Die Evangelien bezeugen den kenntnisreichen und vertrauten Umgang Jesu mit dem Gebetsschatz seiner Bibel, dem Ersten Testament: in der Abwehr des Versuchers (Mt ,6), im Wort über den Davidssohn (Lk 20,42) oder in der Nacht vor seiner Gefangennahme am Ölberg (Mk 14,34). Viel häufiger jedoch ziehen die Autoren der neutestamentlichen Schriften Psalmzitate, Paraphrasen oder Anspielungen heran um Jesus aus der eigenen, jüdischen Tradition heraus als den Messias Gottes zu legitimieren (Kontinuität).
Derartige Neudeutungen sind keine christliche Erfindung, sondern setzen die jüdisch-exegetische Praxis fort, die Psalmen durch Relecturen auf veränderte Situationen je neu zu beziehen.
Leiden und Sterben Jesu
Besonders deutlich wird das in den Passionserzählungen. Schon die Sterbeworte Jesu werden unterschiedlich überliefert (Mk/Mt: Ps 22,2; Joh: Ps 31,6). Sowohl der Schrei der Gottverlassenheit (Ps 22,2) als auch die Übergabe des Geistes (Ps 31,6) stehen im Kontext von Feindbedrohung, Verlassenheit und Todesnot – und (als ganze gelesen) führen beide den Beter ins Vertrauen auf Gott und zum Dank für die erfahrene Rettung. Die markinische Überlieferung spielt mit der Verhöhnung des Gekreuzigten, der ohne Tröster bleibt (V. 21) und in seinem Durst mit Essig getränkt wird (V. 22) auch auf Ps 69 an. Aus Ps 22 stammen außerdem die höhnische Bemerkung „Er wälze die Last auf den Herrn! Er soll ihn befreien, wenn er an ihm Gefallen hat“ (V. 8.9), das Angaffen (V. 18) des an Händen und Füßen Durchbohrten (V. 17) und die Verteilung seiner Kleider durch das Los (V. 19).
Von Gott beglaubigter Messias
Auch die Apostel greifen für die Verkündigung auf die Psalmen zurück: in seiner Pfingstpredigt zitiert Petrus Ps 16,8-10 und legt die Verse „freimütig“ dahingehend aus, dass wohl nicht David gemeint gewesen war („dessen Grabmahl bei uns erhalten [ist] bis auf den heutigen Tag“), sondern dass dieser vielmehr „vorausschauend über die Auferstehung des Christus“ gesprochen habe (Apg 2,25-31). Doch die Botschaft wird nicht überall gerne gehört, worauf die verunsicherte Urgemeinde wenig später ihre Situation mit Ps 2,1-2 beklagt: „Die Könige der Erde standen (V. 2: stehen) auf und die Herrscher – namentlich „Herodes und Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels“ – haben sich verbündet (V. 2 tun sich zusammen) gegen den Herrn und seinen Christus/Gesalbten.“ (Apg 4,26-27). Wie schon der Verfasser der lukanischen Passion vor der Verurteilung Jesu anmerkt: „An diesem Tag wurden Herodes und Pilatus Freunde.“ (Lk 23,12)
Patristische und liturgische Psalmenhermeneutik
Auf Basis dieser kanonischen Psalmenverwendung in christlicher Relecture hat die patristische Auslegung die Christologie aus den Psalmen intensiv weiterentwickelt und damit ein Fundament für den weitreichenden liturgischen Gebrauch der Psalmen gelegt: Sowohl in der Tagzeitenliturgie als auch in der Messe, vor allem an den Herrenfesten und den damit verbundenen Festkreisen, identifiziert er entweder den Menschen Jesus als exemplarischen Psalmbeter (Christologie „von unten“) oder als den darin besungenen „Sohn“, „(leidenden) Gerechten“, „Bräutigam“, „König“ und „Messias“ (Christologie „von oben“). In der Liturgie wird also in den Psalmen die Stimme Christi zum Vater (vox Christi ad Patrem) und/oder das Gebet/Bekenntnis der Kirche zu/von ihrem Herrn (vox ecclesiae ad Christum/de Christo) „hörbar“.[1]
Identifikation und Partizipation
Der christliche Vollzug der Psalmen lädt zur Identifikation ein: zunächst auf der Ebene des persönlichen Gebetes in allen Lebenslagen, existentiell und ungeschönt. Das schließt weder eine heftige Anklage Gottes noch die Feindpsalmen aus, im Gegenteil: Wer Gott anklagt, lässt den (vielleicht dünnen?) Faden der Beziehung zu ihm nicht reißen. Und besonders die aus der heutigen römischen Tagzeitenliturgie „wegen gewisser psychologischer Schwierigkeiten“ leider entfernten Psalmen 58, 83, 109 sowie „einzelne derartige Verse anderer Psalmen“[2], enthüllen die Wahrheit über den Menschen und seine Welt, sie halten uns den Spiegel vor, und sie nehmen solidarisch Menschen ins Gebet, die wie der Psalmist schwer leiden und an Leib und Leben bedroht sind. Nicht zuletzt lehren gerade sie den Gewaltverzicht – denn die erflehte Rache an den Feinden vollzieht niemals der Beter selbst, sondern er überlässt sie dem Gericht Gottes und seiner Gerechtigkeit!
Für die liturgische Psalmenverwendung steht die Identifikation des Christus sowie die der Kirche mit ihrem Herrn im Vordergrund – doch auch in anderen Aktanten der Psalmen darf man sich selbst/die Kirche/die Menschheit erkennen: in den Verfolgern und Lästerern, Zweiflern und Geläuterten, im Volk Israel und den Völkern, in den Wallfahrern, Wächtern, Sängern … und in allem „Werk seiner Hände“.
Christus, der Psalmenbeter
Wie das Neue Testament erschließt auch der öffentliche Gottesdienst der Kirche im Rhythmus des Tages, der Woche und des Jahres das Pascha-Mysterium Christi aus den Psalmen. Im Zusammenspiel mit den Hauptgottesdiensten der Hohen Woche eröffnet die Psalmodie der „Trauermetten“ (Lesehore/Vigil und Laudes) an den drei Tagen vor Ostern den Zugang zu einem Kosmos diskret verborgener österlicher Spiritualität. Um sich darin heimisch zu machen, bedarf es jedoch des „Selbstversuchs“ im Vollzug, der durch keine theoretische Reflexion ersetzt werden kann (wohl aber ihre Basis ist). Nur diese wenigen Beispiele aus verschiedenen Feierformularen mögen als Andeutung genügen. Nicht berühmte „letzte Worte“, sondern die jeweils ersten Worte in den frühmorgendlichen Feiern eröffnen den Horizont, in dem der ganze Tag erlebt werden will.
Gründonnerstag
Bis zur jüngsten Liturgiereform begann der Hohe Donnerstag (noch in der üblichen wöchentlichen Psalmenverteilung) mit dem Vigil-Psalm 69[3]. Doch an diesem Tag erhielt er die eigens gewählte Antiphon Zelus domus tuae/Der Eifer für dein Haus hat mich verzehrt (V. 10): Welches Ereignis klingt darin an? Mit der Vertreibung der Händler aus dem Tempel (Mk 11,15; Lk 19,45) hatte Jesus nach seinem beunruhigend populären Einzug in Jerusalem seinen Gegner den vermutlich letzten Anlass zum Eingreifen geliefert. Die Antiphon am Morgen des Gründonnerstags ruft die „mit Eifer für Gottes Haus“ vollzogene „Tempelreinigung“ ins Gedächtnis und stellt sie als Anfang vom zu erwartenden Ende vor Augen. Abgesehen von den in den Passionserzählungen anklingenden Versen aus Ps 69, berührt V. 9, der die fortschreitende Vereinsamung des Psalmisten/Jesu (vox Christi) ahnen lässt: „Entfremdet bin ich meinen Brüdern, den Söhnen meiner Mutter wurde ich fremd.“ Und es wird noch schlimmer kommen …
Karfreitag
In der heutigen römischen Stundenliturgie hat sich in der Lesehore am Karfreitag der traditionelle Psalm 2 mit seiner Antiphon „Die Könige der Erde stehen auf, die Großen haben sich verbündet gegen den Herrn und seinen Gesalbten“ (V. 1-2), erhalten. Hier ist (neben der schon in der Apostelgeschichte grundgelegten Deutung) entscheidend, dass derselbe Psalm auch in der Lesehore des Weihnachtstages am 25. Dezember begegnet – dort aber mit V. 7 als Antiphon: „Der Herr sprach zu mir: Mein Sohn bist du. Heute habe ich dich gezeugt.“ Derselbe Psalm zu Weihnachten und Ostern? Ja, denn dieser Psalm vermag das Erdenleben Jesu von der Geburt bis zum Tod und zu seiner Einsetzung als König und Herrscher über die Völker bis an die Enden der Erde (vgl. V. 6.8) zu deuten. Krippe und Kreuz sind in Ps 2 liturgisch untrennbar verbunden: vom Anfang bis zum Ende wollen Machthaber „den Sohn“ ausforschen um ihn umzubringen (vgl. Mt 2,8.13) Am Karfreitag scheinen sie am Ziel zu sein. Doch der Herr verspottet ihre „nichtigen Pläne“ …
Karsamstag
Im Benediktinischen Antiphonale beginnt die Vigil am Karsamstag mit einem Aufschrei: „Herr, du hast es gesehen, o schweige nicht, bleibe nicht ferne! O Herr, erhebe dich und nimm dich unser an! (Ps 35,22f) als Antiphon zu Psalm 74, der um das entweihte und zerstörte Heiligtum – „die Wohnung deines Namens“ (V. 7) – klagt.
In Ps 74 bittet das Gottesvolk – Israel und mit ihm die Kirche – angesichts des verwüsteten Berg Zions „auf dem du Wohnung genommen“ (V. 2), um die Wiederherstellung des Heiligtums. Im christlichen Verständnis ist der „bis auf den Grund entweihte“ Wohnort Gottes Christus selbst – um seine Neuerrichtung bittet die Kirche. Denn in der Tragödie des Gekreuzigten entscheidet sich das Schicksal der ganzen Schöpfung …
Ostersonntag: … und noch immer bin ich bei dir!
Psalm 139 nimmt in der römischen Feier des Triduum Sacrum einen hervorragenden Platz ein: Der Introitus Resurrexi zur Eucharistiefeier am Ostersonntag erklingt schon in den ältesten Quellen[4] als Kurzformel für die Überwindung von Sünde und Tod durch Christus. Seine Vertonung im IV. Ton konnotiert jedoch nicht Triumph und Sieg, sondern Innigkeit und Staunen – die Feiernden treten „mit Christus“ in das Zwiegespräch mit seinem Vater (tecum/bei dir) ein.
Schwierigkeiten bereitet aufgrund von Textverderbnis das Verständnis der V. 16-18, denn das Verb ץיק (qyz) kann mit aufwachen[5] oder mit an ein Ende kommen[6] (von ץק [qēz], Ende) übersetzt werden. Gemeint sein könnte das Staunen des Beters darüber, dass er, dessen Lebenszeit Gott bekannt ist, beim Erwachen – „unendlich viele Lebensmomente“[7] später – immer noch bei dir/Gott, das heißt, lebendig ist.
An dieser inhaltlichen ,Leerstelle‘ hat die christologische Relecture angesetzt. Sie liest Ps 139 als Ankündigung des Mysteriums der Menschwerdung[8] und den rätselhaften V. 18b, in dem es vermutlich um die Zahl der Lebenstage des Beters (,Augenblicke‘ vor Gott) geht, aufgrund von Exsurrexi/Resurrexi als Chiffre für die Auferstehung Christi.
In der Liturgie steht dieser Tradition zufolge Psalm 139 ganz im Licht von Ostern[9]: Der Introitus am Ostersonntag löst fünf Psalmverse[10] aus ihrem ursprünglichen Kontext und verbindet sie zur vox Christi: Resurrexi, et adhuc tecum sum, alleluia: posuisti super me manum tuam, alleluia: mirabilis facta est scientia tua, alleluia. – Ich bin erwacht/aufgestanden und immer noch bin ich bei dir; du hast deine Hand auf mich gelegt; als wunderbar hat sich für mich dein Wissen erwiesen, alleluia.
Das Resurrexi des Psalmisten ergibt sich überwältigt in die allumfassende Gegenwart Gottes; im ,Resurrexi‘ des Auferweckten schwingt darüber hinaus ein Ton innigsten Vertrauens mit, das sich nicht nur im Leben, sondern auch in der größten Gottferne des Todes bewährt hat: Domine, probasti me, et cognovisti me: tu cognovisti sessionem meam, et ressurectionem meam – Du hast mich erforscht und erkannt. Du weißt, wann ich mich (nieder)lege und aufstehe.
Der Christus der Psalmen, ganz Mensch und bundestreuer Jude, „wenn er sich schlafen legt und wenn er aufsteht“[11], erfährt am Ostermorgen das Wunder seiner Errettung – nicht vor dem Tod, aber aus dem Tod: durch Verlassenheit, Leiden und Tod hindurch gehalten vom „wunderbaren Wissen“[12] des Vaters findet der Sohn bei ihm sich wieder.
All diese Worte nehmen Christinnen und Christen in den Mund und haben am Pascha Christi teil, wenn sie Ostern feiern und erfüllen, was Ps 22 gelobt:
„Ich will deinen Namen meinen Brüdern verkünden, inmitten der Versammlung dich loben. […] Vom Herrn wird man dem künftigen Geschlecht erzählen und seine Heilstat verkündet man einem Volk, das noch geboren wird: Ja, er hat es getan.“[13]
DDr. Ingrid Fischer, THEOLOGISCHE KURSE
[1] Vgl. die Allgemeine Einführung in das Stundengebet (AES) 3.17.109.
[2] AES 131.
[3] Gemäß dem Wochenpsalter der erste der für jeden Donnerstag vorgesehenen Psalmenreihe 69-77.
[4] Vgl. die Sammlung der z. T. ins 8. Jh. zurückreichenden Quellen von René-Jean Hesbert, Antiphonale Missarum Sextuplex. Bruxelles-Paris: Vromant & Co, Imprimeurs-Éditeurs, 1935, Nr. 80, 100-101.
[5] So wörtlich (evigilavi) im Vulgata-Psalm iuxta hebr. und sinngemäß (exsurrexi) in der Vulgata iuxta LXX. Der Lesart des Erwachens folgt auch die revidierte Einheitsübersetzung 2016.
[6] Die „alte“ Einheitsübersetzung (1980) hingegen schrieb Wollte ich sie zählen, es wären mehr als der Sand. Käme ich bis zum Ende, wäre ich noch immer bin ich bei dir.
[7] Klaus Seybold, Die Psalmen. (HAT I/15), Tübingen: Mohr, 1996, 517. Auch die Übersetzung von ךיער (Vs 17a, möglicherweise zu lesen als ךיעגר „deine Augenblicke“?) bereitet Probleme.
[8] Hier vor allem V. 15 „Als ich geformt wurde im Dunkeln, kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde, waren meine Glieder dir nicht verborgen.“
[9] Außer dem Introitus vom Ostersonntag rezipiert auch das Exsultet der Paschavigil Ps 139(138) in Anspielung auf V. 11-12: „ Würde ich sagen: Finsternis soll mich verschlingen und das Licht um mich soll Nacht sein! Auch die Finsternis ist nicht finster vor dir, die Nacht leuchtet wie der Tag, wie das Licht wird die Finsternis.“
[10] Ps 139,18.5.6 mit den Zwischenversen 1.2.
[11] Vgl. Ps 31,6 und Dtn 6,7.
[12] Vgl. Ps 139,6.
[13] Ps 22,23.31-32.