Beitrag von DDr. Ingrid Fischer, THEOLOGISCHE KURSE. Dieser Beitrag wurde als Referat beim Symposium der Liturgischen Kommission für Österreich im Oktober 2021 gehalten und erstveröffentlicht in: Heiliger Dienst. Zeitschrift für Liturgie und Bibel 76 (2022,1) 12–21 [Link zum ganzen Heft]
Vorbemerkung
Von der durch Covid-19 ausgelösten weltweiten Krise – so wäre natürlich zu hoffen – möge wenig bleiben, am besten gar nichts. Doch das ist unwahrscheinlich, denn die meisten Expert*innen sind sich darin einig: Die Langzeitfolgen der Pandemie sind nicht absehbar und es wird nicht die letzte gewesen sein. Auch unter dieser Perspektive und weil Geschichte niemals einfach vergangen ist, sondern Zukunft setzt, stelle ich meine Beobachtungen unter vier Partizipialformen, die einen Zusammenhang zwischen dem leidlich Überstandenen und dem der Kirche künftig Aufgegebenen herstellen – einen Zusammenhang, der am Anfang der Krise klar, mitunter scharf beobachtet und artikuliert wurde und inzwischen zu verblassen droht. Meine Akzente setze ich dabei als Liturgiewissenschaftlerin, nicht als Expertin für Pastoral, Mission oder für die Möglichkeiten digitaler Medien, die ich nicht bin.
Partizipien (= „teilhabende“) sind von Verben abgeleitete Formen, die Merkmale einer Eigenschaft annehmen: das hier verwendete Partizip II dient zur Verwendung eines Verbs im Passiv. Also etwas, das wir „erleiden“: vorübergehend oder auch habituell.
Erschüttert
Wir waren erschüttert von der Heftigkeit, mit der die einschneidenden Maßnahmen ab März 2020 das liturgische Leben der Kirche lahmgelegt haben. Besser gesagt, reduziert: zunächst auf jenes Minimum einer nicht mit der Gemeinde gefeierten, sondern vom Priester für die Gemeinde gelesenen, manchmal allein oder im kleinsten Kreis gehaltenen Messe. In der Not war sie als (allzu?) rasche Notlösung gefragt, willkommen und legitim. Doch die „volle bewusste und tätige Teilnahme“ des Gottesvolkes hat sich auch in den Jahren 2020/21 als kontingente Zutat („Zufälligkeit“) und als nicht konstitutiv für die gültige Darbringung eines Messopfers erwiesen, obwohl die Liturgie „mit Recht … als Vollzug des Priesteramtes Jesu Christi“ gilt – und „infolgedessen […] jede liturgische Feier als Werk Christi, des Priesters, und seines Leibes“ (SC 7). Der doppelte Verzicht auf den „Leib Christi“ – als die von Gott gerufene Versammlung und die gerade ihr vorenthaltene Heilsgabe – schien erschwinglicher als das Wagnis, die Eucharistietheologie des Zweiten Vatikanischen Konzils ggf. auch im Verzicht auf das gemeinsame Mahl konsequent zu praktizieren.
Viele waren damit zufrieden: viele Priester und – für manche wenig überraschend, für andere aber doch erschütternd – auch viel Volk, was jedenfalls zur Kenntnis zu nehmen ist.
Erleichtert
Die erste Schreckstarre ist längst vorüber. Seit einiger Zeit dürfen wir aufatmen. Und sogar wieder gemeinsam einatmen, um zu singen. Wir haben eine neue Normalität, die in vieler Hinsicht zwar gar so neu nicht ist, in anderer freilich schon – dazu etwas später. Dank der Impfung hat sich das Gefahrenpotential liturgischer Zusammenkünfte vermindert und wir haben die vermeintlich unentbehrlichen und doch gravierend vernachlässigten Konstanten liturgischen Feierns zumindest teilweise wiedergewonnen: Versammlung, Leiblichkeit, Kommunikation und auch die Öffentlichkeit unserer Liturgie. Bezüglich der symbolischen Qualität der eucharistischen Mahlgestalten ist nach wie vor erst das absolute Minimum zugestanden, was allerdings wenig auffällt, da dies in verbreiteter Praxis ohnehin das Normalmaß darstellt: Oblaten für Vorsteher und Gemeinde in getrennten Schalen, keine Kelchkommunion. Auch Berührungen sind weiterhin tabu.
Die konzilskonform behauptete liturgietheologische und ekklesiologische Relevanz der Teilnahme und Teilhabe der sogenannten Laien an der Liturgie („Werk Christi und seines Leibes“) hat sich auch in der Krise – also via negativa – leider gerade nicht erwiesen. Ich führe das darauf zurück, dass in der traditionellen Sakramententheologie der katholischen Kirche die actuosa participatio der Feiernden für das Zustandekommen eines Sakramentes (mit Ausnahme der Ehetheologie, die einen eigenen Diskurs erfordern würde) irrelevant ist und höchstens auf der Ebene individueller Disposition und Frömmigkeit liegt. Unsere Auffassung von „den“ Sakramenten – die doch als sakramental-liturgische Feiern zu beschreiben wären – ist nach wie vor von der Diktion „Spender und Empfänger“ geprägt, welche die eigentlich feiernd Involvierten und die Diener am gefeierten Sakrament (lat. minister sacramenti) in ein traditionell verfestigtes Missverhältnis zueinander bringt. Weitere jahrhundertelang ausgetretene Auswege aus der coronabedingten Versammlungsnot des vergangenen Jahres führten zur TV-Version der mittelalterlichen Schaukommunion sowie zur neuerlichen Ausreizung der theologisch überstrapazierten Argumentationsfigur der Stellvertretung des Volkes durch den Vorsteher.
Doch selbst wenn das klerikale Selbstbewusstsein sich der Bestätigung durch viele Gläubige sicher sein kann und die in der Not für probat befundenen Lösungen auch als „neue Normalität“ Legitimation gewinnen, ist die katholische Welt keineswegs schon wieder in Ordnung. Die vermeintliche Erleichterung könnte in einer Aporie enden, die nicht erst die Zukunft kosten wird. Denn schon vor Corona haben sich die Kirchen zu leeren begonnen – und der Rückstrom bleibt bisher aus.
Ich zitiere die bereits breit und kontrovers diskutierten Phänomene an dieser Stelle nicht, um traditionelle Frömmigkeitsformen zu entwerten, sondern weil die zugrundeliegenden Denkmuster derzeit durchaus zur Erleichterung vieler einer Überprüfung unterzogen werden – angestoßen von dem Ende 2019 gestarteten Synodalen Weg der Deutschen Kirche (deren besonderes Sensorium für Machtkritik sich wohl auch der Reformation und der Aufklärung verdankt) und am 1. Oktober dieses Jahres von Papst Franziskus als weltkirchlicher Prozess eröffnet.
Ernüchtert
Wo Hoffnung geweckt wird, kann sich auch Ernüchterung einstellen: Im Morgenjournal am Sonntag, 18. Oktober 2021, war anlässlich der Eröffnung des Synodalen Weges im Erzbistum Salzburg der Satz zu hören: „Die Kirche hört den Menschen zu.“ Ist die Frage gestattet, wer denn „die Kirche“ ist, die sich hier im Gegenüber zu „den Menschen“, gar „den Gläubigen“ positioniert?
Jedenfalls mehren sich die Stimmen und sie werden lauter, die für die Rolle und Bedeutung der Kirche post coronam einen grundsätzlichen und tiefergehenden Reflexions- und Veränderungsbedarf sehen und – auch fachspezifisch – zu diskutieren begonnen haben. Jenseits zentraler, aber umstrittener theologischer Begründungsfiguren, die hier nicht unser Thema sind, liefert Armin Nassehi, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, einen interessanten Erklärungsansatz dafür. Er stellt fest,
„dass die Gesellschaft keine anderen Mittel hat als ihre eigenen Routinen und Strukturen, auf solche Herausforderungen ziemlich erwartbar zu reagieren. Und diese Mittel scheinen nicht nur begrenzt zu sein, sie folgen offensichtlich ehern stabilen Mustern, die sich kaum irritieren lassen. Die Leute tun, was sie immer tun.“[1]
Nassehi nennt die Bereiche Wirtschaft, Arbeitnehmer, Medien, Psychologen etc. – erst recht gilt das aber für die Kirche und ihre offiziellen Vertreter (an dieser Stelle ist gendern kaum angebracht oder nötig) – und fährt fort: „Das Virus hat tatsächlich alles verändert, aber es hat sich nicht das Geringste daran geändert, wie eine komplexe Gesellschaft auf solch eine Ausnahmesituation reagiert. Man könnte sagen: Sie tut es ziemlich routiniert. Wir sehen, dass alle Akteure genauso auftreten, wie sie es sonst auch tun.“[2]
Ein weiteres Moment, das sich deutlich auch am kirchlichen Handeln ablesen lässt, ist:
„dass die moderne Gesellschaft alle möglichen Reaktionsformen kennt, nicht aber vollständige Handlungskoordination aus einem Guss. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass ihre interne Differenzierung in ökonomische, politische, rechtliche, wissenschaftliche, mediale und religiöse Eigensinnigkeiten nur um den Preis unrealistischer Erwartungen überwunden werden kann. Beim Klimawandel bleibt am Ende dann nur eine amorphe Kapitalismuskritik übrig, die freilich nicht genau weiß, wovon sie den Gegenstand ihrer Kritik unterscheiden soll. Im Falle der Corona-Krise greift inzwischen eine völlig unangemessene Wissenschaftskritik um sich, die sich etwa in Angriffen und Drohungen gegenüber Christian Drosten entlädt.“[3] Hierzulande träfe es vermutlich Dorothée von Laer.
Müsste diese Beobachtung des Soziologen, auf die Kirche angewendet, nicht heißen, die Hoffnung auf unrealistische Reformziele aufzugeben, wie Corona sie da und dort aufblitzen ließ und der Synodale Weg in Deutschland und ab sofort auch jener päpstlich initiierte Synodale Prozess der Weltkirche sie verheißungsvoll vor Augen stellen? Viele Menschen, besonders Frauen wollen tatsächlich keine Kräfte mehr dafür verschleißen … Seine Gedanken zu Ende führend, kommt Nassehi auf die Brüchigkeit und Dynamik unserer vermeintlich stabilen Gesellschaft zu sprechen:
„Einer der schönsten biologischen Sätze zur Pandemie lautet, mit dem Virus könne man nicht verhandeln. Genau genommen gilt dieser Satz auch für die Gesellschaft. Mit ihr kann man auch nicht verhandeln, weil ihre Eigendynamik offensichtlich in einer merkwürdigen Kombination aus Stabilität und Fragilität fast unerreichbar ist. Immerhin kann man in ihr verhandeln … ihre Widersprüche und Dilemmata bloßlegen. Was soll man auch sonst tun, wenn das das einzige Bordmittel ist, das man als Wissenschaftler hat – womit wir wieder am Anfang der Geschichte wären. Es stimmt: Das Virus ändert alles, aber es ändert sich nichts.“[4] Sofern die Kirche dieser soziologischen Gesetzmäßigkeit unterliegt, wäre mit ihr nicht zu verhandeln – aber doch, vielleicht, wenn auch noch ungewohnt, in ihr?
Erneuert (?)
Was aber ist nun tatsächlich neu oder erneuert in unserer Wahrnehmung, in unserem Feiern, in unserer Haltung den Menschen gegenüber? Zaghafter Hoffnung stehen Zweifel gegenüber.
Liturgie
Die Rückkehr zu annährend vertrauten liturgischen Feiergestalten und -formen könnte schnell vergessen lassen, was doch des Nach- und Neudenkens wert ist. Der italienische Priester und Liturgiewissenschaftler an der Lateranuniversität Angelo Lameri zieht drei mögliche „Reflexionsspuren“ aus. Eine erste bekräftigt gemäß scholastischer Theologie unbeirrt, „dass die Gültigkeit der eucharistischen Feier nicht von der Anwesenheit des Volkes abhängt“, da die Gemeinde schlicht „nicht der konstitutive Protagonist des sakramentalen Aktes ist.“[5] Eine zweite betrifft jene schmerzhaft eingeschränkte participatio an und in „einer ,Quarantäneliturgie‘ ohne Geschmack und Geruch“, die „eine gewisse Sehnsucht nach früheren Zeiten“[6] erwecken und das Vermisste höher zu schätzen lehren könnte. Die dritte Spur führt zu den häuslichen Liturgien, die kein Ersatz und keine Verdoppelung des Feierns in der Kirche sind, sondern in denen ein eigenes und echtes, nämlich das Priestertum kraft der Taufe gelebt wird. Daran reiche kein Streaming heran.[7] Es gehe künftig um den Wert der Gemeinde, um Dienste, die nicht nur ordinierte Personen ausüben und um „Liturgie, die auch einen häuslichen Charakter annehmen kann.“[8]
Weitere praxisnahe Reflexionen stellt Benedikt Kranemann, Professor für Liturgiewissenschaft in Erfurt, an: Die von der Pandemie ausgelösten reaktive Ritualdynamik erlaube weder mehr die Rede von „der“ Kirche noch von „der“ Liturgie; in den Blick zu nehmen sei vielmehr, um wieviel differenzierter und heterogener die kirchliche Wirklichkeit wohl schon immer war und heute ist. Riten und Ritualelemente würden modifiziert und – pandemiebedingt etwa durch die veränderte, teils hochqualitative kirchenmusikalische Praxis – neu akzentuiert. „Performance, Kommunikation und Symbolik sind betroffen und beeinflussen die Wirkungsästhetik der Liturgie.“[9] Die „Diskussionen um die Partizipation im Gottesdienst“ möchte Kranemann zudem um die breitere Frage nach der Verantwortung für die Liturgie erweitert wissen. Teilhabe (nicht bloß Mit-Wirkung) und Handlungsvollmacht der Getauften seien zu reformulieren. Schließlich wären in den vergangenen Monaten viele Gläubige für zentrale Vollzüge in der Liturgie sensibilisiert worden: insbesondere für den Gesang als performative Teilhabe am dialogischen Ereignis zwischen Gott und Mensch, als das wir gottesdienstliches Handeln bestimmen, aber auch für den Wert gut vorgetragener biblischer Texte und ihrer Auslegung, von gesprochenem und stillem Gebet, vom Hören und Schweigen. Vermisste Symbolhandlungen wie Gabenprozession, Friedensgruß, Brotbrechung oder die Kommunion unter beiden Gestalten haben – gegenüber ihrer bevorzugt praktizierten Spiritualisierung – auf die unverzichtbare Körperlichkeit und Materialität der Liturgie verwiesen. Ob die Dringlichkeit solcher und ähnlich sensibler Erfahrungen von den Entscheidungsträgern erkannt und aufgegriffen wird, bleibt zu hoffen, aber fraglich.
In ihrem persönlichen Fazit unter das im Jänner 2021 am Pariser Institut Catholique abgehaltene Kolloquium „Liturgie im Spiegel der Gesundheitskrise“ resümierte Miriam Vennemann, Diplomassistentin an der Theologischen Fakultät in Fribourg (CH) – neben den obligaten Hinweisen auf „theologische Stolpersteine, bereits überwunden geglaubte Irrwege und ins Museum gehörende Kirchen- und Priesterbilder“ –, die Krise habe „den liturgischen Schöpfergeist sowie die Kreativität vieler Christinnen und Christen von den Ketten des Klerikalismus befreien und jene zu neu zu beschreitenden liturgischen Wegen ermutigen“ können.[10] Aus dem dort Gehörten hebt auch sie u. a. „die Wertschätzung des Körpers als ,Weg Gottes‘ und ,Weg zu Gott‘“ hervor und mahnt an anderer Stelle, dass „die Sakramente nicht länger als ,Konsumgut‘ betrachtet werden“[11] sollten. Nun zählen aber Gottesdienste und insbesondere Kasualienfeiern heute zum religiösen Konsumgut einer pluralen Gesellschaft, wobei gerade Covid-19 „die Wahlmöglichkeiten der Verbraucher erweitert und konfessionelle Grenzen überschritten“ hat.[12] Diese Thematik war u. a. Gegenstand der heurigen online abgehaltenen Tagung der internationalen ökumenischen Societas Liturgica.
Die eminente Bedeutung der Gemeinschaftsdimension, wie sie auch durch das Verbot des Gemeindegesangs besonders spürbar wurde, geht übrigens u. a. aus einer in der Diözese Rottenburg-Stuttgart durchgeführten Online-Umfrage unter haupt- und ehrenamtlich tätigen Gottesdienstverantwortlichen hervor.[13] Sie erhebt einige rituell-gottesdienstliche Phänomene während der Pandemie, um sie gemäß GS 4 als „Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums“ zu deuten. Als besonders bereichernd wurden demnach kreative rituell-spirituelle Formen familiärer, nachbarschaftlicher und ökumenischer Vernetzung erlebt. An ihnen wird die in der Liturgiewissenschaft als notwendig erkannte Dekonstruktion etablierter Vorstellungen vom gottesdienstlichen Leben quer durch die Geschichte konkret.[14] Man könnte auch davon sprechen, dass die Liturgie – nicht nur „im Netz“, wohl aber angestoßen von den Möglichkeiten freier digitaler Feierformate, die weder eine kirchliche Approbation noch einen ordinierten Vorsteher benötigen – „außer Kontrolle“ geraten ist. Hier hat sich ein unabsehbar weites Feld aufgetan.
Pastoral
Während sich also ein Großteil der „einfachen Gläubigen“ mit der dogmatisch und kirchenrechtlich gedeckten priesterzentrierten Gottesdienstpraxis im vergangenen Jahr zufrieden gezeigt hat, kommt auch aus der pastoraltheologischen Reflexion teils harsche Kritik am Wert des überkommenen liturgischen Feierns, wenn etwa davon die Rede ist, die katholische Kirche habe sich „mit ihrer liturgischen Kernkompetenz in eine Sackgasse hineinmanövriert … in der sie weder Resonanz noch Relevanz erfährt“, wie Benedikt Jürgens, theologischer Leiter des Kompetenzzentrums Führung am Zentrum für angewandte Pastoralforschung der Ruhr-Universität Bochum konstatiert und daraus folgert: „Eine Lösung könnte darin bestehen, die Fixierung auf die Liturgie zu lösen und andere kirchliche Kernkompetenzen in den Blick zu bekommen.“[15] Jürgens wundert sich, mit „welchem Enthusiasmus beide Kirchen [r.k./ev.] die Strategie der Digitalisierung ihrer Verkündigungs- und Liturgieformate … verfolgen, … intensiv reflektieren und erforschen lassen. Denn die Nachfrage nach genau diesen Formaten ist seit Jahrzehnten im freien Fall.“[16] Er vermisst die Wahrnehmung der zweifellos systemrelevanten diakonischen und pastoralen Präsenz von Ärzt*innen, Erzieher*innen, Pflege- und Lehrpersonal sowie Menschen in Sozialberufen, die ihre Tätigkeiten – sofern in kirchlichen Einrichtungen – auch „im expliziten Auftrag der Kirchen“ ausüben.[17] Als fundamentales Problem ortet er deshalb die zwar theoretisch immer wieder beschworene Vielfalt der kirchlichen Handlungsvollzüge, ohne jedoch die pastorale Dimension, die nicht weniger als die Liturgie zum Kerngeschäft der Kirche gehöre, der genannten und anderer Berufe sichtbar zu machen. Sie sei ein Ausdruck grob mangelnder Wertschätzung der Diakonie im ekklesialen Selbstverständnis.
Ähnlich scharf formuliert der Tübinger Professor für Praktische Theologie Michael Schüßler:
„Die Möglichkeit zum traditionellen Gottesdienst hat zwar hohe symbolische Bedeutung. Im Leben der meisten Gläubigen aber ist die katholische Eucharistiefeier eine marginale Option, die man auf sich beruhen lässt: zu festgelegt, zu langweilig, zu männerlastig, zu irrelevant. Die Teilnahme am „eucharistischen Opfer“ ist nicht mehr „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (LG 11). Das Ereignis aber, das Eucharistie meint, ereignet sich weiterhin und jenseits kirchlicher Amtsfragen, existenziell und liturgisch. Man könnte dankbar sein dafür.“[18]
Schüßler benennt deshalb „Drei Spuren der Pastoral“ in Coronazeiten – mit Potential darüber hinaus:
„Seelsorglicher Takt in allen Kirchenvollzügen: Seelsorge als tröstende und bestärkende Begleitung angesichts der Fragilität des Lebens rückt an die erste Stelle. Das gilt auch für Gottesdienste, egal in welchen medialen Formen (digital/analog). Amtsfragen dürfen Seelsorge nicht blockieren. Und Seelsorger*innen brauchen dafür in ihren experimentellen Suchbewegungen Ermutigung und selbst Rückhalt.
Raum für die existenzielle Wucht der Krise: Kirche wäre der Ort für die großen ,Warum‘-Fragen der Krise, für Angst, Wut, Trauer und Klage als Protest. Wenn Gott als absoluter Weltenlenker aber als Adressat unglaubwürdig geworden ist, braucht es wohl andere, ,schwächere‘, erfahrungsnähere Ausdrucksformen.
Praktische Solidarität mit den Verwundbarsten: Im ersten Lockdown gab es im Nahbereich und in den Caritas- und Diakonieeinrichtungen viel ,unsichtbare‘ praktische Hilfe und Solidarität: Not sehen und handeln ist auch jetzt Gotteszeugnis und nicht nichts. Kirche könnte sich nicht nur für Eucharistie, sondern mit ihren Mitteln (Räume, Gelder, religiöse Sichtbarkeit) für die am meisten von der Krise Betroffenen einsetzen.“[19]
Anstelle eines Fazits
Wie andere Beobachter*innen auch sieht Alberto dal Maso, verantwortlicher Redakteur der italienischsprachigen Ausgabe der Zeitschrift Concilium in Brescia, das liturgisch-rituelle Handeln der Kirche „von der Pandemie auf die Probe gestellt“.[20] Er legt nahe, jenen biblischen Dreischritt zu gehen, der von der Prüfung (peirasmós) über die Enthüllung (apokálypsis) hin zur einzigartigen, jetzt gegebenen „Gelegenheit zur Läuterung und zur Bekehrung“[21] (kairós) führt.
Die Prüfung könnte im Abklingen sein. Aufgedeckt wurden schwere Defizite und „schreiender Widerspruch“ (Alberto dal Maso) in der Ekklesiologie (Priestertum/Priesterbild, Volk-Gottes-/Gemeindetheologie, Zueinander von offizieller und häuslicher Liturgie, kirchliche Grundvollzüge …) und in der Sakramententheologie (Begrifflichkeit, Partizipation, Eucharistiefixierung, Sakramentalität des Wortes …). Es sei also der geschenkte Augenblick zur Umkehr zu ergreifen. Ein erster notwendiger Schritt dazu wäre übrigens die Entwirrung des derzeit inkonsistenten Sprachgebrauchs von „Amt“, „Dienst“, „Beauftragung“, „Sendung“ etc. sowie die theologisch und ekklesiologisch saubere Klärung der damit verbundenen Rechte und Pflichten.
Um dennoch der allzu routinierten Liturgie nicht die im Raum stehende Absage erteilen zu müssen, empfiehlt dal Maso erstens Erfahrungen abzuhorchen und in die rituelle Feier einzubringen sowie rituelle Einzelvollzüge mystagogisch zu „entpacken“ und auf ihre existentielle Bedeutung hin neu zu befragen; zweitens die anthropologischen Grundlagen des Glaubens und die außerrituellen Seiten der Eucharistie, des Dienstes an Trauernden, Kranken und Leidenden stark zu machen; sowie drittens die Anerkennung und Aufwertung vielfältiger (wiederzugewinnender und neuer) Feierformate (aller Art).[22]
Würden die Normen der geltenden Liturgiekonstitution zu Ende gedacht, wären andere Lösungen notwendig und auch möglich geworden als der (gleichwohl erwartbare und verständliche) Rückgriff auf zu Altbewährtes, nämlich die Neubearbeitung des von der Tradition anvertrauten Erbes: Wir müssen „es wiederentdecken, neu interpretieren und in neue Zusammenhänge (nicht Parallelwelten!) einordnen und dann in die spirituelle Landschaft unserer Zeit einpflanzen. Das bedeutet, uns wieder erfassen zu lassen vom Elan des letzten Konzils und den abgebrochenen Prozess seiner Vollendung wieder in Gang zu setzen …“[23]
Long-Covid für die Liturgie dauert an. Ob es ein Medikament geben wird, das stärkt und heilt, bleibt (un)geduldig abzuwarten.
DDr. Ingrid Fischer, THEOLOGISCHE KURSE
Erstveröffentlichung: Dieser Beitrag wurde als Referat beim Symposium der Liturgischen Kommission für Österreich im Oktober 2021 gehalten und erstveröffentlicht in: Heiliger Dienst. Zeitschrift für Liturgie und Bibel 76 (2022,1) 12–21 [Link zum ganzen Heft]
Fußnoten:
[1] Corona-Maßnahmen: Das Virus ändert alles, aber es ändert sich nichts | ZEIT ONLINE (abgerufen am 14.10.2021).
[2] Ebd.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Angelo Lameri, Eine Liturgie ohne Geschmack und Geruch. Gottesdienste in Italien während der Pandemie, in: Gottesdienst auf eigene Gefahr? (H.-J. Feulner / E. Haslwanter, Hg.), Münster: Aschendorff 2020, 313-322, hier 319.
[6] Ebd. 320.
[7] Vgl. ebd.
[8] Ebd., 321.
[9] Benedikt Kranemann, Die „neue Normalität“ der Liturgie nach der Corona-Pandemie. Versuch einer liturgiewissenschaftlichen Einordnung, in: ThPQ 169 (2021) 274-282, hier 277.
[10] Miriam Vennemann, Von liturgischen Stolpersteinen und mutigen Wegen in die Zukunft, in: GD 9/2021, 103.
[11] Ebd.
[12] Manuel Uder, Lehren aus der Pandemie. Einige Schlaglichter aus anglikanischer Sicht, in GD 28/2021,200.
[13] Stephan Winter, Gottesdienst im Pandemie-Modus. Zu aktuell drängenden Anstößen für eine Liturgiewissenschaft, die „an der Zeit“ ist, in ThQ 22 (2020,4) 388-405.
[14] Auf der im September stattgefundenen Tagung der ARGE katholischer Liturgiewissenschaftler*innen (AKL) ging es darum, „Liturgie von der (weit verstandenen) Wortbedeutung her tatsächlich als ,Werk des Volkes‘ ernst zu nehmen und ,gelebte Religiosität als Thema der Liturgiewissenschaft‘ (Harald Buchinger) zu erschließen.“, ebd. 395.
[15] Benedikt Jürgens, Lock-in im Lockdown. Kirchliche Liturgiefixierung und ihre Auflösung, in: Lebendige Seelsorge 71 (2020,6) 425-429, hier 425.
[16] Ebd., 426.
[17] Ebd.
[18] https://www.feinschwarz.net/was-heisst-in-corona-erfahrungsbezug-von-theologie/ (abgerufen am 14.10.2021).
[19] Wie Anm. 18.
[20] Alberto dal Maso, Was haben wir für die Liturgie gelernt, als wir die Komfortzone verlassen hatten? Neue mögliche Szenarien für die vom Lockdown auf die Probe gestellten Riten, in: CONCILIUM 57 (2021,1) 105-115, hier 105.
[21] Ebd.
[22] Vgl. Dal Maso, Komfortzone (wie Anm. 20), hier 112.
[23] Vgl. ebd. 113.