Wenn wir uns nicht im Raum treffen können, lasst uns in der Zeit einander nahe sein!
Geteilte Zeit, die nicht verloren geht
Fastenpredigt in der Pfarreiengemeinschaft St. Paul/St. Josef für den 28. März 2020
von Prof. Dr. Erwin Dirscherl, Universität Regensburg
Liebe Gemeinde von St. Paul und St. Josef,
in diesen angespannten Zeiten werden unsere normalen Tätigkeiten und gewohnten Abläufe auf einschneidende Weise unterbrochen. Besonders hart ist es, dass wir uns eine räumliche Trennung von anderen Menschen auferlegen müssen, um Leben zu schützen. Wir können uns zurzeit nicht räumlich begegnen, nicht unmittelbar die leibhaftige Nähe des anderen Menschen spüren. Aber es gibt einen anderen Raum, in dem wir uns nach wie vor begegnen können: die Zeit! Wir können in dieser angespannten Zeit einander nahe sein, auch wenn wir uns nicht körperlich begegnen können. Wir können die Sorgen und Nöte der Anderen, auch ihre Liebe und Zuneigung immer noch in uns spüren, auch wenn sie nicht in unserer räumlichen Nähe sind. Wir können mit den Anderen sprechen. Die vielen Medien vom Videostreaming oder Skypen im Internet bis hin zum geschriebenen Brief ermöglichen eine Kommunikation und Nähe in der Zeit, die wir miteinander teilen. Wir alle wohnen in der einen und selben Zeit, in dem einen Leib, der die Welt ist, in der wir alle solidarisch miteinander verbunden sind. Diese Verbundenheit bleibt auch jetzt und wir glauben als Christinnen und Christen zutiefst daran, dass Gott allen Menschen in dieser Zeit nahe ist und sie in grenzenloser Liebe miteinander verbindet. Er ermöglicht, dass wir unsere Liebe und Sorge für den Anderen auch dann in der Zeit leben können, wenn es räumlich nicht geht.
Papst Franziskus gibt der Zeit gegenüber dem Raum den Vorzug, wenn er in „Evangelii Gaudium“ das Prinzip formuliert: „Die Zeit ist mehr wert als der Raum“ (EG 222). Damit will der Papst Zeit für das Handeln gewinnen, denn dieses Prinzip „erlaubt uns, langfristig zu arbeiten, ohne davon besessen zu sein, sofortige Ergebnisse zu erzielen.“ (EG 223) Das sind prophetische Worte, die in Zeiten einer solchen Krise, wie wir sie erleben, von großem Wert sind und uns trösten und ermutigen können. Wir wissen zurzeit nicht, wie es genau weitergehen wird und wann wir wieder in den gewohnten Alltag zurückkehren können, aber diese Ungewissheit haben wir auch im normalen Leben, nur verdrängen wir sie da allzu oft. Wir kennen unsere Zukunft nicht, weder jetzt noch in normalen Zeiten. Keiner weiß, was passieren wird, denn wir verfügen nicht einfach über unsere Zeit und unsere Zukunft. Vieles widerfährt uns ungewollt und überraschend. Das wird uns in einer solchen bedrohlichen Krise erst richtig bewusst. Was passieren wird, ist offen. Die Ungewissheit ist aber immer mit einer Offenheit verbunden, die uns, so verrückt das klingen mag, einen Raum des Handelns eröffnet, wenn wir es schaffen, dass nicht die Angst, die alles eng machen und einschließen will, die Überhand gewinnt. „Fürchtet euch nicht!“ Diese Ermutigung Jesu gilt uns heute mehr als sonst: Habt keine Angst, denn ihr könnt die Zeit gestalten, die uns so vieles zumutet, aber in der wir auch Handlungsmöglichkeiten haben.
Papst Franziskus betont, dass der Vorrang der Zeit bedeute, „Prozesse in Gang zu setzen anstatt Räume zu besitzen.“ (EG 223) Zeit ist eine dynamische Größe, die in Bewegung bleibt, die nicht an einem Ort stehen bleibt oder an einen bestimmten Raum gebunden werden kann. Franziskus will, dass wir in der Zeit die Initiative ergreifen, dass wir immer wieder neu und voller Hoffnung anfangen. (EG 24) Das ist unsere Chance in diesen Zeiten der Not!
Ich möchte nun eine Meditation anfügen, die auf Jesus blickt, der als menschgewordenes Wort Gottes all unsere Sorgen und Nöte kennt, der weiß, wie sich Angst und Sorge, aber auch Hoffnung und Freude anfühlen.
Jesus hat in den letzten Tagen seines Lebens den Tod vor Augen. Wenn der Tod kommt, wie viel Zeit bleibt da dem Menschen noch? Was fängt der Mensch mit seiner Zeit an, wenn das Ende naht? Jesus spürt, dass die Zeit knapp wird. Was tut er? Er füllt die Zeit, die ihm bleibt, mit einer Geste, die bis heute identitätsstiftender Grund unseres Glaubens ist: Er feiert das letzte Mahl mit den Seinen, kurz vor seinem Tod. Er nimmt sich Zeit für seine Jünger, für Gott und für sich. Er bleibt nicht alleine in seinem Ringen mit Gott. Es stellt sich ihm die Frage, was bleiben wird. Welche Spuren wird er hinterlassen? Versetzen wir uns doch in diese Zeit vor seinem Tod, die noch nicht weiß, was alles geschehen wird.
Jesus hat wie wir eine offene Zukunft vor sich, die ihm alle Hoffnung abverlangt. Wüsste er sicher, was passieren, dass er am dritten Tage auferstehen würde – was wäre das für eine Hoffnung, die mit dem sicheren Sieg rechnen kann? Wozu Angst und Sorgen, wozu dann flehende Gebete zum Vater? Das Wort Gottes ist ganz und gar in die Zeit eingetreten, Jesus verzichtet auf eine göttliche Allwissenheit, er ist der zeitlichen Abfolge unterworfen, so hat es Johannes Paul II. erklärt. Jesus setzt sich unserem Zeitlauf aus, in dem wir nicht schon alles wissen und die Zukunft kennen können. Dennoch aber müssen wir Entscheidungen treffen, die für die Zukunft bedeutsam sind. Wie können wir das wagen? Worauf können wir uns verlassen?
Jesus stellt sich diese Fragen auch. Er will sich dem Willen Gottes überlassen, er setzt sich Gott und den Menschen aus. Und er reicht den Jüngern das Brot mit den Worten: mein Leib für euch. An diesem Abend vor seinem Tod steht Jesu Zukunft auf dem Spiel. Er bindet sie an Gott und, trotz ihrer Schwächen und ihres Versagens, an seine Jünger und an uns, die wir ihm nachfolgen: Tut dies zu meinem Gedächtnis! Was geschieht und geschehen ist, wird als Spur der Erinnerung tief in die Zeit eingegraben und kann somit lebendige Gegenwart bleiben.
Jesus hat für die Menschen gelebt und für Gott, er hat Menschen Zeit und Raum für ihr Leben, für Umkehr, Heilung, Tröstung und Vergebung geschenkt. Er wollte, dass sie menschlich leben können und er wusste, dass sie der helfenden und barmherzigen Nähe Gottes bedürfen, die immer wieder im Alltag verschüttet zu werden droht.
Jesus hat den Menschen die Augen geöffnet für eine Leben spendende Gegenwart Gottes, die sie entdecken können wie die Kraft eines unscheinbaren Samenkorns, das zum Schatz und zur Kraftquelle für die Zukunft werden kann. Wenn diese verborgene Gegenwart Gottes von uns auch als vergrabener Schatz im Acker dieser schweren Zeiten entdeckt wird, dann kann sie wirken und sich entfalten, für uns und für die Anderen. Jesus Christus steht für diese Leben spendende Nähe Gottes und daher teilt er sein Leben und seine Zeit mit uns allen im Zeichen des Brotes. Wer von diesem Brot isst oder wer Gottes Wort hört oder liest, stellt sich bewusst in die Gegenwart des Herrn, in der wir immer schon leben. Seine Gegenwart ist beim letzten Abendmahl ohne Grenzen für alle geöffnet, eine große Weite in dem kleinen Saal des Abendmahles. Jesu Wirken bleibt nicht räumlich auf Galiläa und Jerusalem beschränkt, durch seinen Tod und seine Auferweckung wird es universal entgrenzt und kann alle erreichen. Jesus schenkt seine Zeit und sein Leben auch angesichts des bevorstehenden Todes allen Menschen. Er schließt sich nicht ein in Angst und Trauer, sondern holt alle in seine Hoffnung, sein Leben und seine Zeit hinein, die unsere Zukunft eröffnet: Mein Leib, meine Gegenwart, mein Leben für Euch alle, über den Tod hinaus! Er teilt seine Zeit mit uns, im Leben wie im Sterben, und siehe: sie reicht für alle. Er schließt uns und auch die schwachen Jünger aus seinem Leben und seiner Zeit nicht aus, sondern vertraut sich uns und ihnen an, im Wissen um unsere Stärken und Schwächen.
Jeder Mensch als Bild Gottes repräsentiert Gott, alle Getauften repräsentieren Christus. Welches Vertrauen kommt uns hier entgegen! Gott vertraut uns und traut uns etwas zu. Wir neigen wie die Jünger dazu, nur unsere Stärken oder unsere Schwächen in den Mittelpunkt zu stellen, entweder himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt zu sein. Jesus führt uns in einen wohltuenden Abstand zu unserem Leben, so dass wir beides entdecken können: Glücken und Scheitern. Er weiß, dass seine Jünger mit ihm treu unterwegs waren, viel Gutes getan haben, dass sie von Zweifeln geschüttelt wurden und doch wieder zu ihm hielten, dass sie der Vergebung und Versöhnung bedürfen, die Jesus ihnen im Namen des barmherzigen Gottes immer neu gewährt. Auch in Verstrickungen von Schuld wird uns wieder neuer Raum und neue Zeit eröffnet, kann in der Zeit wieder gut werden, was zuvor zerbrochen war.
Tut dies zu meinem Gedächtnis: Dies ist der Appell an unsere Verantwortung: wie gehst du mit dem Schatz der Zeit um, in der Gott wohnt? Was geschieht für dich in der Zeit? Hast Du die Not der Anderen im Blick? Bist du dir bewusst, dass du in der Haltung Gottes und Jesu lebst, wenn du deine Zeit mit Anderen teilst? Jesus nimmt sich die Zeit zu fragen, was bleiben wird. Und er vertraut das Bleibende uns als seinen Jüngerinnen und Jüngern an, damit seine Liebe grenzenlos wachsen und immer neu Raum und Zeit für das gelungene Leben der Menschen eröffnen kann. So können auch wir mit der Zeit umgehen. Wir können in ihr die liebende Gegenwart Gottes spürbar werden lassen.
Im Nachhinein wissen wir, was Jesus widerfahren ist: sein Leben wurde in die Gegenwart Gottes hineingenommen, die Auferweckung ist die Entgrenzung seiner Zeit und seines Lebens: er der war, der ist und der kommen wird. Der Tod und die Bedrohung haben nicht das letzte Wort! Der Herr trägt alle Zeiten in sich, denen er sich radikal geöffnet hat. Daher binden wir die Gegenwart Gottes in besonderer Weise an ihn: er ist mit dem Vater der Herr über die Zeit, er vermag sie zu eröffnen, zu schenken und zu erfüllen. Seine Gegenwart hört nicht mit dem Tod auf, sie geht weiter mit uns durch die Zeit, sie endet nicht. Unsere Zeit wird durch die Liebe Gottes verwandelt, nicht zerstört. So können auch wir die Zeit der Not und Isolation wandeln in eine Zeit, in der wir füreinander da sind, uns gegenseitig helfen oder über den Gartenzaun oder den Balkon miteinander sprechen.
Auch wenn wir nicht mit allen im Raum des Abendmahlssaales sein können, erreicht die Gegenwart Gottes jeden von uns in seiner oder ihrer Zeit. Gott ist in seinem heiligen Geist und in seinem Wort für uns da, egal an welchem Ort wir uns befinden. Denn er geht in unserer Zeit vorüber, er hinterlässt Spuren und wir können seine Liebe und Barmherzigkeit auch jetzt spüren, den Mitmenschen weiterschenken und daraus Geduld, Kraft und Zuversicht schöpfen, bis wir alle wieder in einem Raum zusammenkommen können! Dann werden wir erneut seine bleibende Gegenwart in unserem Leben bewusst miteinander feiern und besonders all derer gedenken, die diese Zeit der Not nicht überlebt haben. Tun wir alles dafür, dass es möglichst wenige sind, die von uns gehen müssen! Nehmen wir unsere Verantwortung für das Leben der Anderen wahr! Das ist unsere Berufung. Wenn wir diese Verantwortung wahrnehmen, dann erst trifft es zu, dass die Schwachen nichts von uns zu befürchten haben. Dann bekommt das Wort „Fürchtet Euch nicht!“ noch eine ganz andere konkrete Bedeutung in dieser unserer Zeit.
Es sind so aufrichtende Worte zu Latare, zum „kleinen Ostern“! Und uberall ist zu merken, dass genau dies gesucht wird, dass wir gerade in dieser krisenhaften Zeit als Kirche fur die Menschen wichtig sind – als Institution des Trostes, der Hoffnung und Vergewisserung. Dieser Auftrag ist weder an konkrete Gebaude noch an bestimmte Formen gebunden. Und auch wenn wir eine Zeitlang auf die gewohnten Gottesdienste verzichten: Wir verzichten damit nicht auf Gebet, Andacht und Seelsorge.