der »politischen« Relevanz der zoé jedes Einzelnen zu messen und somit dem politischen Leben des gouvernemental Regierten und zugleich durch die Maßnahmen politisch Ausgeschlossenen gegenüber verantwortlich. Der mögliche (!) Einspruch der Kontrollinstanzen muss daher schon jetzt ernstgenommen werden und den politischen Akt strukturell sichtbar begleiten, damit dieser als angemessener politischer Akt strukturell ernstgenommen werden und zugleich als potenziell legitim gelten kann.
Leben steht immer schon in Bezug zu einem permanenten Ausnahmezustand – und ist nur von diesem her verstehbar. Das meint Agambens Rede von der »einschließenden Ausschließung« als grundlegende politische Struktur. Ihre souveräne Interpretation wird in konkreten Krisen wie Covid-19 oder der globalen Klimasituation als fatales Missverständnis entlarvt. Zugleich wird der (immer schon herrschende) »wirkliche Ausnahmezustand« an der Nacktheit bzw. Blöße (Blödigkeit)[8] der illusionären Berufung auf eine identifizierbare souveräne Instanz sichtbar – angesichts von Situationen, in denen diese faktisch doch nur zu re-agieren vermag. Eine angemessene politische Reaktion angesichts dieses Verständnisses von Ausnahmezustand liegt demgegenüber in der affirmativen Wahrnehmung der einschließenden Ausschließung als ursprüngliche politische Struktur. Nur diese Wahrnehmung und ihre Berücksichtigung kann der politischen Reduzierung von Leben auf ihre zoé sowie der Produktion realer homines sacri aktiv entgegenwirken. Das Ausgeschlossene, Unberücksichtigte wird zum Movens und zum Kriterium einer hier und jetzt zu beginnenden und durch Kriterien begleiteten Neuorientierung politischen Handelns. Eine solche Deaktivierung der pragmatischen Logik des Herrschenden stellt einen offensichtlich politischen Umgang mit dem letztlich Nicht-Einordenbaren, dem Unvereinbaren, dar.
Dr. Peter Zeillinger, Lektor am Inst. f. Politikwissenschaft der Universität Wien
[1] Vgl. dazu aktuell und umfassend mit zahlreichen Bezügen auf Agamben: Anna-Bettina Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht (Jus Publicum 285; Tübingen: Mohr Siebeck, 2020).
[2] Siehe dazu: Michel Foucault, »Omnes et singulatim«. Zu einer Kritik der politischen Vernunft (1979), in: Ders., Schriften. Dits et Ecrits IV (1980-1988) (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005), 165-198.
[3] Siehe dazu Steven DeCaroli, Boundary Stones. Giorgio Agamben and the Field of Sovereignty, in: Matthew Calarco / Steven DeCaroli (eds.), Giorgio Agamben. Sovereignty and Life (Stanford: Stanford UP, 2007), 43-69.
[4] Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (1940), in: Gesammelte Schriften I,2 (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991), 691-704, hier: 697: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der »Ausnahmezustand«, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff von Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen.“ – Die »Herbeiführung«, von der Benjamin spricht, wird man weder im Sinne Benjamins noch Agambens als äußere quasi-revolutionäre Veränderung der herrschenden Situation verstehen können, da diese die Gewaltstruktur nur unter anderen Vorzeichen wiederholt. Man wird vielmehr an das Motiv der Ent-setzung (Destitutierung) denken müssen, die auf eine neue, die herrschende Ordnung deaktivierende Aufmerksamkeit auf das Unabgegoltene bzw. Kommende zielt. Siehe dazu Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1920/21), in: Gesammelte Schriften II.1 (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991), 179-203, hier: 202. – Zum »wirklichen Ausnahmezustand« vgl. auch Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (Aus dem Ital. v. Hubert Thüring; Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002 [ital. 1995]), 65; sowie hinführend: Eva Geulen, Giorgio Agamben zur Einführung (Hamburg: Junius, 32016), 81ff.
[5] Vgl. zu dieser paulinischen Wendung aus 1 Kor 7,29-31 die Analysen in: Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief (Aus dem Ital. v. Davide Giuriato; Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006 [ital. 2000]).
[6] Zu einer verfassungsrechtlichen Kritik der Äußerung von Sebastian Kurz siehe das Statement des Wiener Rechtsphilosophen Alexander Somek: Alexander Somek, Is the Constitution Law for the Court Only? A Reply to Sebastian Kurz, VerfBlog, 2020/4/16, https://verfassungsblog.de/is-the-constitution-law-for-the-court-only/ [Download 9.5.2020].
[7] In seinem berühmten Vortrag »Was ist Kritik?« vom 27. Mai 1978 analysiert Foucault das kritische Potenzial derer, die „nicht dermaßen (nicht auf diese Weise, nicht um diesen Preis) regiert werden wollen“ und definiert mit diesen Formulierungen sein Verständnis von Kritik. Er unterscheidet dies klar von einem prinzipiellen »Nicht-regiert-werden-wollen«. Es handelt sich vielmehr um eine Form politischen Widerstands »von innen« gegen entmündigende, quasi-herrschaftliche bzw. quasi-souverän agierende Regierungsakte. Siehe dazu: Michel Foucault, Was ist Kritik? (Aus dem Franz. v. Walter Seitter; Berlin, 1992 [27. Mai 1978]), bes. 11f. 41. 44. 51f. – Zum Hintergrund dieser Struktur vgl. Peter Zeillinger, Das christliche »Pastorat«. Elemente einer Relecture der politischen Kultur des Abendlandes im Spätwerk Michel Foucaults, in: Geist und Leben 86 (2013) H. 4, 351-373.
[8] Die strukturelle Nähe von Souverän und homo sacer erweist sich hier als umfassender als dies von Agamben in seinem ersten Homo-Sacer-Band angedeutet wird. Nicht nur wird der Souverän / die souveräne Instanz selbst als potenziell nacktes bzw. bloßes Leben erkennbar, sondern die gemeinsame Wurzel der deutschen Adjektive „bloß“ und „blöde“ lässt auch an die Analysen des mittelalterlichen rex inutilis denken, jener »unfähigen, unbrauchbaren« souveränen Königsgestalt, die „herrscht, aber nicht regiert“ (vgl. Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit, 89ff. 94ff. 121ff u.ö.). Die Unbrauchbarkeit der Souveränität zur politischen Regelung einer globalen Ausnahmesituation trifft sich mit dieser mittelalterlichen Differenzierung und radikalisiert sie zugleich zur Destitution / Deaktivierung der herrschenden Logik einer gegebenen Ordnung. Vgl. zur etymologischen und semantischen Verwandtschaft von „bloß“ und „blöde“: Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (Berlin-New York: de Gruyter, 252011), hier: 134. 135; sowie Georg Stanitzek, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert (Tübingen: Niemeyer, 1989), bes. 61f. Der »Blöde« ist derjenige, der mit der gegebenen Ordnung nicht oder nicht mehr zurechtkommt oder aber gar nicht merkt, dass seine Vorstellungen von der Situation nicht angemessen sind (vgl. ebd. 1). Die Blödigkeit ist demnach kein Zustand, sondern ein der Situation unangemessenes Verhalten. Der »souveräne Gestus«, der das strukturelle und damit unhintergehbare Scheitern seines Anspruchs nicht wahrnimmt, ist in diesem Sinn per definitionem »blöde« – und, solange es damit nicht umzugehen lernt, strukturell ein »nacktes / bloßes Leben«, das von der Politik im wirklichen Ausnahmezustand ausgeschlossen und auf die gouvernementale Sicherung des Überlebens reduziert ist.